Dez 132009
 

In der Frage, was einen guten Dialog ausmache, steckt zugleich die Frage, woran ein schlechter Dialog kenntlich sei. Ein schlechter Dialog ist einer, dessen Inhalt auch in anderer Form, z.B. in linearer Rede oder in einem Traktat hätte ausgestellt werden können. Wenn, was in einem Dialog verhandelt wird, nicht notwendig in Dialogform verhandelt werden mußte, muß der Dialog als schlecht gelten, gleich wie unterhaltsam, kunstvoll, gedankentief oder originell er im übrigen ist.

Ein guter Dialog kann sich nur dort entwickeln, wo eine geeignete Ausgangslage vorliegt. Eine solche sehe ich allein gegeben, wenn die Positionen aller Teilnehmer, die in einem Dialog aufeinandertreffen, so beschaffen sind, daß erstens keine von ihnen selbst die höchstmögliche Erkenntnis bereits enthält, gedankliche Totalität herzustellen also durchaus erst Aufgabe des lebendigen Dialogverlaufs ist, und wenn sie zweitens einander auf eine solche Art begegnen, daß eine produktive Steigerung über die einzelnen Positionen der Teilnehmer hinaus möglich ist.

Die erste Bedingung ist wichtig, weil in dem Fall, in dem einer der Gesprächsteilnehmer bereits im vollen Besitz der höchstmöglichen Erkenntnis ist, er im Grunde nur seine Zeit verschwendet. Er weiß, was er weiß, auch ohne den Dialog, er braucht sein Gegenüber nicht und könnte das, was er weiß, auch – und besser – in einer Rede oder einer Abhandlung darlegen. Sein Verhältnis zu seinem Gegenüber ist dann bestenfalls das eines Lehrers zu seinen Schülern, aber Didaktik ist eine niedere theoretische Disziplin, weil es dort nicht um die Ermittlung, sondern die Vermittlung von Wahrheit geht. Ein guter Dialog besteht also in der Verteilung der Wahrheit auf unterschiedliche, gegensätzliche Positionen, von denen keine ganz recht und ebenso keine ganz unrecht haben darf.

Die zweite Bedingung ist wichtig, weil natürlich auch denkbar ist, daß zwei Diskutanten aufeinandertreffen, die beide nicht in Besitz der höchstmöglichen Erkenntnis sind und es dennoch zu keiner produktiven Steigung zwischen ihnen kommt. Beide Teilnehmer müssen unbedingt daran interessiert sein, in ihrem Wissen über sich hinauszugehen. Beide müssen sich auf eine gemeinsame oder zumindest ähnliche Begriffssprache einigen. Man muß bestimmen, wovon man redet, bevor man davon redet. Kurz: Beide müssen daran interessiert sein, daß ihr Gegenüber sie in vollem Umfang begreift und daß sie von ihrem Gegenüber in vollem Umfang begriffen werden. Ohne einen gemeinsamen Boden – und läge er nur in methodischen Elementen – ist eine Kommunikation unmöglich. Die Teilnehmer schlössen sich andernfalls in ihrer jeweiligen Privatsprache und ihren jeweiligen Denkzirkeln ein, deren vorrangige Funktion sodann nicht mehr die Erweiterung der Erkenntnis, sondern das Verteidigen des bis dahin erreichten Wissenstandes ist. Ihr Weltbild diente dergestalt nicht mehr dem Erkennen der Welt durch das Subjekt, sondern dem Schutz des Subjektes vor der Welt.

Der Dialog setzt also zugleich eine Fähigkeit und einen Mangel voraus. Die Fähigkeit zur Kommunikation und den Mangel an Erkenntnis. Ohne jene wäre er nicht möglich, ohne diesen ist er nicht nötig. Und so bewirkt er, als Mangelerscheinung, daß eine zu große Vortrefflichkeit seines Inhalts seiner Gattungsbestimmung widerspricht. Hierin auch liegt der Grund, aus dem die philosophisch schwächeren Dialoge des jungen Platon besser funktionieren und besser zu lesen sind als die philosophisch hoch aufgeladenen Dialoge des späten Platon. In den frühen Dialogen ist Sokrates eine Art Moderator, der die verschiedenen Ansätze zu einem bestimmten Thema aus ihnen selbst heraus destruieren läßt. Am Ende steht die Aporie, und jedermann hält das für dialogisch vollkommen angemessen. In den späten Dialogen tritt Sokrates selbst als Philosoph auf, seine Gegenüber sind ihm Stichwortgeber und Werkzeuge; die Reden sind lang, und der Leser spürt, daß Platon besser daran getan hätte, seine kontinuierliche Theorie in einer geschlossenen Darstellung zur Anschauung zu bringen, anstatt in einer Dialogform, die so nur unausgereizt bleiben konnte. Der reife Platon war zu klug, um gute Dialoge zu schreiben.

Wo ein hoher Standpunkt gewonnen ist, bedarf es keiner Verhandlung mehr. Das Genie bedient sich des Dialogs folglich nur in sparsamem Maße. Wo er dient, neue Anregungen zu gewinnen, ist er erwünscht. Wo er nicht schadet, ist er noch eben toleriert. Aber er schadet eben nur dann nicht, wenn er gut ist, und gut kann er nur sein, wenn dem Genie, dessen Fähigkeit die ist, alles in sich einzubegreifen, ein Element begegnet, das es noch nicht in sich einbegriffen hat oder das – noch besser – ihm ebenbürtig ist. Doch Ebenbürtige zu treffen passiert naturgemäß den Genies am seltensten.

Das Genie freilich kennt Abhilfe. Es trägt seinen eigentlichen Dialog in sich. Es vermag, soll das sagen, mit sich selbst in Dialog zu treten. Oder vielmehr: Gerade erst diese Fähigkeit, in sich selbst verschiedene Positionen zu finden, macht ja das Genie zum Genie. Die Einheit eines Weltbildes ist auf den primitiveren Gedankenebenen, auf denen die Mannigfaltigkeit des Lebens nicht verarbeitet wird, leicht zu haben. Die Kunst besteht darin, eine Einheit aus der Vielfalt der Erscheinungen herzustellen. Die immer wieder aufbrechende Mannigfaltigkeit der Perspektiven und Einsichten ist eine notwendige Voraussetzung für den kontinuierlichen Zugewinn an Wissen und Erkenntnis. Die verschiedenen Standpunkte treten im Geist des Genies in Streit miteinander, und aus dieser Vielfalt kann sich eine Gesamtbewegung entwickeln, in der sodann eine neue Einheit liegt. Gerade aber diese Einheit herzustellen, vermag kein Dialog zu leisten, in dem Ebenbürtige aufeinander treffen. Der eigentliche Vorzug von Dialogen besteht darin, daß sie uns auf Gedanken bringen. Und nur, wer diese Erkenntnis unterlegt, wird jenen famosen Satz des Dichters Arno Schmidt begreifen, der da sagt:

Diskussionen haben lediglich diesen Wert: daß einem gute Gedanken hinterher einfallen

  6 Responses to “Zwei sind einer zuviel”

  1. Hoher Bartels,

    natürlich stimmt alles was Sie sagen. Und natürlich gibt es ein Aber. Zuerst glaube ich nicht an die stete Vorhandenheit der höheren Einheit. Es gibt tatsächlich einander widerstreitende Argumente, die – in den Grenzen ihrer Gültigkeit – unauflösbar sind und nicht in einer höheren Wahrheit aufzugehen vermögen. Sie ausgewogen gegeneinander zu stellen ist bereits das höchst erleistbare.
    Sodann, dass die Überlegenheit eines Partners das Vergnügen an einem Dialog, oder, sagen wir besser, dessen Güte und Ausgewogenheit schmälere: Ich falle da nicht ohne Einschränkung bei. Es gibt Dialoge, die sind praktisch Monologe und als solche stark. Es ist nicht, wie Sie sagen, per se schlecht, wenn einer zum Stichwortgeber herunter kommt, wofern sein Widerpart dies nutzen kann, um desto heller zu brillieren. Es geht, meine ich, um den Gesamtgewinn. Das Argument, man könne dann gleich zu einer geschlossenen Darstellung wechseln, lasse ich nur teilweise gelten. Denn vom didaktischen Standpunkt ist die Dialogform oft wertvoller. Wenn an den Stellen – vom Stichwortgeber – Einwände gebracht werden können, an denen eben dieselben Einwände auch dem mitdenkenden Leser beifallen würden, kann das einen anders nur schwer erzielbaren Gleichklang von Leser und Gelesenem bewirken, worüber die Rezeption merklich an Leichtigkeit gewinnen kann.
    Wie gesagt, bei der Wahl der Form es geht um den Gesamtgewinn. Und Bilanzen zieht man immer hinsichtlich eines gewünschten Zwecks. Jeder Dialog, sage ich, ist gut, der sein Ziel erreicht und dabei zu unterhalten vermag.

  2. Jede Kugel, sage ich, ist gut, die ihr Ziel erreicht und dabei zu unterhalten vermag.

    In unserer lausig schönen Zeit will der Mensch in seiner Unsicherheit oft nur die Selbstbestätigung durch den anderen. Ich bin so ein Fall und schäme mich fast aller Gespräche hinterher. Außer da monologisiert einer und ich als Gegenüber bin im Grunde austauschbar. Solange der sinnreich sinniert und ich teilhaben darf, bin ich zufrieden und belehrt. So. Jetzt Sandmännchen gucken und dann den Revolver putzen.

  3. Ihr Aber, liebe Calendula, ist im Grunde keines. Sie sagen, daß auch schlechte Dialoge Vorzüge haben können. Und das streite ich ja gar nicht ab. Eine Menge Dinge können ganz unabhängig von ihrer eigentlichen Funktion auch noch andere Funktionen haben. Aber ich werde ein Messer, das schlecht schneidet und hervorragend Lambada tanzen kann, dennoch immer ein schlechtes Messer nennen. Was den Dialog betrifft, so ist eben nicht hinreichend, einfach bloß verschiedene Positionen nebeneinander zu Wort kommen zu lassen. Horst sagt, die Sache sei so. Gabi sagt, sie sei so. Und Detlev hat auch eine Meinung … Wer in einen Dialog tritt, muß bereit sein, die Sache sich entwickeln zu lassen. Wo verschiedene und in sich geschlossene Positionen sich überlagern, ohne einander zu affizieren, findet keine Entwicklung statt. Das wäre wie ein Drama, in dem keine Figur auf eine andere träfe und keine Interaktion zwischen ihnen stattfände. Auch das könnte (man denke mal an Proust) auf sprachlich und geistig hohem Niveau stattfinden, aber es bliebe doch dramatisch stets unhinlänglich. Sie merken: Ich widerspreche Ihnen. Bei der Wahl einer Gattung geht es nie um den Gesamtgewinn, sondern immer um das, was die Giechen das Ergon der Sache, die gattungsbedingte Hauptleistung der Sache nannten. Aber wie gesagt, es gibt viele Dinge, die ein schlechtes Ergon, aber viele andere Vorzüge haben. Ich will denen nicht an die Existenz, aber es ist wichtig, über Gattungsfragen Klarheit zu behalten.

  4. ICh denke, zu einem guten Dialog gehört vor allem auch, das man dem Gegenüber Gelegenheit gibt, seinen Standpunkt darzustellen, ihn ausreden zu lassen. Etwas, an dem es leider heute bei vielen Menschen mangelt.

  5. Bester Herr Bartels, Sie sind ein widerspruchsfroher Jüngling. Ich verstehe Ihren Widerspruch, aber ich kann ihm nicht folgen.
    Diese res: Des Dialogs eigentümliche Bestimmung wäre wesentlich das Aneinanderentwickeln zweier Standpunkte will mir nicht frommen. Der Wesentlichkeit wegen.
    Des Dialogs gleichwertig hauptsächliche Bestimmung ist die Lebendigkeit, d.i. die Zuordnung von Haltung und Charakter.
    Im Grunde sagen Sie es selbst: Jeder Kopf kennt Position und Gegenposition und wägt ihr Verhältnis ab. Diese Art, im Selbstgespräch Klarheit zu gewinnen, ist in jedem Denken, also auch jedem vernünftigen Schreiben. Unser Kopf kann diesen Prozess, so er ihn überhaupt herzeigen will – und nicht nur dessen Resultat – kann ihn als Monolog darstellen, also in der Art, wie er sich tatsächlich ereignet hat.
    Tatsächlich? Gingen seinen Selbstgesprächen nicht ungezälte Dialoge mit Freunden, Eltern, Lehrern, sogar Feinden voraus? Ist also nicht wirklicher, den Werdegang eines Gedankens als Dialog darzustellen?
    Beides geht.
    Wann würde man welche Form wählen? Ich spreche für mich, Calendula. Ich nehme den Monolog, wenn ich den Leser unabgelenkt und konzentriert zu einem Gedanken führen möchte; hier behandle ich nur die wesentlichen Einwände. Ich nehme den Dialog, wenn ich die Lust am Nachvollzug des Gedankens erhöhen möchte; wenn ich weniger am Resultat, als an dessen Herleitung Interesse habe. Hier behandle ich auch Irrwege und geringe Einwände.
    Und ich nehme im Fall des Dialogs stets eine Zuordnung von Position und Protagonist, von Haltung und Charakter, wie ich sagte, vor. Selbst wenn ich derlei heraushalten wollte, stielt es sich doch unvermeidbar ein. Der Dialog ist eben auch die Begegnung zweier Menschen, das Gegeneinanderhalten von Lebensweisen, der Vergleich unterschiedlicher lebensanleitender Prinzipien.
    Kann sein, eine dieser Haltungen, sagen wir zum Beispiel eine radkal hedonistische, ist klar unterlegen. Es tut dem Dialog keinen wesentlichen Abbruch. Aufgabe des Dialogs ist es, lehrhaft und unterhaltsam zu sein. Nicht hingegen obliegt ihm, ausgewogen zu sein, wo es keine Ausgewogenheit der Positionen gibt.
    Ich würde die Position gern ein bisschen übertreiben, um sie genügend zu verdeutlichen: Gerade für unausgewogenen Positionen ist die Dialogform geboten. Sie ermöglicht eine pointierte Darstellung dieser Unausgewogenheit. Ich habe ein klassisches Exempel zur Hand: Die Fabel. Dort, in einem winzigen Dialog, vorgetragen von tierbezeichneten Charakteren, wird der Hauptgedanke umstandslos, lehrhaft und unterhaltsam herbeigeführt. Natürlich zeigt das Exempel auch, wie sehr sich ein Dialog durch Unausgewogenheit der Positionen abkürzt. Es ist ein Extrem.
    Dennoch hilft es zu beweisen: Der Dialog dient der Verlebendigung gedanklicher Konflikte. Das erachte ich als seine wesentliche Bestimmung.
    Soviel zu der Klarheit, die ich mir in Gattungsfragen erlaube.

  6. Ich will Ihre Gedanken, denen ich zum Teil durchaus zustimmen wollte, nicht im einzelnen kommentieren, weil das dann notwendige Auseinderflicken ihre Sätze mir die Zeit nähme, die den Hauptsachen (zu denen, wie oben nachzulesen, Diskussionen niemals gehören) vorbehalten ist.

    Die Frage indes, inwieweit Ihre Äußerungen meine Ausführungen überhaupt berühren, ist eine, die sich kurz beantworten läßt. Ich meine, daß – unabhängig von dem, was Sie sagen, – unser hiesiger Dialog auf performative Weise illustriert, was ich oben als zweite Voraussetzung für Dialogizität bezeichnet habe. Sie sind zu sehr in ihren eigenen gedanklichen Bahnen, als daß es Ihnen gelingen konnte, Ihren Widerspruch gegen die meinen produktiv zu machen; und wären unsere Rollen umgekehrt, verhielt es sich sicher ganz ähnlich. Sie täten nun besser daran, Ihre Theorie, die Sie ja offenkundig besitzen, selbständig und zusammenhängend zu entwickeln, anstatt sich dialogisch an einer anderen Theorie abzuarbeiten. Das führt, wie sich hier leicht sehen läßt, zu einer Vielzahl von Mißdeutungen, deren Klärung Kraft und Zeit raubt, die für das Entwickeln einer selbstständigen Theorie gebraucht würde.

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