Jul 062009
 

In der Tageszeitung junge Welt findet sich heute ein Vorabdruck des neuesten Buchs von Heidi Urbahn de Jauregui. Es heißt Dichterliebe und handelt vom Leben und Werk der deutsch-französischen Schriftstellerin Camille Selden alias Elise Krinitz alias Johanna Christiana Müller alias Margot alias Monk alias Sara Dennigson – soweit ich nicht irgend einen ihrer freiwilligen oder unfreiwilligen Namen vergessen habe.

I

Camille Selden ist eine höchst merkwürdige Frauenexistenz aus dem Paris des 19. Jahrhunderts. Sie war Freundin oder Vertraute gleich mehrerer Schriftsteller: Alfred Meißners, Hippolyte Taines und Heinrich Heines. (Natürlich nacheinander, wie sich versteht.) Vor allem als Gebliebte des letzteren, als Heinrich Heines allerliebste „Mouche“, ging sie in die Literaturgeschichte ein. Zumindest in Deutschland, denn während man sie dort ausschließlich als die „Mouche“ kennt und von der Schriftstellerin Camille Selden nichts weiß, verhält es sich in Frankreich gerade umgekehrt.

Heidi Urbahn de Jauregui macht in Dichterliebe anschaulich, daß Camille Selden mehr war als nur die „Mouche“, daß sie durchaus eigenständig war und dachte; sie zeigt sie als talentierte Schriftstellerin sowie als Frau, die sich im 19. Jahrhundert in einem von Männern dominierten Beruf zu behaupten hat. Auf die Weise wird zugleich ein Bildnis vom damaligen Frankreich gegeben: mit seinen politischen und geistigen Kämpfen, seiner literarischen Intelligenz (Dumas père, George Sand, Flaubert, Saint-Beuve etc.), seinen Revolutionen und emanzipatorischen Ideen, mit seinen Beziehungen zu Deutschland und vor allem mit seinem großen deutschen Gast, dem Dichter Heinrich Heine.

Über das Buch selbst werde ich morgen ein paar Worte verlieren. Heute will ich dagegen etwas zu dem Auszug sagen, der als Vorabdruck in der jungen Welt zu lesen ist. Hierzu muß ich allerdings absetzen und mich der Sache von einem anderen Punkt her nähern.

Das Buch enthält eine Fülle von Themen und Ideen, wie das bei der Biographie einer intellektuellen Schriftstellerin auch nicht anders zu erwarten ist. Die Autorin führt vielfache Auseinandersetzungen nicht nur mit den Ideen ihrer Heldin, sondern auch mit dem heutigen Zeitgeist, der bei ihr kürzer und schöner „Madeleine“ heißt und die Lebensgefährtin des von der Autorin geschaffenen Erzähler-Ichs ist. Hintergrund aber dieser Auseinandersetzungen ist zugleich – und für den Eingeweihten problemlos erkennbar – auch eine Auseinandersetzung mit Peter Hacks, über dessen besondere Bedeutung für die Autorin ich hier wohl niemanden aufklären muß. Insbesondere im 3. und 4. Kapitel des Buchs, worin jeweils von den Begriffen der Liebe und der Politik gehandelt wird, die Heinrich Heine sein Eigen nannte, muß man als Folie die entsprechenden Theorien von Peter Hacks mitdenken. Daß es möglich ist, diese Auseinandersetzung mit Heine auch eine mit Peter Hacks sein zu lassen, hängt nun wieder damit zusammen, daß Hacks und Heine bezüglich Liebe und Politik recht ähnliche Vorstellungen besessen haben.

Es wundert übrigens nicht, daß eine politische Tageszeitung wie die junge Welt sich bei ihrem Vorabdruck auf eine Stelle gestürzt hat, die mit dem Politikbegriff zu tun hat. Es ist wohl auch die Stelle des Buches, die bei einem linken Publikum in besonderem Maße zum Skandalon geeignet wäre. Heinrich Heine, erfährt man da, war Monarchist. Die Nachricht schockiert, weil die Wahrheit eben an sich hat, daß sie schockiert. Präziser hätte es vielleicht lauten müssen: Heine war kein Gegner des Absolutismus und ein Freund des Bonapartismus, doch diese Differenz wiederum begreift nur, wer bereits begriffen hat, daß Heine Monarchist war.

Gerade bei vielen Linken wird Heinrich Heine gern als Demokrat gehandelt und in eine Reihe gestellt mit Leuten wie Börne und Büchner. Daß hieran etwas nicht stimmen kann, hätte einem vielleicht auch dann auffallen können, wenn man Heines – zweifellos selten gelesene – Polemik gegen Börne nicht kennt. Man hätte sich z.B. auch bei der Lektüre des – zweifellos viel gelesenen – Poems Deutschland ein Wintermärchen die Frage stellen können, warum sich der Dichter im Caput XVI, bei seinem Zank mit Barbarossa, trotzdem zu den politischen Gegnern der Republikaner rechnet. Man hätte vielleicht auch über einige seiner Gedichte stolpern können, in dem Heine seine Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Volksmasse anmeldet.

Die scharfe Stelle aus dem Vorabdruck will ich hier wiedergeben:

Man wüßte gern, an wessen Größe während jener Periode, die man die »Freiheitskriege« nennt, sie dachte. Heine hielt es da wie Goethe: Sie beide sahen in jenen teutomanischen – oder sage ich klüger »patriotischen«? – Anstrengungen den Keim zu späterem Unheil. Noch weniger wird sie Heines Bemerkungen zur von ihr miterlebten Achtundvierziger Revolution in Paris, zur neuen Rolle des Volkes darin, verstanden haben, sowie zum Staatsstreich Napoleons III., der »das Bürgertum der Mühe des Selbstregierens« enthoben habe, wie ein gewisser in London lebender guter Bekannter Heines später zu sagen pflegte. Da war es doch einfacher gewesen mit Meißners jugendlich revolutionärer Begeisterung, die sich statt an Hegel an Proudhon orientierte (auch wenn die, was sie vielleicht nie erfahren hat, später ein so unerwartetes Ende nahm). Zwar nannte Heine den Proudhon einen »Einfaltspinsel«, doch konnte man wenigstens verstehen, wie der dem Volk helfen wollte, nämlich durch Volksbanken, in denen es zinslose Kredite geben würde, und überhaupt sollte die Gesellschaft durch freiwillige Fraternité zu einem tätigen und friedlichen gemeinsamen Streben geführt werden statt durch die Zwangsgewalt des Staates. Das wird Elise besser eingeleuchtet haben als Heines Schelte auf die Dummheit des Volkes oder, vornehmer und hegelsch gesagt, auf den »bewußtlosen Teil der Gesellschaft«. Bei Heine heißt es: »Das Volk ist charakterlos, und es bekränzt die Dummheit ebenso leicht wie das Genie, ja noch leichter.« Er muß unser Wahlspektakel gekannt haben (gerade läuft hier wieder eines).
Da werde ich von meiner immer unwilliger zuhörenden Madeleine unterbrochen: »Aber ist das nicht entsetzlich arrogant! Mit welchem Recht setzten sich der Dichter und der Philosoph übers Volk!«
– »Ich könnte antworten: mit dem Recht des Genies, des Dichters und Philosophen. Aber das würde das Recht auf Widerspruch auf einen zu kleinen Kreis beschränken.«
– »Ich vermute, du möchtest dich auch als einer aufspielen, der besser weiß, was dem Volk ziemt, als das Volk selber.«
– »Gewiß, du hast recht, auch ich bin Teil des Volkes; in gewisser Weise war es Heine ja auch. Aber wenn man etwas beurteilt, stellt man sich außerhalb, ihn gegenüber. So tust du ja auch, wenn du über dein Land schimpfst.«
– »Wie aber kommt Heine, der Revolutionsfreund und Verteidiger der Unteren und der erklärte Feind all derer, die sich an denen bereichern, zu einem so negativen Urteil über das Volk?«
– »Ich bezweifle, daß es ein negatives Urteil ist. Vielmehr beurteilt er das Volk auf realistische Weise, statt es zu belügen. Nur Zyniker sagen dem Volk, es sei gut. Wer dem Volk wohlwill, schmeichelt ihm nicht, sondern sagt ihm die Wahrheit, kann also vorläufig nicht darauf hoffen, von ihm gewählt zu werden. Sag du mal dem Volk, es sei wie der Wald, aus dem herausschalle, was man in ihn hineingerufen, und die Macht hätten also die lautesten Rufer, will sagen, deren Auftraggeber. Es will und kann nicht die Wahrheit hören, dazu hat man sein Gehör nicht ausgebildet, es will Versprechungen hören, von denen es natürlich längst weiß, daß sie nicht erfüllt werden, denn das Volk ist doch nicht blöde.«
– »Siehst du! Und da ist gewiß ein Unterschied zwischen dem – weitgehend noch analphabetischen – Volk zu Heines Zeit und heute. Verlangt Heine nicht außer Brot vor allem Schulen fürs Volk?«
– »Sicher können heute viele noch ein wenig lesen und schreiben. Doch bleibt die Frage, ob unsere Schulen tatsächliche Volksschulen, Schulen für das Volk also, sind. Am Prinzip der Volksverdummung hat sich wohl seit Heine nicht so viel geändert. Damals hieß es: ›Sie sagen Christus und meinen Kattun‹, und heute sagen sie Menschenrechte und meinen Öl.« (Es ist wohl nicht empfehlenswert, hier fortzufahren, ja bei dem Zitat bereits – obgleich von Fontane – habe ich Zweifel, ob seine Erwähnung akademischer Klugheit entspricht. Welch ein Glück, daß mir hier meine praktisch denkende Madeleine mit dem allgemeingültigen Einwand ins Wort fällt. Gäbe es sie nicht, ich hätte sie erfinden müssen.)
– »Aber es gibt doch heute zugelassene Oppositionen, die offizielle Zensur ist abgeschafft, man kann dieses System also kritisieren und das sogar drucken lassen, ohne daß man ins Gefängnis kommt. Die unterschiedlichsten Stimmen aus Presse und Fernsehen dringen auch ins letzte Dorf.«
– »Ja, die Dinge sind in der Tat mitunter etwas unklarer geworden, du hast recht. Z.B. hat man zwischen die Machthaber und das Volk diese Medien und die Wahlen gesetzt; das ist doch etwas anderes als die Acclamation des Königs durch das Volk. Heine übrigens war bekennender Monarchist.«
– »Du meinst, es macht keinen großen Unterschied?«
– »Doch, der Unterschied ist nicht zuletzt ein ästhetischer. Monarchien pflegen kunstfreundlicher zu sein. Das war natürlich ein Grund für den Kunstfreund Heine. Camille Selden war nicht die einzige, die aus diesem Nebeneinander von sozialem Engagement und Eintreten für Louis-Philippe und sogar für Napoleon III. nicht klug wurde. Sie sah es wohl in Verbindung mit seinen ewigen Geldinteressen. Wenn ich dir dazu etwas aus ihren Memoiren vorlesen darf: ›Heine suchte mit allen Mitteln Geld zu erlangen und trat zu dem Zweck mit Personen in Verbindung, die er nie gesehen hatte … Er war im Begriff, sich mit der Regierung des Second Empire einzulassen, als der Tod jenen erniedrigenden, unüberlegten und kindischen Versuchen ein Ende setzte.‹ Vielleicht hat sie da wieder einmal ein paar humoristische Bemerkungen des Dichters allzu wörtlich genommen – vielleicht aber auch nicht. Wissen wir doch von seinen diesbezüglich guten Beziehungen zur Louis-Philippe-Regierung, denen die Achtundvierziger Revolution ein jähes Ende bereitete.«
– »Hatte sein Monarchismus denn wirklich eher ästhetische Gründe, wie du anzunehmen scheinst?«
– »Wohl nicht, doch ist das Eintreten für einen überparteilichen, sichtbaren Repräsentanten, der den Gemeinsinn auf würdige Weise an der Spitze eines Staates verkörpert, kaum davon zu trennen. Schließlich ist auch die Kunst ein Unternehmen, das demokratische Mittelmäßigkeit nicht leidet. Heine: ›Die Demokratie führt das Ende der Literatur herbei: Freiheit und Gleichheit des Stils.‹ Übrigens hat sich Heine damals schon wenig Illusionen über die wahren Machtverhältnisse gemacht. Er wußte bereits, was heute kein Geheimnis mehr ist, daß hinter allem, hinter dem damaligen König und Kaiser wie hinter einer gewählten Regierung, jene ökonomischen Zwänge stehen, welche man dem Volk als von einem unausweichlichen Fatum gegeben darzustellen pflegt.«
Hier verließ mich meine überaus taktvolle Madeleine, deren Sinn fürs Ziemliche es verbietet, ein Thema zu Tode zu reiten.

Man staunt schon: Heine hat kaum minder deutlich seine politische Gesinnung offengelegt als Peter Hacks, doch seltsamerweise besteht, während bei Hacks alle Welt um seine Gesinnung weiß und Teile von ihr sogar Schwierigkeiten haben, überhaupt etwas anderes in diesem Dichter zu sehen, bei Heinrich Heine auch nach guten anderthalb Jahrhunderten die Hauptarbeit der Philologie immer noch darin, diese Ansichten dem Publikum und sogar der Teilen der Fachwelt überhaupt erst einmal zur Kenntnis zu bringen. Oder ist dies eigentlich gar kein Immer-noch? Hat man nicht vielleicht zu Heines Zeiten sehr gut gewußt, was er dachte? Ist es nicht eher mit dem zeitlichen Abstand nach und nach vergessen worden, so daß man ihn heute immer noch der bürgerlich-demokratischen Bewegung zurechnet, ohne daß dem Gros des Publikums etwas dabei auffiele? Wäre das also vielleicht auch das Schicksal von Peter Hacks? – Schwer vorstellbar. Doch man weiß ja: Nichts macht ein Undenkbares schneller denkbar als der Umstand, daß es in die Wirklichkeit tritt.

II

Dichterliebe ist eine eigentümlich faszinierende Mischung aus gut recherchierter Biographie und ansprechend erzählter Lebensgeschichte: ein biographischer Roman also oder eine kunstvolle Biographie. Es ist eben dieselbe Mischung aus Kunst und Wissenschaft, die den Studien von Heidi Urbahn de Jauregui überhaupt eigen ist. Sie ist in dieser Frage entschieden französisch. Die deutsche Eigenart, alles dem Gedanken unterzuordnen, selbst auf Kosten der Lesbarkeit, ist ihr fremd.

Das Buch nimmt zunächst durch seine inhaltliche Fülle für sich ein. Jeder Mensch von Geschmack liebt Bücher, die nicht müde werden, den Leser mit einer Kanonade vorzüglicher Ideen unter Beschuß zu nehmen. Von diesen vorzüglichen Ideen besitzt das Buch einige, und der größte Vorzug dieser Ideen ist, daß sie nicht zu einem Dutzend auf die Stange gehen. Wer den Zeitgeist will, der kaufe sich eine Tageszeitung. Wer den Weltgeist will … – Ich beabsichtige nicht zu übertreiben. Das Buch ist keine Odyssee oder Phänomenologie des Geistes, aber doch eine souveräne Behandlung seines Stoffs, ein Blick auf das 19. Jahrhunderts, in dem sich auch der Geist der zu betrachtenden Zeit spiegelt und nicht nur – wie üblich – der Geist derjenigen, aus der betrachtet wird.

Das große Verdienst des Buches ist, daß es versucht, dem Leben und Denken Camille Seldens gerecht zu werden, ohne in eine der ausliegenden Fallen zu tappen. So schafft die Biographin es, Camilles Probleme als intellektuelle Frau im 19. Jahrhundert zu behandeln, ohne in einen platten Feminismus zu fallen. So schafft sie es auch, Camille als Vertraute des sterbenden Dichters Heine zur Anschauung zu bringen, ohne der Versuchung zu erliegen, sie als Alter Ego Heines bzw. als geistig ebenbürtige Gefährtin hinzustellen. Die Versuchung, seinen Gegenstand aufzuputzen, ist eine, der gewöhnlich nur wenige Biographen widerstehen. Heidi Urbahn des Jauregui bleibt immer auf Schlagdistanz zu ihrer Heldin, um nicht gegebenenfalls mit hingezogen zu werden in das Geflecht aus Lügen und Legenden, die nicht zuletzt Camille Selden selbst um ihr Leben gesponnen zu haben scheint. Das umtriebige Versteckspiel hinter den vielen Namen, das Camille Selden zeit ihres Lebens veranstaltete, macht die Heldin übrigens ein wenig gesichtsblaß. Man weiß nie recht, wo man sie zu fassen bekommt; sie bleibt ein Rätsel – die Frage ist nur, ob sich hinter diesem Rätsel eine Lösung verbirgt.

Gegen diesen Eindruck wirkt jedoch die Gestaltung des Buchs, die Weise also, in der der Stoff bewältigt wird. Die Kreation des männlichen Erzähler-Ichs, Matthias Rabuhn, ist ein glücklicher Griff. Autorenperspektive und Erzählperspektive gehen nicht vollends ineinander auf. Andernfalls wäre der Griff auch nicht zu rechtfertigen gewesen. Zwar fällt dem Beobachter auf, daß Rabuhn ein Anagramm von Urbahn ist, aber demselben Beobachter dürfte auch auffallen, daß die Autorin die Perspektive des Erzählers behutsam, aber doch immer wieder mal durchbricht. Der mäandernder Erzählstil – hervorragend aufgelockert durch die Dialoge mit der “aufmerksamen”, “kritischen”, “spöttischen” usw. Madeleine – verrät eine gewisse ironische Distanz der Autorin auch zu ihrem Erzähler, durch dessen Augen wir alles sehen und den wir doch auch selbst in seinen Grenzen wahrnehmen. Das erinnert an Serenus Zeitblom, und ich sage das eingedenk aller Weihräuchereien, die ein Vergleich mit einem Werk Thomas Manns impliziert. Es bleibt da natürlich ein Unterschied in der Sprache, aber wer kann es in dieser Hinsicht schon mit Thomas Mann aufnehmen?

Dichterliebe ist eher gut bei Leib als schlank zu nennen. Jenes „Mäandern“ zeigt sich nicht nur in seinem rhetorischen Stil, den als lexis eiromene zu bezeichnen ich mir herausnehme, sondern auch in seiner Makrostruktur. Regelrechte Exkurse gehören zum Programm. So etwa ein Exkurs über die erste Weltaustellung in Paris, der einen konkreteren Einblick in die beschriebenen Zeitgeschehnisse bietet. Natürlich bleibt dieser Exkurs ein Fremdkörper, aber einer, der zum Gestus des Buches paßt, denn die Abweichung ist eines seiner Charakteristika. Es gibt zwei Sorten Romane: die schlanken und die breiten. Keine ist schlechter als die andere; die schlanken sind gut, wenn sie schlank sind, die breiten, wenn sie breit sind. Dieses Buch ist breit, und das ist gut so.

Ob man die Figur des Matthias Rabuhn mögen kann oder nicht, ist eine Frage, in der ich mich nicht entscheiden will. Unerträglich ist schlechterdings sein dauernd nach außen gekehrter Opportunismus (er zieht in Erwägung, in der DDR gedruckte Bücher nicht zu zitieren, wählt Forschungsthemen seinem Mentor zuliebe, ist übervorsichtig mit dem Kundgeben seiner politischen Haltung, weist bei jeder Gelegenheit darauf hin, was ein eine akademische Laufbahn anstrebender Wissenschaftler so alles zu beachten habe usw.). Dieser Opportunismus wird aber konterkariert durch seine Forscher- und Lebenshaltung. Er ist offenkundig ein innengeleiteter Mensch, der sich sein Denken nicht von seiner Umgebung diktieren läßt. Dadurch erhält er eine gewissermaßen zeitlose Note, im Gegensatz zu Madeleine, in der in vielen Fragen einfach nur der Zeitgeist widerhallt. Rabuhn bleibt bei dem, was er für richtig hält, und das muß nicht immer in die Zeit passen, in der er lebt. Diese Haltung – Merkmal nicht ausschließlich der Genies, aber doch eines jeden von ihnen – beeindruckt natürlich, und sie ist auch dann erträglich, wenn, was Matthias Rabuhn inhaltlich sagt (z.B. seine groteske Verteidigung des Rauchens oder seine nicht minder groteske Abneigung gegen das Kinderkriegen), selbst kaum erträglich und durchaus Zeichen einer gewissen Irrationalität ist. Aber gegen diese in jeder Hinsicht vorzügliche, souveräne Haltung zum Leben steht eben jener merkwürdige Opportunismus, und wenn derselbe Rabuhn es dann fertigbringt, Schriftsteller wie Hippolyte Taine, Heinrich Laube, Georg Weerth oder Alfred Meißner für deren Anpassung an die Verhältnisse zu rügen, hat das eine unfreiwillig komische Note, die ich natürlich sogleich wieder dem oben angedeuteten ironischen Effekt zuschlage.

Eine kleine Enttäuschung liegt in der abrupten Auflösung der Beziehung von Matthias Rabuhn und seiner Madeleine. Vielleicht liege ich da falsch, aber ich empfinde es als unnötig, weil ich der Meinung bin, daß es eine Sorte von Widersprüchen gibt, die man besser bestehen läßt: fruchtbare nämlich. Zwischen dem Erzähler und seiner kritischen Begleiterin herrscht ein zwar unlösbarer Konflikt, aber doch keineswegs einer, der in der Katastrophe enden muß. Nicht immer hat der klassische Standpunkt recht, und nicht immer der Zeitgeist unrecht. Eine gute Urteilsbildung bedarf der Abwägung aller Gründe, auch der zeitspezifischen.

Heidi Urbahn de Jauregui: Dichterliebe. Leben und Werk von Heinrich Heines letzter Geliebter, der “Mouche”, Mainz (VAT) 2009

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  1. […] Felix Bartels nimmt auf der Seite Neuestes vom Parnassos den Vorabdruck zum Anlass, um auf den Hintergrund der Autorin […]

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