Nov 172009
 

Einen Berg zu besteigen ist wie Dichten. Da ist ein Gebirge. Da sind einige Berge. Jeder Berg ist Teil des Gebirges, aber er steht – gleich den poetischen Gattungen – immer auch für sich. Es gibt stets mehrere Wege nach oben. Es gibt aber an jedem Berg nur einen Weg bis ganz nach oben.

Die Bergsteiger nähern sich dem Berg gewöhnlich von verschiedenen Seiten, meist von derjenigen, auf der sie wohnen, und so nehmen sie also verschiedene Wege nach oben. Von denen, die auf den Wegen treten, die nicht bis ganz nach oben führen, schreiten einige in dem Wissen nach oben, daß sie die Spitze nie erreichen werden, andere hingegen leugnen das und erachten das Ziel ihres Weges für die eigentliche Spitze. Wieder andere leugnen, daß es überhaupt eine Spitze gibt und kraxeln munter um den Berg herum und probieren sich an all den Pfaden aus, die horizontal verlaufen. Und wieder andere bekommen es, sobald sie auf einen Weg treffen, der nach oben führt, mit der Angst zu tun, der Weg könne nicht bis ganz nach oben führen und meiden folglich den wie alle anderen, die nach oben führen.

Es muß jetzt aber noch erwähnt werden, daß jeder Weg auf dem Berg ausgeschildert ist. Schließlich wird der Berg in aller Regel seit Jahrtausenden schon bestiegen.

Soweit die an den anderen Wegen, denn es gibt auch Bergsteiger, die die nach ganz oben führenden Weg begehen. Sie haben das Glück die Spitze überhaupt erreichen zu können. Das haben sie alle gemein, aber sie unterscheiden sich in der Ausprägung ihrer Kraft und ihres Mutes. Jeder Berg ist anders, und kein Bergsteiger, der auf allen Bergen den Höchstleistung erbracht hätte. So unterschiedlich die Berge, so unterschiedlich sind die Bergsteiger, die auf ihnen zurande kommen. Wenn ein Bergsteiger es geschafft hat, am Gipfel eines der Berge seinen Wimpel zu setzen, bleibt er, so sagt man, für immer dort oben. Jedenfalls meinen die Bergsteiger, die den betreffenden besteigen, das, denn keiner unter ihnen, der nicht berichtet, er habe einen der Meister bei seiner Bergwanderung gesehen. Aber hierzu muß man natürlich schon etwas Mühe dreingeben. Wenn man die Baumgrenze erreicht, kann man den Wimpel mit bloßem Auge erkennen. Glücklich aber ist der Bergsteiger, der keinen Meter eher gescheitert ist, als seine Kraft gereicht hat.

Und dann gibt es freilich auch noch die unglücklichen Bergsteiger, die, anders als die unglücklichen Bergsteiger, die oben erwähnt sind, nicht mehr unter dem leiden, woran sie leiden. Es ist diese Sorte, die wir aus gutem Grund beinahe vergessen haben: Sie besitzen Kraft oder keine Kraft, sind nicht schwindelfrei oder doch, extrem kurzsichtig oder haben Adleraugen. Sie ähneln sich in allem oder nur in einem. Sie haben den Mut nicht, ganz noch oben zu kommen. Doch Mut ist bei Bergsteigern, die nämlich einen anderen Beruf würden gewählt haben, litten sie an Höhenangst, einfach ein Geheimwort, das in Wahrheit Fleiß meint. Es gibt nun Menschen, die von derart faulen Bergbesteigern sagen, daß sie im Grunde keine Bergsteiger sind. Die selbst jedoch weisen diese Unterstellung zurück. Sie blicken den Hang hinauf und bekommen so ein dringendes Gefühl, der Schwerkraft zu gehorchen, statt sie zu bezwingen. Sie steigen also wieder hinab und sagen: „Sich den Berg hinab zu begeben ist ja auch eine Art Bergsteigen.“

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