Jun 282009
 

Es gibt Überzeugungen, die man sich schon deswegen bewahrt, weil man anders sein Leben kaum in einiger Ruhe und Ordnung verbringen könnte und vielmehr stets fürchten müßte, daß einem die schlimmsten Dinge zustoßen, da die Welt, im Fall jene Befürchtungen Realität hätten, kaum noch als sicher gelten könnte. Von unseren Architekten z.B. glauben wir, daß sie in der Lage sind, Gebäude auf die Erde zu stellen, die auch nach längerem Gebrauch nicht einstürzen, und dieser Glaube erleichtert es durchaus, sich täglich in solchen Gebäuden aufzuhalten. Von unseren Konditoren glauben wir, daß sie nie den Puderzucker mit dem Rattengift verwechseln, aus denselben verständlichen Gründen. Von unseren Fluggesellschaften …

An diesem Glauben ist nichts verwerflich. Immerhin: Häuser stürzen praktisch nie von selbst ein, puderbezuckerte Kuchen besorgen bestenfalls einen schleichenden Tod durch Verfettung, und selbst Maschinen der Air France neigen in den allermeisten Fällen dazu, genau dort runterzukommen, wo sie runterkommen sollten.

Merkwürdig indes, daß diese Sorte Glaubens sich auch in solchen Fällen hält, wo Evidenz längst Zweifel hat aufkommen lassen. So glauben wir wirklich, daß unsere Politiker praktische Menschen sind, obgleich doch ihre Politik oft genug bezeugt, daß sie es nicht sind – nicht einmal das, um präzise zu sein. Wir glauben auch, daß unsere Lyriker etwas von Metrik verstehen, unsere Ärzte wissen, wie man Menschen heilt, und unsere Lehrer mit Menschen umgehen können. Ähnlich denn auch unser Bild von den Wissenschaftlern. Über dieses Völkchen geht ulkigerweise bis heute die Kunde, daß es über Urteilsvermögen verfügt. Das Trugbild läßt sich vielleicht erklären: Ein Kopfarbeiter, möchte man meinen, ist einer, der seinen Kopf gebrauchen kann.

Nun will ich nicht abstreiten, daß dergleichen vorkommt. Viele Wissenschaftler kommen regelmäßig zu klugen Urteilen, und manche von ihnen tun wirklich beeindruckende Dinge. Doch es gibt Themen, da setzt es bei ihnen reihenweise aus. Wo das sei? Nun, z.B. bei all dem, was sie selbst und ihr Leben in der Gesellschaft betrifft. Wo ihnen ihre eigenen Interessen oder ideologischen Zwangsvorstellungen in die Quere kommen, sind Wissenschaftler um kein Gramm klüger als all die Kutscher und Klempner.

Ich rede allgemein und habe doch einen Anlaß, aus dem ich es rede. Ich untersuche zur Zeit die sogenannte Verfassungsdebatte bei Herodot (Hist. III 80-83). Darin beschreibt Herodot eine Diskussion unter den sieben Verschwörern, die die Herrschaft des Gaumata (bei Herodot: Smerdis) gestürzt hatten und nun vor der Frage stehen, welche Organisationsform des politischen Zusammenlebens künftig zu wählen sei: Demokratie, Oligarchie oder Monarchie. Der Sieger der Debatte ist natürlich vorgegeben: schließlich hatte Herodot nicht seine höchsteigene Fiktion zu schreiben, sondern eine Historie, will sagen, er hatte zu erklären, wie gekommen ist, was gekommen ist. Es mußte also das Haus der Achaimeniden und mit ihm die Monarchie in der Debatte siegen lassen, was denn in den Historien auch geschieht.

Es gibt nun zur Verfassungsdebatte eine Unmenge an Forschungsliteratur. Obgleich ich mich beim Heranziehen der Forschungsliteratur bereits darauf beschränkt habe, nicht weiter zurückzugehen als bis ca. 1930 (was aus Gründen, die ich hier nicht erläutern kann, eine vertretbare Entscheidung ist), komme ich auf etwa 60 bis 70 ernstzunehmende Publikationen zur Verfassungsdebatte bzw.  zu Themen, die ihre Behandlung einschließen. Es gibt im großen und ganze zwei Streitfragen, die die Forschung seit je her an der Verfassungsdebatte interessieren: 1. die Frage nach der Historizität (d.h. der „Echtheit“) der Debatte, und 2. die Frage, welches Verhältnis ihr Verfasser zu ihr bzw. zu den in ihren einzelnen Reden vertretenen Positionen hat. Die erste Frage ist kompliziert, aber unverfänglich. Da die Verfassungsdebatte eine griechische Schau persischer Geschichte ist, läßt sie sich mit besonderer Rücksicht auf griechische Verhältnisse untersuchen oder eher mit Rücksicht auf persische, oder aber mit Rücksicht auf beide. Die andere Frage, die nach der politischen Position Herodots, ist nicht etwas weniger kompliziert, aber offenkundig um einiges verfänglicher. Die Frage nach der richtigen Verfassungsform ist eine, zu der eigentlich niemand nicht eine dezidierte Meinung vertritt. Jeder Mensch weiß genau, ob er Demokrat ist oder Monarchist oder aber ein Anhänger der oligarchischen Form bzw., auch das kommt vor, Anhänger einer Mischverfassung. Wie immer man dazu steht, man steht dazu, und es ist verblüffend zu sehen, wie sehr ihre persönliche Einstellung vielen Forschern bei dem, was sie eigentlich und vor allem können sollten, bei ihrer Forschung also, im Wege ist.

Ein Wissenschaftler sollte einer sein, dem seine persönlichen Ideen, seine politischen Neigungen und Vorlieben in seiner Arbeit nicht dazwischen kommen. Sein Urteil sollte objektiv sein. – Soviel zum Ideal. Die Wirklichkeit verhält sich eine Spur anders. Unter jener Unmenge an Forschungsliteratur zur Verfassungsdebatte befinden sich nur wenige Texte, denen anmerkt, daß ihr Verfasser sich bewußt in seinem wissenschaftlichen Urteil eines Einflusses durch seine persönlichen politischen Vorlieben enthalten hat. Dies vorausgeschickt, bedarf es wohl keiner weiteren Erwähnung, daß die Mehrheit der gegenwärtigen Forscher Herodot für einen lupenreinen Demokraten hält. Folglich geben sie sich viel Mühe, die Verfassungsdebatte so zu lesen, als sei in ihr der eigentliche Sieger der erste Redner, Otanes, der für die Demokratie, bzw. und genauer: für die Isonomie, die Gleichheit vor dem Gesetz, spricht. Das ist nun keine leichte Übung; denn schließlich geht Dareios, nicht Otanes, als Sieger aus der Debatte hervor, und das gewiß nicht, weil er schlechte Argumente hat. Es ist bei einigem Bemühen um ein sachliches Urteil kaum zu übersehen, daß Herodot die Debatte so gebaut hat, daß jeder Verfechter einer der Verfassungsformen die Schwächen und Fehler der anderen Formen aufdeckt. Es hieße durchaus zu weit gehen, wollte man Herodot ohne weiteres einen Monarchisten nennen, doch er ist gewiß auch kein unversöhnlicher Gegner der Monarchie, ebenso, wie er kein reiner Demokrat ist. In den Historien insgesamt finden sich sowohl positive als auch negative Urteile über Monarchen, und man muß schon die Stellen ernstnehmen und ohne Aufregung überlegen, was worauf zu beziehen ist. Manche Forscher haben das getan. Besonders hervorzuheben wären hier Franz Altheim (1950), Helmut Apffel (1957) und John N. Davie (1979). Beeindruckend auch die intellektuelle Brillanz, mit der Robert Fowler (2003) – oblgeich er jedoch die These vom reinen Demokraten Herodot zu vertreten scheint – die Verfassungsdebatte behandelte.

Das Gros der Forscher bleibt in seinem Urteil über die Parteilichkeit des Verfassers der Historien nicht nur falsch, sondern auch bieder. So klingt etwa die conclusion von John Moles (2003), als sei dessen Arbeit von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Auftrag gegeben:

Fundamental to the History is the struggle between political freedom and enslavement. Freedom is initially conceptualized as Greek an good, slavery/tyranny as barbarian and bad. […] True, most of the tyrants in the History are Greek; not all tyrants are bad or not always; some produce „great and wonderful achievements“; and there is debate whether „tyrants“ and cognates necessarily pejorative in Herodotus. Hence some see the initial conceptualizations as problematized: wrongly. That ideals are compromized in practice …, does not impugn the ideals.

Mit anderen Worten: In den Historien liefert Herodot zwar ein differenziertes Bild monarchischer Politik, aber diese Tatsache ändert nichts daran, daß er kein differenziertes Bild monarchischer Politik hatte. Es dürfte kaum möglich sein, sich auf noch weniger Raum so trefflich selbst ad absurdum zu führen, wie Moles es hier (gleichwohl unfreiwillig) tut. Ich wünschte, ich hätte hier den Raum und die Zeit, darüber hinaus die ganze Absurdität des eben zitierten Passus zur Anschauung zu bringen; wieviel Unsinn in diesen wenigen Zeilen steckt, kann man wirklich erst verstehen, wenn man den gesamten Stoff der Historien vor Augen hat. Wie absurd es z.B. ist, in Herodots Sinn das Schlechte mit dem Barbarischen (innerhalb des griechischen Sprachgebrauchs bedeutet barbarisch einfach ausländisch, im besondern auch: persisch) gleichzusetzen, läßt sich erst dann sehen, wenn man die ethnographischen Passagen des Historikers betrachtet, etwa das ganze zweite Buch; wenn es ein Anliegen Herodots gegeben hat, über das kein Zweifel bestehen kann, dann dies, die Griechen mit anderen Kulturen und Gebräuchen bekannt zu machen und ihnen auf die Art zu zeigen, daß keine Kultur schlechter ist als die anderen und daß das Fremde nicht notwendig das Schlechte ist und andere Sitten, die anderswo gewachsen sind, auch ihre Berechtigung und ihren Nutzen haben. Doch bleiben wir beim roten Faden und also bei der Verfassungsdebatte.

Noch absurder als Moles treibt es José M. Alonso-Núñez (1998). In seinem (sonst übrigens recht wertvollen) Forschungsbericht finden sich folgende Zeilen:

Es ist durchaus verständlich, daß Herodot sich durch den Mund von Otanes gegen die Tyrannei ausspricht (III, 80): Er selbst kam aus Halikarnassos und war aus seiner Heimstadt durch den Tyrannen vertrieben worden. Folglich haßte er die Tyrannei, und sie kam für ihn als Regierungsform nicht in Frage.

Ja, wir lesen richtig: Weil Herodot Probleme mit dem Tyrannen von Halikanassos hatte, war er gegen die Tyrannei insgesamt. Die bestechende Logik ließe sich extrapolieren: Weil Herodot Probleme mit dieser oder jener Regierung hatte, war er gegen Regierungen überhaupt. Weil er die Außenpolitik Athens ablehnte, war er gegen Außenpolitik überhaupt usw. – Der Grund, aus dem das absurd klingt, ist der, daß es absurd ist. Und davon, daß es für eine angebliche Oppositionstätigkeit Herodots in Halikarnassos bestenfalls Hypothesen und keinesfalls Beweise gibt, die es einem erlaubten, damit gegen die Evidenz des Herodeteischen Werks – aus dem einen prinzipielle Gegnerschaft gegen die Tyrannis sich nicht ableiten läßt – zu operieren, rede ich schon gar nicht.

Es ist nicht zu leugnen, daß Tyrannisfeindlichkeit eine im 5. Jahrhundert weit verbreitete Mode war. Hiervon und davon, wie das zu bewerten ist, vielleicht ein ander Mal. Es schiene mir auch prinzipiell nicht ausgeschlossen, Herodot mit dem Common sense seiner Zeit zu identifizieren, aber den Vorrang bei einem solchen Versuch müßte auch dann stets die Auslegung des Herodoteischen Werks haben. Und eines kann ich gewiß versprechen: zu welchem Ergebnis immer ich selbst bei meiner Untersuchung kommen werde, es wird aus dem Werk des Historikers gewonnen sein. Noch mehr, als ein Ergebnis, das mir persönlich oder politisch nicht behagen könnte, fürchte ich eines, das mich der Lächerlichkeit preisgäbe. Aber es muß jeder selbst wissen, wem er mehr gefallen will: dem Weltgeist oder dem Zeitgeist.

  One Response to “Worauf Philologen so kommen”

  1. […] Kunst, die sich wenig Rechenschaft darüber ablegt was, und warum sie es tut, und manch himmelschreiende historische Blindheit der Geisteswissenschaften wird kenntnisreich und dazu noch sprachlich […]

Sorry, the comment form is closed at this time.