Nov 292012
 

Kriegszeit im Nahen Osten ist Zeit für Gefühle. Hier fast noch mehr als daselbst. Europa ist ein Irrenhaus, worin man den Nahostkonflikt nicht einfach behandelt, sondern an ihm nachweist, wer man ist. Worin man sich nicht einfach den Kopf über seine Lösung zerbricht, sondern ihn darin als Gradmesser des Weltfriedens gleichsam neu erfindet. Das ist so krank, wie es sich anhört. Wofern nicht bereits das übermäßige Interesse an diesem Komplex verdächtig sein sollte, mag doch wenigstens die Zwanghaftigkeit, mit der die Bekenntnisse vorgebracht werden, nachdenklich machen. Bekenntnisse kosten, anders als Argumente, gar nichts. Was keinen Preis hat, hat vermutlich auch keinen Wert. Die populärste Form, Israel und seine Lage zu kommentieren, ist das Bekenntnis. Es fällt, zugegeben, einigermaßen schwer, zwischen IDF-Kitsch und Palästina-Folklore etwas Haltung zu bewahren. Das Ausstellen von Wimpeln und Symbolen ist – wie das Herumziehen in Gruppen – ein Zeichen intellektueller Unsicherheit, obgleich sich auch Brüder von der ausgeschlafenen Fraktion gelegentlich dazu hinreißen lassen, eine Fahne zu schwenken, und sei es nur – wie sie sich selbst versichernd einreden – zur Provokation. But stupid is as stupid does.

Und niemand bleibt ganz unversehrt. Der Nahostkonflikt gleicht dem Passierschein A 38 darin, dass unweigerlich verrückt wird, wer sich damit befasst. Schon aufgrund seiner Vorgeschichte, den Jahrhunderten europäischer und orientalischer Verfolgung und ihrem selbst im äußersten Gedanken nicht mehr zu steigerndem Höhepunkt, dem Holocaust. Die Katastrophe berührt, und wer behauptet, im Angesicht dieser Geschichte ganz nüchtern bleiben zu können, belügt zunächst sich selbst und hernach alle anderen. Die Erfahrung zeigt, dass gerade diejenigen, die erklären, sich von der Schoah ihren Blick auf den Nahostkonflikt in keiner Weise trüben zu lassen, dieselben sind, die den giftigsten Unsinn über ihn verbreiten. An der Geschichte eines Genozids nicht verrückt zu werden bedeutet, sich dieser Wirkung zu stellen, sie bewusst zu machen, das Außerordentliche als Außerordentliches zu begreifen; nur auf die Art lässt es sich beherrschen. Und deswegen ist es so schwer, unbefangen über das Thema zu reden. Alle Äußerungen der Vernunft erhalten fast automatisch eine Schlagseite, da Vernunft dort, wo die Formen der Unvernunft dominieren, zum Kämpfen verdammt ist. Auf das Niveau der Aufklärung zu sinken ist, was sie zwar kann, wo sie aber dennoch nicht ganz bei sich ist. Gegen die Einseitigkeit zu polemisieren ist etwas anderes als nicht einseitig zu sein. Wer kämpft, wird nie ganz gerecht sein können. Es ist ja sinnvoll, dass Schwerter nicht auch noch am Heft scharf sind.

Ich meine, Israel betreffend vier allgemeine Haltungen unterscheiden zu können. Da wäre erstens die antiisraelische, die von offen antizionistischen Parolen bis zum vor allem gefühlsbeladenen Entsetzen über den fortlaufenden Krieg reicht und deren innerster Mechanismus darin besteht, die Schuld historisch oder aktuell der israelischen Seite zuzuschieben. Diese Haltung findet sich in allen politischen Parteien wieder, und sie stellt aufs Ganze gerechnet zumindest die relative und je nach Schärfegrad der Begriffe auch die absolute Mehrheit. Die zweite Haltung ist die der Äquidistanz, die sich ins Unverbindliche zurückzieht, aber eben deshalb, weil dem Konflikt selbst eine Asymmetrie eignet, unvermeidlich antiisraelisch wird. Äquidistanz bedeutet eine äußerliche Mitte, eine mit dem Zollstock. In gesellschaftlichen Zusammenhängen kann die Mitte aber nicht arithmetisch bestimmt werden, sondern muss bezogen sein auf uns, auf den konkreten Fall, auf das Verhalten und die Bedürfnisse der involvierten Akteure. Wer eine äquidistante Position einnimmt, tut das in aller Regel, um sich unverdächtig zu machen. Wer nach der Mitte der Sache sucht, hingegen, tut das, weil ers wissen will. Die dritte Haltung ist die einseitige Parteinahme für Israel, also jener Fall von Israelsolidarität, der insbesondere an Panzer- und Gay-Pride-Bildern kenntlich ist, was in der Regel bei Leuten Umgang findet, die ihre Solidarität wohl nur dadurch aufrecht erhalten können, dass sie die negativen Seiten ihres Objekts ausblenden. In dieser Haltung wird – ebenso wie in der antiisraelischen – prinzipiell kein Unterschied gemacht zwischen einer partikularen Position innerhalb Israels (also z.B. der Regierung Netanjahus) und dem zionistischen Gesamtinteresse. Davon zu unterscheiden wäre eine vierte Haltung, deren grundsätzliche Parteinahme für Israel nicht Voraussetzung, sondern Resultat der Auseinandersetzung mit dem gedanklichen Komplex ist, indem die Asymmetrie des Konflikts erkannt wird, ohne dass die schwierigen Elemente (die Paradoxien, Pathologien und partikularen Instrumentalisierungen) einer der beiden Seiten vollständig verdrängt werden müssen. Es ist kein Geheimnis, dass ich dieser Haltung die größten Chancen einräume, zu sinnvollen Ergebnissen zu gelangen. Doch selbst von ihr gilt, was eben allgemein gesagt worden: Sie kann nicht völlig frei bleiben vom Partikularen, weil sie als Position in einem Meinungsfeld auf die ihr entgegengesetzten Tendenzen reagieren muss. Man ist so sehr damit beschäftigt zu widerlegen, wie es sich nicht verhält, dass man kaum noch dazu kommt zu schreiben, wie es sich verhält.

Der Antizionismus ist in seinem Irrsinn besonders gründlich, denn er arbeitet mit falschen Prämissen und mit falschen Ableitungen, und was immer noch zwischen beides passt, ist dann verlässlich ebenso falsch. Dabei bedient er sich einer Sprache, die bewegen soll, zugleich aber mitteilt, wodurch der Sprechende bewegt ist, und in all dem Chaos aus freiwilligen und unfreiwilligen Auskünften springt der Antizionist in der Diskussion, also dort, wo er seine Meinung nicht bloß äußert, sondern auch verteidigt, scheinbar willkürlich zwischen allen möglichen Ebenen und wirft, wie es ihm gerade frommt, Ursache und Wirkung, Vergangenheit und Gegenwart, Kontext und Kontext durcheinander, dabei stets seinen Maßstab für richtig und falsch wechselnd, je nachdem, ob gerade Israel angegriffen oder seine Feinde verteidigt werden sollen. Dieses Überladen mit Fehlleistungen macht es unmöglich, eine Kritik daran adäquat zu gestalten. Man verzettelt sich und findet kein Ende. Inge Höger z.B. macht in 3 Sätzen mehr falsch, als man auf 30 Seiten richtigstellen kann. Das ist keine Gipfelleistung, sondern allergewöhnlichster Bewegungsschnitt. Die Hauptwaffe des zeitgenössisch deutschen Antizionismus ist, seine Gegner mit der Widerlegung seiner Anwürfe beschäftigt zu halten.

– I –

Die gerechte Behandlung eines asymmetrischen Konflikts, sagte ich, kann nicht in einer äußerlichen Gerechtigkeit liegen, sie muss die Gestalt des Komplexes abbilden. Es ist eine Sache, die Rechtsgleichheit der jüdischen und der arabischen Seite anzuerkennen. Denn beide Gruppen erheben teils aus Gründen der Religion, teils aus Gründen der Gewohnheit Anspruch auf ein Stück Erde, und man muss deswegen von einer tragischen Verschränkung dieser Ansprüche reden, weil Israelis und Palästinenser, wenn sie jeweils von ihrem Land sprechen, ziemlich dasselbe meinen. In diesem Konflikt ein Vorrecht anzuerkennen hieße, die eine Religion vor die andere, die eine Gewohnheit vor die andere setzen, was ohne Aufgabe der Vernunft nicht möglich ist. Man müsste entweder, ganz willkürlich, den Wert der einen Seite höher ansetzen als den der anderen oder, logisch dürftig, aus der Notwendigkeit des einen Staates die Notwendigkeit, den anderen zu verhindern, ableiten, oder schließlich, die Willkür rationalisierend, sich völkischer Begriffe bedienen, indem man dem synthetischen Charakter der einen Gruppe den organischen der anderen entgegensetzt und daraus, vermeintlich objektiv, weil auf die Natur bezogen, einen Rechtsvorrang begründet.[1]

Eine ganz andere Sache hingegen ist, aus der prinzipiellen Rechtsgleichheit heraus beide Seiten des Konfliktes schlechthin zu nivellieren, keinen Unterschied im Konfliktverhalten wahrnehmen zu wollen und gegen alle Tatsachen vom »Fanatismus der beiden Seiten«, der »Gewaltspirale« usf. zu sprechen. Richtig ist, dass Israel eine Besatzungsmacht ist. Unstrittig ebenfalls, dass es Zweistaatlichkeit nur bekommen kann, wenn es die Besatzung beendet. Aber wenn man eine Besatzung beenden soll, muss auch geklärt werden, was eigentlich besetztes Gebiet ist und was nicht. Man muss über Grenzen sprechen, ehe überhaupt von Anerkennung die Rede sein kann. Dazu bedarf es jedoch einer Gegenpartei, die bereit ist zu verhandeln. Niemand, der seines Sinns und seiner Sinne mächtig ist, kann übersehen, dass dieses Unterfangen auf der arabischen Seite nur wenig Wohlwollen genießt.

Beide palästinensischen Mehrheitsbewegungen schließen die Existenz eines jüdischen Staates aus. In der Hamas hat Israel einen Feind, der in seiner Charta die vollständige Vernichtung des jüdischen Staats und, mehr noch, eines jeden Juden ankündigt, seine offiziellen Vertreter kontinuierlich die Unverhandelbarkeit dieses Ziels betonen lässt und einen fortwährenden Krieg führt, der ausdrücklich nicht durch Frieden beendet, sondern lediglich hin und wieder durch einen Waffenstillstand zum Zweck der Neuformierung und Aufmunitionierung unterbrochen werden darf, dessen Frieden also nie etwas anderem dient als der Schaffung einer günstigen Ausgangslage für die Fortsetzung des Kriegs. Das geschieht so offen, dass man es auch in Teilen der antizionistischen Bewegung allmählich bemerkt. Bei der Fatah hingegen kommt der Vernichtungsgedanke vermittelt daher; deshalb übersieht man diese Seite an ihr ebenso gern, wie man vom Sadismus der Mutter Teresa oder dem Rassismus des Mahatma Gandhi all die Jahre ihres Treibens nichts hat wissen wollen.

Ein Frieden mit der Hamas ist nicht unmöglich (denn was schon wäre gänzlich unmöglich?), er ist aber so unwahrscheinlich, dass mit diesem Weg im Praktischen zu operieren an Gemeingefährlichkeit grenzt. Man muss diesen organisierten Verband für Wohlfahrt & Totschlag – und das meint genauer: für die Wohlfahrt der Totschläger – isolieren und zum mindesten unterdrückt halten. Doch der Schlüssel hierzu läge gerade nicht daselbst, im Gaza, sondern im Westjordanland. Militärisch kann man die Hamas periodisch daran hindern, ihr vernichtendes Treiben fortzusetzen. Beseitigen könnte man sie nur, indem man die Bewohner Gazas dazu brächte, die Hierokratie der Mullahs zu stürzen, die ja für sie zugleich einen kontinuierlichen und penetranten Alltagsterror bedeutet. Man kann langfristig darauf bauen, dass jede Bevölkerung irgendwann einmal kriegsmüde wird. Man kann überall damit rechnen, am Ende eine Mehrheit zu finden, die das persönliche Glück höher stellt als das Hassgefühl einer zweckgerichtet konstituierten Leidensgemeinschaft. Zur Stunde werden die Leichen sogenannter Kollaborateure noch an Motorrädern durch Gaza City gezogen, und solange im Westjordanland das Elend nur um weniges geringer ist, wird Dikaiopolis auch weiterhin nur im Singular denkbar sein. Der größte Anreiz für die Menschen im Gaza bestünde darin, ihnen am Westjordanland vorzumachen, dass Frieden sich lohnt, dass er zu Wachstum, Prosperität, allerlei Freiheiten und einem souveränen Staat führen kann. Man müsste das Westjordanland bevorzugt behandeln, die Autonomiebehörde stärken, das Territorium als Staat anerkennen, ihr bei der Siedlungsfrage entgegenkommen und die beiden Staaten (Israel und Palästina) ökonomisch verflechten, Wirtschaft und soziale Verhältnisse entwickeln, also Zustände schaffen, die allgemein von Vorteil sind. Die arabische Bewegung müsste, soll das heißen, gespalten und nicht weiter zusammengepresst werden. Diese Spaltung bedeutete nichts anderes, als dass die sittlichen Zwecke – Gründung des Staats, Wachstum und Frieden – wichtiger werden als das Gefühl völkischer Verbundenheit und das Streben nach Rache. Ein solcher Vorgang scheint allerdings weit außer dem Bereich des Möglichen, denn da ist ein Hemmnis, das diesen Ansatz zum frommen Traum degradiert.

Die Fatah stellt unannehmbare Forderungen. Ein allgemeines Bekenntnis zu zwei koexistierenden Staaten ist wertlos, wenn zugleich das Recht zur vollständigen Rückkehr aller vertriebenen Araber in das israelische Kernland verlangt wird. Da sich diese Forderung auf die seit Jahrzehnten in den Auffanglagern lebenden Menschen bezieht, denen, mit Ausnahme Jordaniens, alle arabischen Nachbarstaaten die Staatsbürgerschaft verweigern, wodurch das Flüchtlingsproblem vorsätzlich am Leben gehalten wird, hat sich die Zahl der Flüchtlinge seit dem Gründungskrieg von 700.000 auf ca. 5 Millionen vermehrt. Da man den Status der Heimatvertriebenen als erblich betrachtet, ist die kuriose Lage entstanden, dass Millionen Menschen die Rückkehr in Dörfer fordern, in denen sie nie gelebt haben und die oft schon vor langer Zeit planiert wurden. Was selbst hierzulande als vollends abwegig gilt, wird bezogen auf den Nahen Osten als Grundrecht verstanden. Wir lachen über Erika Steinbach; Mahmud Abbas nehmen wir ernst.

Wie immer man allerdings diese Sonderbehandlung der arabischen Flüchtlinge bewertet, die natürlich nichts anders ist als die ins Positive gekehrte Sonderbehandlung der Juden im Antisemitismus – die reale Folge eines durchgesetzten Rückkehrrechts wäre ein Zustand, in dem neben einem rein arabischen Staat Palästina ein Staat Israel existierte, worin die Araber die Bevölkerungsmehrheit halten, was, wenn man es zu Ende denkt, auch nichts anderes als eine moderat geformte Forderung nach der Vernichtung Israels ist. Alle anderen Streitgegenstände – die Siedlungsfrage[2], die Frage der Bewaffnung und ökonomischen Selbständigkeit, die Frage des Grenzverlaufs und selbst die Jerusalemfrage – sind verhandelbar und lassen sich modellhaft denken. Die Flüchtlingsfrage nicht.

Genau diese Forderung aber wird von den Gutgesinnten in Europa als gemäßigt und verhandlungsfähig bezeichnet. Sie, die nie auf den Idee kämen, die Rückkehr der um 1948 gleichfalls vertriebenen Juden zu fordern, sie, die im Anblick der Siedlungsfrage bereits der Gedanke einer jüdischen Minderheit in palästinensischen Gebieten schreckt, fordern von Israel, über die Bedingungen seiner Auflösung zu verhandeln. Der Extremismus der Fatah wird hoffähig, weil ein rabiaterer Extremismus der Hamas rechterhand alles andere in den Schatten stellt. Dabei sind die Positionen des Mahmud Abbas mehr oder weniger äquivalent denen der israelischen Rechten, z.B. Naftali Bennetts, der ja in der Annexion der C-Zone, also von ca. 60% des Westjordanlands, eine dauerhafte Lösung sieht. Die ganze Asymmetrie des arabisch-israelischen Konflikts wird in diesem Vergleich unmittelbar anschaulich, denn man sieht, dass das, was auf der israelischen Seite als extrem gilt (und bezogen auf das israelische Spektrum auch ist), dem entspricht, was auf der palästinensischen Seite für gemäßigt genommen wird. Ein israelisches Pendant der Hamas existiert nicht.[3]

Ich will nicht breiter werden als unbedingt nötig. Wenn ichs kurz sagen sollte, tät ichs so: Der Nahostkonflikt findet nicht im Niemandsland zwischen zwei Fronten statt, sondern auf dem Territorium Israels, ist also eigentlich kein jüdisch-arabischer, sondern ein israelisch-antiisraelischer. Die Verteidigung der Existenz auf der einen Seite, die Vernichtung eines anderen Landes als ganzer Lebenszweck auf der anderen, und diese Asymmetrie bleibt auch dann maßgeblich, wenn man alle Formen des militärischen und politischen Fehlverhaltens, das auf beiden Seiten zur Genüge vorhanden ist, mit einberechnet. Eine Mitte zwischen der Zweistaatenlösung und der Vernichtung Israels kann es nicht geben, denn die Zweistaatenlösung ist die Mitte.

Um einen Krieg zu führen, reicht schon einer. Für einen Frieden braucht man zwei. Die Einsicht in Asymmetrie und mittelfristige Unlösbarkeit der Lage ist die Voraussetzung eines vernunftgemäßen Begriffs und einer entsprechenden Handlung. Doch selbst in ihr liegt die Tendenz der Überschreitung, nämlich dort, wo die Beschaffenheit der Lage als Vorwand genommen wird, an ihr nicht mehr arbeiten zu müssen. Dass die zionistische Linke die bessere Besetzung für die Friedenszeit ist, kann kein Streitpunkt sein, sofern man Ziele wie Frieden und soziale Gerechtigkeit für wünschenswert hält. Ob die Linke die bessere Kraft für die Kriegszeit wäre, darf offenbleiben, da die Antwort stark davon abhängt, ob es einer linken Regierung gelänge, auf der palästinensischen Seite zu erreichen, was bislang nur selten Bestand hatte: eine Mehrheit für einen Frieden mit Israel und einen territorialen Kompromiss. Was im Praktischen zur Zeit nur möglich scheint, ist nicht die Lösung, sondern die Verwaltung des Konflikts, doch eine moderne Legende, die von interessierten Kreisen in Umlauf gebracht wird, behauptet, dass Falken sich besser für die Verwaltung von Konflikten eignen.[4] Der Hinweis, dass die Friedenspolitik letztlich immer fruchtlos war, fällt auf den Absender zurück, da doch auch die Kriegspolitik stets fruchtlos geblieben ist. Keine Maßnahme, kein Ansatz, kein Plan hat bislang grundsätzlich etwas ändern können. Das Komplizierte ist am Ende ganz einfach: Gegen einen Feind, der keinen Frieden will und der nicht endgültig zu besiegen ist, ist kein Kraut gewachsen: weder heilsames noch giftiges.

Genau diese Aporie scheint die meisten Kommentatoren zu überfordern. Die nachgerade zwanghafte Vereinfachung des Konflikts kann ebenso gut verstanden werden als praktischer Ausdruck einer Verzweiflung am Konflikt selbst. Wo das Vernunftdenken in die Grenzen seines Gegenstands resignieren kann – was keine schöne Sache ist, aber doch immerhin der Wirklichkeit gerecht wird –, zieht sich der gemeine Menschenverstand, der Zweideutigkeiten und Unentschiedenheiten nicht gern erträgt, in die Illusion der einfachen Lösung zurück. Die vorhandene Asymmetrie ist indes so evident, dass das irrationale Bedürfnis Äußerstes unternehmen muss, um das Schiefe zu begradigen. Eine Schieflage mit geradem Blick betrachtet stellt sich getreulich als schief dar. Wer sie als gerade wahrnehmen möchte, muss den Blick schieflegen. Dergleichen, ich schriebs, passiert auf beiden Seiten, doch bedingt die Asymmetrie der realen Lage eine ungleich höhere Aktivität des Verfälschens auf der antiisraelischen Seite. Der Revisionismus bewegt sich dabei stets auf zwei Kampffeldern: der Gegenwart und der Vergangenheit. Es geht darum, den Staat zugleich aus seiner Gründungsgeschichte und aus seinem gegenwärtigen Zustand heraus zu delegitimieren, ganz so, als wollte man zur Sicherheit das Kind erst abtreiben und dann zur Adoption freigeben.

Ich bin kein Historiker und meine auch nicht, des Geschreis einiger Zeloten wegen einer werden zu müssen. Wer wissen will, kann wissen. Die Frage, was man mit dem Wissen anstellt, ist viel schwieriger. Denkweisen, will ich sagen, interessieren mich sehr, und es geht mir also kaum um die zum Geschäft der Propaganda gehörenden Verfälschungen gesellschaftlicher Tatsachen. Es geht um das Bedürfnis, das hinter solchen Handlungen steckt. Die häufig wiederholte Einschätzung etwa, Israel müsse mehr für den Frieden tun, wird, so richtig sie als politische Forderung ist, oft von einer Rechnung begleitet, die unterstellt, es liege in Israels Hand, den Konflikt zu beenden, und lediglich seine übertriebene Wachsamkeit halte diesen aufrecht. Das wäre selbst dann, wenn es stimmte, falsch, denn wer dieses Argument vorträgt, schreibt einer Konfliktpartei die Fähigkeit zu, Entscheidungen für die andere Seite mitzutreffen. Die arabischen Beteiligten erscheinen damit als bloße Reaktionsmasse, die sich stets so bewegen wird, wie die israelische Partei es bei ihren Handlungen vorsieht. Der Terrorismus wird nicht denen zugeschrieben, die ihn unternehmen, sondern denen, die zu seinem Ziel werden. So überschätzt man einerseits die Handlungsmöglichkeiten der Israelis, wie man andererseits den Arabern die Verantwortlichkeit für ihr Treiben abspricht, sie also behandelt, wie man es sonst mit Kindern oder Unzurechnungsfähigen tut.

Dass der Drang dahin unwiderstehlich ist, hängt auch mit der Suche, ja vielmehr Sucht nach Schuld zusammen. Bekanntlich will, wer die Schuldfrage stellt, von der Sache nichts wissen. Er will sie erledigt. Am Anfang stand die Diaspora, ihr folgte die religiös und gesellschaftlich bedingte Ausgrenzung im Mittelalter, dieser die jüdischen Überlebensstrategien, denen der organisierte Antisemitismus mit seiner Verfolgung, Vertreibung, Ermordung. Auf die folgten der politische Zionismus und die Fluchtwellen in den Orient. Dort folgte der arabische Widerstand gegen die jüdische Ansiedlung; motiviert einerseits durch ordinäre Xenophobie, andererseits durch den islamischen Herrschaftsanspruch gegen die ehemaligen Dhimmis.[5] In dieser Lage ergaben sich das britische Mandat und das Versprechen an beide Parteien, ihre nationale Unabhängigkeit auf demselben Boden zu realisieren, 1919 der Friedensvertrag mit Faisal, 1920 erste antijüdische Pogrome, 1923 die Abspaltung Transjordaniens vom Mandatsgebiets, 1936 die Peel-Kommission, 1947 die Aufteilung des verbleibenden Fünftels in einen arabischen und einen jüdischen Staat, 1948 Bürgerkrieg und Invasion der umliegenden arabischen Nationalstaaten. In den nächsten Jahrzehnten weitere Kriege, begonnen mal von der, mal von der Seite, eine gewaltsame Neuverteilung des Gebiets im Jahre 1967, die drei Neins der Arabisch Liga, der Friedensvertrag mit Ägypten, die erste Intifada, die Oslo-Verträge, die zweite Intifada, der antifaschistische Schutzwall, die Räumung des Gaza und immer wieder Bomben, Sprengstoff, Tunnel und Raketen. In dieser langen Kette von Ereignissen, die auch hier nicht mehr als bloß angerissen werden konnte, ging jedem Ereignis ein anderes voraus, bis zurück zur Eroberung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70. Es ist kompliziert, es ist lang, aber es ist, wie es ist. Man kann kein Phänomen der Welt unter Niveau begreifen.

Die Schuldfrage beruht auf zwei faulen Punkten. Zum einen auf dem Bedürfnis nach der einfachen Erklärung, zum anderen darauf, dass sie immer schon geklärt ist. Der erste ließe sich bei gehöriger Einfühlung vielleicht noch nachvollziehen. Da ist ein Bedürfnis, in der langen Ereigniskette irgendwo einen Schnitt zu setzen, das vorher Geschehene aus der Betrachtung auszuschließen und somit endlich eine klare Ursache abstrakt festzuhalten, von der aus alles weitere betrachtet und bewertet werden kann. So sind sich die Gegner Israels durchaus uneinig darüber, wo nun der Sündenfall zu verorten ist: im Dogma vom Auserwählten Volk, im Separatismus unter der Diaspora, in der Herausbildung einer jüdischen Finanzoligarchie, im zionistischen Weltkongress, in der Ansiedlung im Nahen Osten, in der Staatsgründung von 1947/48, im Krieg von 1967 oder im Beginn der Siedlungspolitik. Doch alle diese Versuche haben, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Urteile, gemein, dass sie einen Punkt suchen, an dem ein Ereignis, eine Entscheidung, eine Ursache unvermittelt in die Welt trat und alles spätere Leid verursachte. Allein als intellektuelle Faulheit aber, als Flucht vor der Kompliziertheit des Lebens, lässt sich die Schuldsucht nicht verstehen. Wer die Schuldfrage stellt, sagte ich gerade, hat sie längst beantwortet, und sei es negativ, in der Abwehr und Verschiebung. Die Schuldzuweisung ist immer eine verdeckte Entschuldung der anderen Seite. Das ist der Punkt, an dem die bloße Einfalt endet und der Eifer beginnt. Denn der Jude ist jenes merkwürdige Fabelwesen, das an allem schuld ist: an dem, was es verursacht, ebenso wie an dem, was ihm geschieht.

Die Unfreunde des israelischen Staats werden nicht müde, sich darüber zu beklagen, dass man ihnen gegenüber fortwährend mit dem wedle, was sie Antisemitismuskeule nennen. Aber wie anders soll man denn eine Denk- und Verhaltensweise beurteilen, die, komme was da wolle, die Schuld auf der jüdischen Seite sucht, die mit inkonsistenten Argumenten arbeitet, solange diese nur die gewünschte Schuldzuweisung leisten, die Israel selbst die bloße Verteidigung der eigenen Existenz noch vorwirft und diesem Staat rät, jeglichen Angriff geduldig zu ertragen und der Welt auf die Art endlich, sich selbst opfernd, den ersehnten Frieden zu bringen, die ihm unter Hinweis auf seine Gründungsgeschichte wie auch auf seinen gegenwärtigen Zustand die Legitimität abspricht, die ferner jede Handlung dieses Staates übertreibt, aus dem Zusammenhang reißt, ihm nur die schlechtesten Absichten unterstellt, ihm dort, wo er mit dem Säbel rasselt, Barbarei, und wo er sich um Frieden bemüht, Heuchelei vorwirft, die ihm folglich alles, was er tut, zum Nachteil auslegt, und ihn überhaupt mit anderem Maßstab misst als jeden anderen Staat? Bloße Dummheit ist, wie bloße Vernunft, überparteilich. Sie richtet sich mal gegen dies, mal gegen das. Es ist die immerselbe Tendenz der sich für nüchtern haltenden Kritik, die es unmöglich macht, nicht von Antisemitismus zu sprechen.

– II –

Woran man den Antisemiten erkennt? Zum Beispiel daran, dass er keine Antisemiten erkennt. Die Judenhasser unserer Tage glauben, keine Judenhasser zu sein, weil sie ja nicht von Juden, sondern bloß von Israel oder den Zionisten reden. Den einfachen und von keinem bestrittenen Umstand, dass ein Unterschied zwischen einer ursprünglichen und einer gewählten Zugehörigkeit besteht, verkehren sie in die Vorstellung, dass jemand, sobald er bloß nicht Juden, sondern Zionisten sagt, schon kein Antisemit mehr sein könne. Die Möglichkeit, dass derselbe Hass sich in verschiedenen Gestalten reproduzieren kann, kommt auf der weltanschaulichen Landkarte dieser Zeitdenker ebenso wenig vor wie die plausible Einsicht, dass das antisemitische Bedürfnis sich nach den Schrecknissen der Schoah kaum je wieder so offen zu erkennen geben konnte wie vor 45 und dass folglich die Suche nach verdeckenden Begriffen wie etwa Zionismus, Ostküste oder Israel-Lobby die ganz natürliche Reaktion des bestehenden Antisemitismus sein musste.

Wer einem anderen Antisemitismus vorwirft, weiß, dass er Krawall stiftet. Er sollte also gute Gründe haben, einen solchen Vorwurf zu erheben. Dort, wo der Vorwurf begründet ist, ist der Krawall die unvermeidliche Begleiterscheinung, um die man sich dann nicht mehr sorgen muss. Die Begründung ist mithin alles, was zählt. Antisemiten sind immer beleidigt, wenn man ihnen auf die Schliche kommt, ob man das böse A-Wort nun sagt oder nicht. Bekanntlich redet man ohnehin nicht mit ihnen, sondern nur über sie, und es schadet deswegen nicht, die Begriffe zu klären, mit denen man operiert, zumal der Umstand, dass sie oft definiert und öfter missbraucht worden sind, die Erklärung, was man selbst unter ihnen versteht, nur um so dringlicher macht.

Was also ist Antisemitismus, was Antizionismus? Ich beginne, Marx marx mir verzeihn, mit dem Besonderen und steige hernach zum Allgemeinen hinab, da bei diesem Thema der seltsame Fall vorliegt, dass die Sache desto verwickelter scheint, je abstrakter man sie fasst. Die Erscheinung ist hier klarer als das Wesen, aber das muss ja nicht so bleiben. Erschwert wird der Blick dadurch, dass es keinen Kanon, keinen verbindlichen Theoriekorpus gibt, der von den Beteiligten mehr oder weniger anerkannt ist. Der Antizionismus ist keine Buchreligion. Es liegt vielleicht eine Art Geschichte zwischen den »Protokollen der Weisen von Zion« (1903), Rosenbergs »Staatsfeindlichem Zionismus« (1922) und jüngeren Publikationen wie etwa Butlers »Parting Ways« (2012), aber die Stationen dieser Geschichte passen sich eher der jeweiligen Weltlage an, als dass man sagen könnte, sie bauten aufeinander auf.[6] Der Antizionismus lebt ganz im Moment, ganz in der Bewegung selbst. Er ist das Lichtbild der tausend Augen, der Unduft der hundert Blumen. Antizionisten widersprechen einander auf Schritt und Tritt, in den Rezepten wie in den Begründungen. Was sie ausschließlich eint und erst möglich macht, dass sie miteinander handeln können, ist ein gemeinsames, unverrückbares Feindbild. Deswegen ist der Antizionismus vor allem aus der unmittelbaren Anschauung seines Treibens heraus erkennbar. Der Täter, weiß die forensische Psychologie, kann in einem Verhör das Blaue aus dem Himmel herauslügen, aber es gibt einen Moment, in dem er ganz ehrlich ist: den nämlich, worin er seine Tat begeht. Auch von der Politik gilt, wie ich meine, dass Entscheidungen schwerer wiegen als Erklärungen.

Vor uns steht der Antizionismus als diejenige Meinung, auf die sich die engagierten Unfreunde Israels weitgehend einigen können. Sie kritisieren den Staat für seine Natur. Sie stoßen sich nicht an einzelnen Handlungen oder einigen Fehlerstellen in seiner Verfassung, obwohl sie dergleichen natürlich, wo immer es passt oder nicht auch nicht passt, zur Begründung ihres Verdikts heranziehen. Es ist möglich, sich an konkreten militärischen Aktionen oder politischen Entscheidungen zu stören, ohne Antizionist zu sein. Es ist sogar möglich, prinzipielle Eigenschaften der Verfassung (z.B. das Fehlen einer säkularen Eheschließung) zu kritisieren, ohne Antizionist zu sein. Die Frage ist, ob die Kritik auf das zionistische Projekt gerichtet ist, eine staatliche Schutzmacht gegen die betriebene Verfolgung einzurichten. Dort, wo diese Notwendigkeit geleugnet oder behauptet wird, die Schutzmacht bringe die Verfolgung überhaupt erst hervor, ist von Antizionismus zu sprechen.

Indem Antizionisten sich an dem stoßen, was Israel ist, stoßen sie sich daran, dass es ist. Der Staat existiert in ihren Augen dort, wo ein anderer existieren müsste, und er hätte, so ihre Überzeugung, nie gegründet werden dürfen. Daher rechnen sie ihn zum Übelsten, das dieser Tage auf der Erde dauert. Sie sind, genauer noch, unfähig, am Judenstaat ein gutes Haar zu lassen[7]; ihre Reaktionen, sobald auch bloß sein Name fällt, sind vorhersehbar feindlich. Und mehr noch: Für sie ist Israel nicht nur, wie sie es bestimmen, es kann nicht anders sein. Wenn ich einer Sache ihre Existenz vorwerfe, ist das nur möglich, wenn ich zugleich annehme, dass die Eigenschaften, die sie verdammenswert machen, an ihr wesentlich, also nicht änderbar sind. So mahnt der um Anerkennung ringende Antizionist die Rückkehr der arabischen Flüchtlinge an, während der träumende Antizionist über die sogenannte Einstaatenlösung sinniert und der tobende Antizionist für ein Großreich Palästina betet, in dem Juden allenfalls unter der Schutzmacht des Islam bleiben dürfen. Ein Antizionist ist einer, dem tausend Wege einfallen, den Judenstaat zu liquidieren.

Wesentlich am Antizionismus ist sein exklusiver Charakter. Er richtet sich nicht gegen allgemeine Spielarten vaterländischer Ideologie wie etwa Rassismus, Nationalismus, Faschismus, Militarismus, Imperialismus oder Chauvinismus, sondern ausdrücklich gegen den Zionismus, den er zwar als besondere Ausprägung dieser Spielarten fasst, ihn aber als einzigen auf eine Ebene mit diesen allgemeinen Formen stellt. So liest man immer wieder auf Flugblättern, Webbannern und anderen Verkehrsmitteln, die von Menschen mit Bauchschmerzen für Menschen mit Bauchschmerzen gemacht werden: »Gegen Imperialismus und Zionismus«, »Gegen Zionismus und Krieg« oder »Gegen Rassismus und Zionismus«. Und man fragt sich unwillkürlich: Wenn, was uns immer wieder versichert wird, der Zionismus eine besondere Form z.B. des Rassismus sein soll, wieso muss er dann stets und eigens neben diesem aufgeführt werden? Und tatsächlich gibt es auch keine andere Nationalbewegung, die in eine solch exponierte Stellung gebracht wird. Nie liest man etwa: »Gegen Nationalismus, Gallomanie und Zionismus« oder »Gegen Rassismus, Panarabismus und Zionismus«. Die Exklusivität des Zionismus ist im Antizionismus auf eine sehr verrückte Weise zugleich ganz unbewusst wie offen eingestanden.

Die Definition des Antizionismus ist ziemlich einfach. Antizionismus ist die Überzeugung, dass jedes Volk der Welt das Recht auf einen eigenen und souveränen Nationalstaat hat – jedes, mit Ausnahme des jüdischen. Der Antizionismus ist kein Antinationalismus, sondern allein und ausschließlich gegen den jüdischen Nationalismus gerichtet. Kein Antizionist erregt sich über die Existenz Frankreichs oder Deutschlands, mit welchen Ländern er selbst dann, wenn er sie nicht liebt, doch immerhin leben kann. Und jeder Antizionist ist sogar voller Mitgefühl für die palästinensische Nationalbewegung, ja, sein ganzer Hass gegen Israel gründet sich auf den Vorwurf, dass dieser Staat den Palästinensern die Bildung eines Nationalstaats verweigere. Der Gedanke daran, dass mit Palästina den 22 bereits bestehenden arabischen Nationalstaaten eine No. 23 hinzugefügt werde, ist den Antizionisten so kostbar, wie ihnen der Gedanke, dass es auch nur 1 jüdischen Nationalstaat gibt, widerwärtig ist.[8]

Das Hauptgeschäft des Antizionismus besteht darin abzustreiten, was jeder – eingeschlossen er selbst – weiß, nämlich dass der Zionismus die Reaktion auf Jahrhunderte von Antisemitismus ist. Da kaum einer sich die Mühe macht, Hess, Pinsker oder Herzl selbst zu lesen oder wenigstens doch die Geschichte der europäischen Pogrome im 19. Jahrhundert zur Kenntnis zu nehmen, geht die Revision leicht von den Lippen. Der Ursprung des Zionismus, der historisch einsichtig ist und nur geleugnet werden kann, wenn man von den Tatsachen absieht, wird im ideologischen Zugriff des Antizionismus verschoben. Der Zionismus erscheint als eine autonome Schweinerei, als bösartige Ideologie eines finanzstarken Weltjudentums, eines jüdisch-britischen Kolonialpakts oder, im besten Fall, von vielleicht etwas verfolgten Siedlern, die jedoch spätestens mit dem Betreten Palästinas instantan vom Opfer zum Täter wurden. Mit fast beeindruckender Leichtigkeit wird selbst über die Entwicklung der dreißiger Jahre hinweggegangen, über die Fluchtwellen aus Deutschland, die Rassengesetze von 35, die Pogromnacht von 38, die Konferenz von Évian 39, die Fahrt der St. Louis und überhaupt über den Umstand, dass in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts praktisch jedes Land der Erde rigide Beschränkungen der Einwanderung vorgenommen hatte. Die Fluchtbewegung vieler Juden nach Palästina gilt dem Antizionisten als expansive Bemächtigung eines arglosen Landstrichs durch ein fremdes Volk, das – und hier darf dann nur noch geraunt werden – sogar ein Interesse an der Nazibarbarei haben musste, da diese ihm erst den eigenen Nationalstaat ermöglicht hat.

Argumentativ kann die Verwandlung des Zionismus von der Wirkung in die Ursache auf zwei Weisen erreicht werden: Entweder wird er ganz vom Judentum gelöst, diesem geradezu als Negation gegenübergestellt, oder er wird als äußerste Ausprägung des jüdischen Charakters behauptet. In der ersten Sicht erscheint er als falsche Reaktion der Juden auf die Lage der Bedrohung, deren Vorliegen darin immerhin eingestanden ist; aber er wird eben selbst zu einer dem Antisemitismus ähnlichen Ideologie und gilt als Missbrauch echter Nöte zu politisch üblen Zwecken. Das Argument hat Vorzüge. Wenn Zionismus und Judentum zwei grundverschiedene Dinge sind, erledigt sich die Möglichkeit einer antisemitischen Wurzel für den Antizionismus von selbst. In der anderen Sicht erscheint der Zionismus umgekehrt geradezu als Vollendung des jüdischen Geistes: Das biblische Dogma vom Auserwählten Volks wird in antizionistischen Tiraden ebenso gern herangezogen wie das berüchtigte Talionsprinzip Auge um Auge. Die Implikation dieser zweiten These lautet, dass die Juden selbst Schuld tragen an den Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren und sind. Die Implikation der ersten These besteht darin, dass nur derjenige als wahrer Jude anerkannt sein kann, der sich den Vorstellungen der Antizionisten gemäß verhält. Übrigens findet man nicht selten diese beiden, sich eigentlich ausschließenden Perspektiven in ein und denselben Köpfen, was nicht wundernehmen sollte. Wo eine Stimmung das einzig Verbindende einer Bewegung ausmacht, kann im gedanklichen Überbau keine Ordnung herrschen.

Wie Denken überhaupt eines ihrer größten Probleme ausmacht. Der Manichäismus wird dort lebendig, wo alles andere abgestorben ist, und die besondere Fixiertheit auf den Zionismus lässt auch keine andere Einteilung zu. Wer z.B. den Zionismus nicht hasst, sondern historisch und politisch einordnet, wird dem routinierten Antizionisten als Zionist gelten, ganz gleich, ob er einer ist oder nicht. Die Vorstellung einer Position, von der aus der Zionismus eher betrachtet als emphatisch vertreten oder angegriffen wird, die ihn historisch neben anderen Erscheinungen auf den Begriff zu bringen sucht, die seinen partikularen Charakter konstatiert – den er natürlich besitzt, denn er ist die Ideologie einer Nationalbewegung –, bei der das aber dennoch nicht in einer feurigen Anklage endet – die Vorstellung einer solchen Position ist ihnen von vornherein unzugänglich. Für sie gibt es nur entweder Zionismus oder Antizionismus. Also letzteres. Da sie ein vom Hass geleitetes Bedürfnis besitzen, wird ihre Einseitigkeit, ihre Vernichtungswut, ihre Irrationalität schnell offenbar. Gerade, wo man argumentativ ins Schwimmen gerät, ist der Gedanke hilfreich, dass durch die Welt ein großer Schnitt gehe. Die eigene Auffassung braucht keinen allzu großen Sinn zu ergeben, solange man sich und anderen glaubhaft machen kann, dass die einzig mögliche andere Position noch viel weniger annehmbar ist. Da bleibt keine Zeit zum Zaudern, da muss man sich für die richtige Seite entscheiden, nicht der ewig zögernde Grübler sein, sondern der Praktiker mit dem nervigen Arm. Die Uhren der Aktivisten stehen still; denn bei ihnen ist es immer 5 vor 12 ist.

Antizionisten, folgt aus alldem, sind der Reflexion unfähig. Sie müssten, wollten sie auf Augenhöhe der von ihnen geführten Debatte sein, erklären können, warum sie einseitig, vernichtungswütig, logisch inkonsistent und selektiv argumentieren. Das können sie aber nicht, weil es nicht möglich ist, derartig verschrobene Kalküle als solche zu rechtfertigen. Folglich sind sie anhaltend bemüht, im Gegenstand ihrer Überlegungen Gründe zu finden, die ihre absurden Urteilsführungen gestatten. Der vollblütige Antizionist wehrt sich nicht gegen den Vorwurf, dass er einseitig ist; er erklärt anhand der israelischen Politik, warum es notwendig ist, einseitig zu sein. Es gab eine Zeit, in der ich es nicht als müßig angesehen habe, mit Antizionisten zu diskutieren. Es gab auch eine Zeit, in der ich Debatten mit Antizionisten noch regelmäßig verfolgte. Ich erinnere mich, bei allem, was ich sah, las und hörte, an keinen Fall, wirklich: an keinen einzigen, in dem einer der Betreffenden auf ein Argument der Reflexionsebene reagiert hätte. Jeder Versuch, die argumentative Struktur zu beleuchten, wurde mit einer fast hektischen Flucht auf die Sachebene beantwortet. Das ist im Grunde unglaublich. Wenn mir jemand in einer Diskussion den Vorwurf machte, logisch inkonsistent, einseitig o.ä. zu sein, würde ich alles daran setzen, diesen Vorwurf zu entkräften. Ich würde sicher auch versuchen, die Sachdiskussion fortzusetzen, aber die Diskussion über die Diskussion ist ein Kampffeld, auf dem unbedingt bestehen muss, wer in der Diskussion bestehen will. Wenn einer in einer solchen Lage keinerlei Versuch der Entkräftung unternimmt, dann liegt das sehr wahrscheinlich daran, dass er es nicht kann. Genau das ist das Problem jener Wüteriche. Um auf der Reflexionsebene argumentieren zu können, bräuchten sie Fähigkeiten, deren Mangel gerade die Voraussetzung dafür ist, dass sie in solche Lagen kommen können.

Aber dieser Mangel ist nicht so sehr ein kognitiver, wie das vielleicht angenehm zu glauben wäre. Wer in Diskussionen selbst an einfachsten Ableitungen scheitert, scheitert wahrscheinlich nicht an einem intellektuellen Unvermögen, sondern an einer festen Haltung, die sein vorhandenes intellektuelles Vermögen punktuell außer Betrieb setzt. Antizionisten, zeigt die Erfahrung, sind nicht einfach beschränkt. Sie sind nicht aufklärbar. Versucht man es, passiert öfter als bloß regelmäßig das Gegenteil: Die Auffassung verfestigt sich weiter, und im Verhalten schimmert das romantische Muster durch. So sehr sich der Vollzug antizionistischer Übungen als Rebellion des gemeinen Menschenverstands gegen die Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit politischer Wirklichkeiten beschreiben lässt und in der Tat nie etwas anderes als von Reflexion befreites Denken hervorbringen kann, diese Rebellion reicht als Erklärung nicht hin. Kompliziert ist die Quantenmechanik auch, und keiner will sie killen. Was hinzutritt, hinzutreten muss, ist eine seelische Schieflage, sind Minderwertigkeitsgefühle, Neid, Hass u.ä. Nur die erklären die erwähnte Exklusivität des Feindbilds Israel, die besondere Emotionalität und Wirkung in die Breite.

– III –

Wo eine Ideologie die Massen ergreift, taucht folgerichtig die Frage nach der Motivlage auf. Mögen in einer Massenbewegung auch Kenntnismangel, Hörensagen und bloße Nachahmung vorwalten, mag es stets eine Mehrheit von bloß Mitlaufenden geben, die einfach unhinterfragt aufnimmt, was ihr Umfeld anbietet – eine Stimmung breitet sich nie ernstlich aus, wenn sie nicht in vielen Menschen ohnehin vorhandene Saiten anschlägt. Das Corps der passionierten Israelkritiker scheint wie ein prästabiliertes Orchester, das, einer geheimen Partitur folgend, in schönster Harmonie seine Töne auswirft, sobald einer seiner Taktmeister den Stock schwingt. Natürlich existiert diese Partitur nicht; das Orchester funktioniert nur, weil seine Mitglieder nicht wissen, was sie tun. Doch in dem Tun liegen Prinzipien; bevor man die Saiten anschlägt, werden sie gestimmt. Damit ist, worauf ich hinauswill, angedeutet. Es geht mir mehr um die zugrunde liegenden Affekte oder Haltungen als um die genauen Konstruktionen im Kopfe der Betroffenen. Auf der Ebene der Affekte wird die Wahrheit banal, aber im Reich der Ressentiments liegt die Wahrheit immer in den Affekten. Zugleich gestattet mir dieser Zugriff, bestehende Debatten der Forschung liegen zu lassen; man sollte sie wohl kennen, aber sie führen mich, so mein Eindruck, oft eher weg von dem, was ich ermitteln will. Ich rede aus den Erfahrungen mit der europäischen Geschichte des Denkens, der unmittelbaren Anschauung des gesellschaftlichen Treibens und aus dem, was zu verallgemeinern ich mir zutraue. Mag sein, dass ich deswegen zu kurz oder zu weit schieße, dass die Richtung aber stimmt, darauf bestehe ich.

Der Affekt, um den sich im Antizionismus alles gruppiert, ist die Friedenssehnsucht. Die Erkenntnis ist nicht neu, und zu Recht berühmt durch ein großes Wort von Eike Geisel, aber ich denke, sie lässt sich über ihren zeitlichen Bezug hinaus anwenden.[9] Es ist üblich, den Antizionismus aus dem Antisemitismus zu erklären. Lässt sich vielleicht auch umgekehrt der Antisemitismus aus dem Antizionismus verstehen, so wie man eine Pflanze nicht bloß vom Samen, sondern auch von ihrer Blüte her betrachten kann? Vielleicht wird auf der geopolitischen Ebene etwas anschaulich, das sich als immer schon anwesendes Element des Judenhasses verstehen lässt. Die Friedenssehnsucht ist genauer die Forderung nach Frieden hier und jetzt, nach einem bedingungslosen Frieden, in dem eine Mittel-Zweck-Dialektik kategorisch ausgeschlossen bleibt. Nur Frieden kann in diesem Bewusstsein Frieden schaffen. Krieg führt dagegen immer nur zu Krieg. Die so modellierte Brachialutopie kollidiert unvermeidlich mit der Wirklichkeit, die komplexer ist, stets widersprüchlich und unrein. Die Spanne, die sich dabei auftut, muss geschlossen werden, und das geschieht vermittels eines konsensfähigen Objekts, das Schuld auf sich laden kann. Die Wahl ist nicht völlig willkürlich, Island z.B. böte sich nicht unbedingt an, es fehlt die innere Gebrochenheit, die schmutzige Seite der Politik und auch ein wenig die Verwicklung in die Weltkonflikte. Aber die Wahl ist willkürlich in dem Sinne, dass man dem Objekt Verantwortung und Schuld weit über dessen tatsächliche Reichweite hinaus zuschreibt. Dieses Objekt ist im Fall der Friedensfreunde nahezu verlässlich der israelische Staat, und wenn sie ihm ihr dona nobis pacem entgegenschleudern, bedeutet das in der Tat nicht weniger als die Vorstellung, dass es die Aufgabe der Juden sei, der Welt den Frieden zu bringen. Diese Aufgabe haben sie zu erfüllen, indem sie sich selbst aufgeben und die Sicherung ihrer Existenz dem guten Willen ihrer Todfeinde ausliefern. Das, finden die Friedensbewegten, ist nun wirklich nicht zu viel verlangt.[10]

Mittels dieser Haltung oder dieses Affekts lässt sich, wie ich vermute, der Antisemitismus insgesamt verstehen. Doch das ist vor dem Inhalt zunächst ein methodisches Problem. Begriffe werden gebildet, und zwar auf unterschiedlichen Wegen: Man kann von den Phänomenen auf den Begriff oder vom Begriff auf die Phänomene kommen. Von den Phänomenen auf den Begriff bedeutet hier, die verschiedenen historischen Formen des Antisemitismus so weit wie möglich aufs Allgemeine herunter zu bringen. Dieser induktive Weg ist wohl gangbar, aber nur, wenn man in Kauf nimmt, dass der Antisemitismus darin aufhört, als besondere Form erkennbar zu sein. Die Pluralität des erscheinenden Antisemitismus, das Ensemble seiner historischen Formen, ist so vielgestaltig, dass er in der Herstellung des kleinsten gemeinsamen Nenners auf einen abstrakten Grund schrumpft, der den Verdacht zulässt, beliebig anwendbar zu sein. Wir kennen das Problem aus den Deutungen der Psychoanalyse oder zuletzt von Götz Alys Bestimmung des Neids als wesentlichen Affekt im deutschen Antisemitismus.[11] Wo der Judenhass in die ihm zugrunde liegenden Affekte übersetzt ist, besteht die Gefahr seiner instrumentellen Anwendung, weil in dieser Form von ihm abgesehen werden kann. Dennoch ist die Anwendbarkeit nicht beliebig; sie reizt denjenigen, dem danach ist, aber wo sie mit Vernunft gebraucht werden, sind die Bestimmungen beherrschbar. Es ist ein regelrechter Volkssport latenter Antisemiten, vor der beliebigen Anwendbarkeit zu allgemein gefasster Bestimmungen zu warnen. Aber der Antisemitismus hat eine affektive Grundlage, und das ändert sich auch dann nicht, wenn die Bestimmung dieser Grundlage instrumentalisiert wird. Die Frage, die man ernstlich nur stellen kann, ist, ob die ermittelten Begriffe adäquat sind. Manches bei Freud etwa (Kastrationsangst, Moses-Mord, schlecht getaufte Heiden) ist abenteuerlich weit hergeholt, manches bei Sartre ebenso einseitig wie verworren, und der heute sehr geläufige Versuch, den Antisemitismus allgemein als Rassismus zu fassen, tut der Erscheinung nicht nur Gewalt an, sondern ist, wie zur Pointe, gerade bei denen beliebt, die die Instrumentalisierung der zu allgemeinen Bestimmung beklagen, denn dort, wo der Judenhass dem Rassismus untergeordnet wird, scheint er gleichsam unter Kontrolle, und der latente Antisemit kann an sich heruntergucken und beruhigt feststellen, dass er, weil natürlich kein Rassist, folglich auch kein Antisemit sein kann.

Soweit gelangt, ist man längst in einem Zusammenhang, in dem kein Argument mehr zählt; folglich kann dergleichen die Sorge des unaufgeregten Nachdenkens gar nicht sein. Theorien lassen sich nicht durch Bedenken hinsichtlich ihrer Folgen widerlegen; Theorien werden durch bessere Theorien widerlegt. Und somit stellt sich die Frage, ob das gegenteilige Verfahren vielleicht mehr oder besseres leistet. Dies Verfahren, vom Begriff auf die Phänomene zu kommen, hat den genauen Sinn, dass man eine allgemeine Form bestimmt, die die konkreten Erscheinungen möglichst weit abdeckt, aber nicht so, dass der kleinste gemeinsame Nenner erreicht wird. Die Form entwickelt hier gegenüber der Pluralität der Erscheinungen ein Eigenleben. Sie konstruiert eine komplexe Gestalt, die erreicht überhaupt erst von einer Theorie zu reden möglich macht, und die Forderung nach Übereinstimmung mit den Erscheinungen tritt gegenüber der Forderung nach innerer Konsistenz der theoretischen Gestalt, danach, dass sie fass- und argumentierbar sei, etwas zurück. Diesen Weg, um auch hier einen Namen fallen zu lassen, hat etwa Moishe Postone beschritten, und wenn man nicht den Anspruch hat, dass die so ermittelte Form schlechthin alle konkreten Ausprägungen umfassen soll, sondern zufrieden ist, dass sie einer größeren Menge entspricht, dann ist eine so vorgebrachte Definition als allgemeine Form statthaft. Die erste Art der Begriffsbildung, vom Phänomen auf den Begriff, hat also den Vorteil der Allgemeingültigkeit, die zweite, vom Begriff aufs Phänomen, den, theoretisch zugkräftiger sein.

Diese Zugkraft ist so verlockend, dass der zweite Weg, soweit ich sehe, allgemein bevorzugt wird. Natürlich sind die Resultate, die so erzielt werden, verschieden. Auch der Grad ihrer Abstraktion. Soziologische und polit-ökonomische Deutungen des Antisemitismus beruhen, wie ich denke, auf allgemeineren Strukturen. So kann z.B. die geläufige Trennung einer abstrakten und konkreten Seite des Kapitals, die etwa im Antisemitismus der bürgerlichen Mitte oder im klassischen Antizionismus eine ganz untergeordnete Rolle spielt, mit Rücksicht auf den Machiavellismus der »Protokolle« auf eine allgemeinere, politische Form heruntergebrochen werden, die zwischen sittlich fundierter Macht und abstrakter Macht, d.h. Politik als bloßes Verfahren ohne äußere Zwecke, unterscheidet. Joachim Bruhn hat das in einem instruktiven Vortrag mit dem Titel »Die Einsamkeit Theodor Herzls« vorgeführt.[12] Verfolgt man das und andere Formen weiter, so ergibt sich für meine Begriffe eine theoretische Gestalt des Antisemitismus, auf die sich die Mehrheit der Kommentatoren würde einigen können: Antisemitismus ist die Vorstellung einer (1) verborgenen, (2) einheitlichen, (3) zersetzenden und (4) schädlichen Tätigkeit der Juden in den Gemeinschaften, unter denen sie leben. Man muss auf alle Teile der Definition gleiches Gewicht legen. Für den Antisemiten agiert der Jude:

(1) verborgen, also mittels geheimer Kontrolle von weit mehr Bereichen als nur denen, die er offenkundig kontrolliert, woraus abgeleitet wird, dass des Juden Betragen von besonderer Arglist sei und die Bekämpfung seiner Umtriebe daher mit besonderen Mitteln geführt werden müsse;

(2) einheitlich, d.h. als ein in sich nicht widersprüchliches Netzwerk gleichartiger und gleichstrebender Weltregenten – der Jude, schreibt Saul Ascher, gilt dem Antisemiten als Leviathan[13] –, woraus folgt, dass alle gesellschaftlichen Widersprüche, alle Bewegung der Geschichte entweder von den geheimen Regenten inszeniert oder Ausdruck des Widerstands gegen diese sind;

(3) zersetzend, d.h. den Volkskörper zerstörend, indem Teile der Bevölkerung gegeneinander ausgespielt werden und der gesellschaftliche Frieden (von dem die Antisemiten glauben, dass er ohne das Wirken der Juden Bestand haben müsste) zerstört wird;

(4) damit schädlich, und das heißt zugleich: unproduktiv, die Absicht der Juden kann nur eine bösartige sein, da es in ihrem Kampf um die bloße Akkumulation von Macht und Reichtum geht und dieser keinem sittlichen Anliegen folgt[14], woraus sich endlich ergibt, dass ein Frieden mit den Juden nicht möglich ist, diese also bereits dadurch stören, dass sie existieren.

Der Vorteil dieser Bestimmung ist, man kann mit ihr operieren, man kommt zu Erkenntnissen. Zudem ist sie genau gefasst, also mutmaßlich nicht für jegliches partikulares Interesse anwendbar. Ihr Makel ist aber nicht allein, dass sie, wie bemerkt, die Phänomene nicht allesamt abdeckt, sondern auch, dass sie den Ursprung des Judenhasses, die historische Ausgangszeit, nicht adäquat erfasst. Sie ist, mit einem Wort, zu modern. Sie versteht, mit einem anderen Wort, den Antisemitismus zu sehr vom Ende her, wobei dieses Ende das logische und nicht so sehr das zeitliche meint. Das logische Ende besteht in der entfalteten Gestalt, worin der Affekt endgültig zur Ideologie ausgeformt ist und die Welt als ganze erklären zu können beansprucht. Wo die Neurose in die Psychose übergeht, wo aus dem besonderen Ressentiment die ausgeprägte Vorstellung einer Weltverschwörung, eines Finanzjudentums, eines Rassensystems geworden ist, wo es allein noch auf die Innenarchitektur der Weltvorstellung ankommt und die Beziehung zur Wirklichkeit nahezu vollständig abgebrochen ist.

Die Theorie des Antisemitismus tut nicht nur gut daran, der antisemitischen Theorie in dieses Stadium zu folgen, denn dieser Grad der Entfaltung wird offensichtlich von der großen Masse derer, die angelegentlich Judentums und Israels ein Problem mit sich herumtragen, gar nicht erreicht. Das macht den Verkehr zuweilen unergiebig, da weniger geschulten Beobachtern, die sich nicht sicher in der Begriffsgeschichte bewegen, der Weg von der unmittelbaren Beobachtung des lebendigen Ressentiments zur komplex-allgemeinen Form nicht leichtfällt. Sie haben Schwierigkeiten, ihre Augsteine in den »Protokollen« wiederzuerkennen. Und die Augsteine haben es leicht, sich mit dem Hinweis darauf, dass sie ja nie von Weltverschwörungen, raffendem Kapital u.ä. reden, aus der Affäre zu ziehen.

Es scheint mir wichtiger, den Antisemitismus aus dem unmittelbaren Erleben des Subjekts, aus der gegenwärtigen Lage von Gesellschaft und Erfahrung abzuleiten. Zuerst entsteht das Ressentiment, und dann greift es auf das vorhandene Angebot hinzu. Von diesem unmittelbaren Erleben auszugehen wird dabei zugleich, sofern der Begriff adäquat abgeleitet ist, einer allgemeingültigen Bestimmung des innersten Vorgangs näherkommen können. Der Antisemitismus ist nicht der Stein, der gefunden werden muss. Er ist das Wasser, das sich um den Stein legt. Er nimmt jeweils die Form an, die von seiner zeitlichen und örtlichen Umgebung begünstigt wird. Sucht man nach seiner Form, wird man immer den synchronen Abdruck von besonderen gesellschaftlichen Situationen erhalten. Sucht man nach seinem Wesen, wird er seltsam formlos, was seine Bestimmung zu einem unerfreulichen Vorgang macht. Unerfreulich, aber nicht unmöglich.

Springen wir von den Steinen ins Wasser, kommen also von den Phänomenen auf den Begriff. Die historischen Formen des Antisemitismus sind:

(1) der christliche Antijudaismus – wirksam seit der späten Antike und abnehmend in der Moderne, wo er in Stereotypen und weiterhin erzählten Mythen eine Art Nachleben führt, dessen Bedeutung aber für das unmittelbare Empfinden des bürgerlichen Individuums unserer Tage, wie ich vermute, überschätzt wird.

(2) die Xenophobie – in Europa etwa seit dem Mittelalter am Werk, bis in unsere Gegenwart hinein lebendig in der Vorstellung des die Gemeinschaft zersetzenden Volksschädlings.

(3) die Integrations- und Reformdebatte der Aufklärung und neologischen Theologie – die mit dem, was man heute Islamkritik nennt, strukturelle Ähnlichkeiten hat und in deren Verlauf für meine Begriffe erst ab dort von Antisemitismus zu reden geht, wo, wie bei Kant und Fichte, die Juden als unverbesserlich angesehen wurden und ihre Assimilation damit der einzige Ausweg blieb.

(4) das romantische Volksgefühl – das sich in der deutschen Nationalbewegung gegen Napoleon konstituierte, in dem der Antisemitismus zum Schibboleth für den Hass gegen Staat und Gesetz wurde, indem die Angst vor dem politischen Aufstieg der Juden mit der ständischen Angst vor dem modernen Staat und seiner Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz konvergierte; dieses Gefühl kehrt die Stoßrichtung der Aufklärung um: Aus dem Vorwurf, die Juden weigerten sich, in die Mitte der Gesellschaft zu rücken, wird die Angst, die Juden könnten in die Mitte vordringen und diese kontrollieren; der assimilierte Jude wird zum Feindbild, die Judenemanzipation zum Fanal der bonapartistischen Herrschaft, die sich auf die Art eine noblesse impériale als Herrschaftsstütze schaffe.

(5) die hysterische Kapitalismuskritik – in der sich Verlierer am Markt, konkurrierendes nicht-jüdisches Kapital und utopische Sozialisten zusammenfanden, den Aufstieg jüdischer Unternehmer geißelten, Kritik am Kapital auf Kritik an dessen abstrakte Seite reduzierten und diese schließlich im Feindbild des raffenden Juden vergegenständlichten.

(6) Rassismus – der, beginnend bei Chamberlain, die Minderwertigkeit der jüdischen Rasse theoretisch zu untermauern sucht, allerdings keine eigentümliche Quelle des Judenhasses ist, sondern vielmehr eine Erklärungsmode des 19. Jahrhunderts, in die der Judenhass neben anderen Ressentiments integriert wurde.

(7) Islamismus – worin Antisemitismus ein notwendiger Bestandteil ist, indem das narzisstische Selbstverständnis der Umma in der Idee der unlauter tätigen Geheimherrschaft des Weltjudentums eine erträgliche Erklärung der eigenen Unterlegenheit findet.

(8) der sekundäre Antisemitismus – der in Europa allgemein durch das Gefühl des Neids auf den Opferstatus der Juden und in Deutschland fernerhin aus der schuldbelasteten Vergangenheit heraus motiviert ist; in beiden Fällen setzt sich auf das dumpfe Gefühl das Bewusstsein einer moralischen Überlegenheit: Das Ideal des Opfers schlägt giftig auf die Wirklichkeit des Opfers zurück; man glaubt, im Gegensatz zu den Juden die Vergangenheit bewältigt zu haben, und ist sich ebenso sicher, dass man an ihrer Stelle verantwortungsvoller mit der geneideten Opferrolle umginge.

(9) antiimperialistischer Antizionismus – der sich an der Existenz eines jüdischen Nationalstaats stört, die Utopie des Friedens absolut setzt und Partei für die vermeintlich schwächere arabische Nationalbewegung ergreift.

Schon dieser Katalog, von dem ich vermute, dass er sich noch verfeinern und erweitern ließe, zeigt, dass es nicht möglich ist, eine spezifische Form des Antisemitismus zu finden. Was diesen unterschiedlichen historischen Formen prima vista gemein ist, das wäre der Hass gegen das Andere, aber diese abstrakte Regung ist überhaupt jeder Ausprägung von Feindseligkeit gegen Menschen und vor allem Menschengruppen, jeder Art biologisch, völkisch oder sozial begründeten Ressentiments eigen. Man kann einen Käse nicht darin bestimmen, dass er ein Lebensmittel ist. Ein wenig genauer wird man selbst auf der Ebene der Affekte werden müssen. Es gilt, eine Seelenlage zu bestimmen, die so allgemein ist, dass sie als roter Faden des Judenhasses durch die Zeiten hindurch zu erkennen sei, doch nicht so allgemein, dass sie auch auf alle anderen möglichen Ressentiments anwendbar wäre.

Hilfreich ist hier vielleicht, an den historischen Quellpunkt zurückzugehen. Das Andere, das die Juden verkörpern, unterscheidet sich vom Andern anderer Anderer dadurch, dass eine besondere Perfidie darin angenommen wird. Der besondere Eifer, das besondere Gift, das sich gegen Juden selbst dann noch richtet, wenn die nichts tun als was jeder tut (z.B. einen Staat gründen und dessen Existenz verteidigen), ist nur erklärbar als Akkumulation von Hass.

Warum zieht gerade der Jude ihn auf sich? Ebenso banal wie elementar ist die Einsicht, dass Antisemitismus wie alle Ressentiments auf Gewohnheiten beruht. Es ist praktisch, auf einen vorhandenen Vorrat von Stereotypen und Mythen zuzugreifen. Das erklärt noch nicht den Ursprung, aber das Anwachsen und die Zählebigkeit der Fixierung auf die Juden. Es ist immer schwer anzugeben, wo genau die Quelle eines Stroms entspringt. Zuweilen gibt es mehrere, und manche laufen eine Weile lang unterirdisch. Sattsam bekannt sind die Wurzeln des Antisemitismus im Christentum, das mit heftigen Reflexen reagiert, um sich als Weltreligion zu behaupten. Elemente wie das Auserwählte Volk, der Christusmord, die Nichtanerkennung der Auferstehung Christi, die Störung somit der Hoffnung des Christenmenschen, Gott werden zu können – all das, meistenteils von Freud in seinem »Mann Moses« addiert, lässt sich im Gedanken einer besonderen Konkurrenz zweier eng beieinander liegender Religionen als Narzissmus der kleinen Unterschiede fassen, den die Juden vor allem deswegen nicht in gleicher Weise erwidern, weil sie geschichtlich die Arrivierten sind.

Doch das kann kaum befriedigen. So gefasst wirkt das Verhältnis wie eine Übersetzung des österreichisch-deutschen ins Theologische. Es liefert dem Antisemitismus daher eher das Material als selbst schon dessen eigentümlicher Ursprung zu sein. Zur blank religiösen Ausgangslage, will ich sagen, muss eine gesellschaftliche Kollision treten. Konkurrenz mit einer fernen Religion kann schwerlich mit starken Gefühlen aufgeladen werden, sie bleibt immer abstrakt. Der Antisemitismus musste im Alltag als Xenophobie fühlbar werden und in diesen Erfahrungen seine Anlässe finden. Das kam erst durch die Jahrhunderte der Diaspora allmählich in Gang. Der Jude etabliert sich als europäisches Phänomen, und das ursprüngliche Verhältnis dreht sich endlich in der Alltagserfahrung um. Die vormaligen Aufsteiger, die Christen, fühlen sich als die Arrivierten und vergessen doch nie ganz, dass sie die Aufsteiger von gestern sind.[15] Der Antisemitismus dann nimmt in dem Maße zu, in dem sich der Jude dem Untergang widersetzt, d.h., seine Existenz gegen Assimilation und Verfolgung behauptet.

In der Tat griff das Ressentiment einfach auf die Juden zu, weil sie da waren. Sie standen in Europa als einzige größere und erkennbare Religionsgemeinschaft, die nicht dem Christentum angehörte. Ihre Außenseiterstellung wurde durch diese Singularität erst möglich. Sie waren zu fremd, um als Größe, und zu groß, um als Fremde akzeptiert werden zu können. So wurden sie in eine Sonderrolle gedrängt, und diese war zugleich, was man ihnen übelnahm. Die Diaspora ist die ursprüngliche Akkumulation des Judenhasses. Der effektive Widerstand eines verstreuten, zwischen anderen Völkern herumgeisternden Volks gegen die eigene Auflösung ist eine Jahrhunderte währende, ungeheuerliche Provokation[16], die sich zudem anbot, gesellschaftlich bedingten Unmut (über Armut, Hunger, Pest, Kriege usw.) umzulenken. Weil die Juden sich nicht von den Völkern Europas aufsaugen ließen und sich vermittels ihres kulturellen Isolationismus gegen die Assimilation zu wehren vermochten, entstand eine Zuschreibung von Macht, die in letzter Konsequenz die Vorstellung eines Weltjudentums hervorbringen musste. Sie gingen nicht unter, also musste, so schloss man, ihre Macht gigantisch sein, mussten sie, so schloss man weiter, die Schuld an all den erbarmungslosen Seiten der Gesellschaft tragen. Es ist jenes Da sind wir aber immer noch, das dem Antisemiten keine Ruhe lässt, das dafür sorgt, dass sich der Unmut gegen das Jüdische durch die Zeiten fortspinnt und sich stets neue Ausdrucksformen und Mittel sucht.

Mit dem Ablauf der Jahrhunderte geht das angstvolle Erstaunen über ihre Resistenz in Angst vorm allmählichen Aufstieg der Juden über. Nicht-Untergang und Aufstieg sind für die Angst dasselbe. Zunächst wächst unter feudalen Verhältnissen die wirtschaftliche Stärke eines erkennbar großen Teils der Juden in der Subkultur der reinen Zirkulationssphäre heran, dem Zins- und Wuchersektor, was natürlich damit zu tun hat, dass Zunft und Gilde als traditionelle, durch außerökonomische Restriktionen geregelte Produktionsweisen den Juden versperrt waren. Anders gesagt: Diejenigen Bereiche, in denen der Kapitalismus sich von Beginn an ungehemmt entwickeln konnte, waren ausgerechnet jene, in denen Juden partizipieren und das Bild deutlich mitbestimmen durften. Prunk und Tradition in Zunft, Gilde und Adel mochten die Beteiligten lange Zeit blenden; sie ließen jedenfalls die Stärke des sich etablierenden Kapitals in den unehrbaren Berufen des Geldhandels beinahe unmerklich wachsen, und das Erschrecken über die im Verborgenen herangewachsene neue Kraft muss nach dem Wegfall der äußerlichen Restriktionen in Warenhandel, Handwerk und Grundbesitz groß gewesen sein. Aus dem reichen Wucherer, der gleichwohl im Ghetto zu bleiben hatte, wurde der Bankier, der das Patrizierhaus in der Innenstadt bezieht und die umliegenden Manufakturen aufkauft.

Mit der Emanzipationsbewegung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, angeleitet von Joseph II., Napoleon Bonaparte, Hardenberg, Metternich u.a., tritt zur ökonomischen Stärke allmählich der politische Aufstieg hinzu. Die Angst vor dem Geldjuden wird ergänzt durch die Angst vor dem Hofjuden, wir kennen das als Personalunion aus der Sage vom Jud Süß Oppenheimer. Die Emanzipation war zugleich die Voraussetzung für eine verhältnismäßig starke Präsenz von Juden im Milieu der Intelligenz und der Künste. Der Intrigant bei Hofe, der intellektuelle Volkszersetzer, der habgierige Wucherer oder Bankier, der seine Mitmenschen in die Armut treibt. – Es sind die Erscheinungsformen der Macht, die im Aufstieg der Juden gefürchtet werden, und Macht wird im gemeinen Menschenverstande aller Regel nach als Negation des Friedens gesehen, während ihre produktive Seite, nämlich Frieden auch erhalten zu können, ausgeblendet bleibt.

Im Kapitalismus, im Feudalismus und in minderem Grad auch im absolutistischen Staatsverhältnis erscheint das alltägliche Leben nicht als friedlich; die Bedrohung der eigenen Existenz ist dauerhaft und allgegenwärtig. Und wie schon am Antizionismus und seinem Weltfrieden festgestellt, sucht sich die Sehnsucht nach gesellschaftlichem Frieden – ebenfalls eine zutiefst menschliche und sympathische Regung – dort, wo das Ganze nicht begriffen werden kann, das konsensfähige Objekt, auf das Schuld abzuladen geht. Der Jude stört den gedachten Frieden hierbei auf eine besondere Weise. Unter feudalen Bedingungen konnte das Ständesystem wie ein Halt erscheinen, der den am Elend leidenden Subjekten wenigstens das Gefühl einer festen Ordnung gab. Die Möglichkeiten des Aufstiegs waren eingeschränkt, die des Abstiegs damit aber auch. Wenn schon alles elend war, so blieb es doch zu berechnen. In der existentiellen Konkurrenz des Kapitalismus, in der sich täglich alles ändern kann, bleibt die Vorstellung hilfreich, es ruhe in dem Ganzen dennoch eine natürlich Ordnung. Sie beruhigt das dem Markt ausgelieferte Subjekt, wird aber durch die Alltagserfahrung immer wieder erschüttert. Der Ärger über den eigenen Ruin oder die Angst vor dem Ruin bezieht sich dann wie natürlich auf eine besondere Figur: den sozialen Aufsteiger. Und diese Figur fand im Alltagsbewusstsein des sich ungehemmt entfaltenden Kapitalismus gleichfalls wie natürlich im Juden ihr lebendiges Bild.

Antisemitismus wird traditionell von verschiedenen ideologischen Richtungen gewissen bereits bekannten Formen des Ressentiments zugeordnet. Eher sozial orientierte Denker sehen in ihm gern eine Spielart des Rassismus, worin der Gedanke der Abwertung im Zentrum steht und der sich in der Hauptsache gegen Schwächere richtet. Eher liberal orientierte Denker identifizieren den Judenhass als Ausformung des Neids, also des Ressentiments gegenüber einem Stärkeren, womit er Phänomenen wie der Frankophobie, Russophobie, dem Antiamerikanismus[17] oder allgemein dem Hass gegen die Bourgeoisie oder den alten Adel beigeordnet wird. Aber der Jude ist in der Vorstellung der Antisemiten weder das eine noch das andere. Er ist nicht einfach stark oder einfach schwach. Er ist ein Schwacher, der die Dreistigkeit besitzt, nicht schwach geblieben zu sein, ein Getriebener, der sich zu wehren begann, ein Opfer, das zum Täter wurde. Der sich schließlich sogar, verspätet und gegen alle Regeln – denn das ist, was sie glauben: dass es für die Gründung von Staaten Regeln gibt –, einen nationale Heimstatt erschacherte. Der den Frieden stört. Einen Frieden, der nur in der Erinnerung der Gestörten existiert. Diese mittlere Stellung zwischen stark und schwach, Opfer und Täter, Vergangenheit und Gegenwart ist nachgerade ideal, die Bedürfnisse des lebendigen Ressentiments zu bedienen. Ideologien des blanken Neids können nicht dieselbe Energie freisetzen, da sich das antisemitische Gemüt vor allem am Aufstieg des bösartigen Anderen entrüstet und es schwerer fällt, über das zu zürnen, was immer schon da war. Der Hass gegen schwache Gruppen wiederum reicht nicht, die sämtlichen Weltübel zu erklären, da schwache Gruppen nicht sonderlich geeignet sind, als Urheber alles Übels und also als Weltregenten gesehen zu werden.

Es ist die Bewegung, die den Judenhass in Bewegung bringt. Und Frieden ist nur ein anderes Wort für Stillstand. In der Angst vor der Störung jener gedachten Naturordnung, von der die Rede war, jener phantasierten Metaphysik der Sitten, von der man zwar keinen Begriff hat, die man sich aber herbeisehnt, ist allgemein die Angst vor gesellschaftlicher Veränderung enthalten. Der Aufsteiger erinnert daran, dass es Veränderung gibt und dass die gewünschte Ordnung bloß Illusion ist. Auf das nackte Gefühl des Neids setzt sich die moralische Entrüstung; der Affekt wird durch die Bildung eines ideologischen Überbaus kaschiert und rationalisiert. Aber dieser Überbau ist mehr als bloß Täuschung, er ist selbst der tiefste Ausdruck jener Haltung, von der wir hier reden. Antisemiten sind, so merkwürdig das klingt, hochmoralische Wesen. Hochmoralische Wesen mit einem Dachschaden. Die Geschichte des Holocausts verdeckt oftmals diesen Umstand, dass die judenfeindlichen Massen sich lange vor ihm schon als Aufstand der Anständigen empfunden haben. Dass sie, mit anderen Worten, aus der Mitte der Gesellschaft kamen. Und selbst, als sie zur Bestie wurden, glaubten sie von sich, das tun zu müssen, um die Welt zu bessern, und selbst in ihrem bestialischen Tun noch wollten sie, wie Himmler in den Posener Reden kundgab, anständig geblieben sein. Ihr Dachschaden, will ich sagen, liegt zuerst darin, nicht erkennen zu können, woran sie tatsächlich leiden, und dann auch in der Unfähigkeit, das eigene Treiben zu bremsen. Den Antisemiten bleiben also gleich beide Inschriften von Delphi ein ewiges Rätsel.

Nächsthin ist der moralische Impuls, der in der Vorstellung einer Metaphysik des Sittlichen liegt, auch praktisch, weil man sich auf die Art etwas weniger beteiligt, etwas weniger schuldig am gesellschaftlichen Unfrieden fühlen kann. Das bürgerliche Subjekt empfindet ja nicht nur die Angst, verdrängt zu werden, es fühlt auch Schuld, wo es selbst verdrängen muss. So hilft die Vorstellung einer dem gesellschaftlichen Verkehr objektiv innewohnenden Moral, die zwischen legitimen und illegitimen Arten der Verdrängung unterscheidet. Die eine gilt als redlich, fleißig und authentisch, die andere als aggressiv, parasitär und verschlagen. Als einerseits Beteiligter am gesellschaftlichen Krieg aller gegen aller kann sich das Subjekt folglich anderseits im Bereich des Ideellen davon distanzieren. Erst so, indem man sich einredet, den Kampf als solchen zu verabscheuen, an dem man in Wahrheit doch bloß auszusetzen hat, dass man ihn nicht gewinnt bzw. ihn jederzeit auch verlieren könnte, ermöglicht sich die Einbildung moralischer Erhabenheit. Da die Metaphysik aber affirmativ gefasst ist, entschuldet sie das gesellschaftliche Gesamtverhältnis und muss die Schuld zwingend in einem partikularen Objekt suchen. Antisemitismus ist die Romantik des Weltfriedens, die dem Juden den Vorwurf macht, etwas zu zerstören, das nie, und besonders nicht für ihn, existiert hat. Er ist die Bockigkeit kleiner Kinder, denen der Hals vom Pfeffer brennt, den der Klassenschwächste auf das Pausenbrot gestreut hatte, bevor sie es ihm, wieder einmal, weggenommen haben. So dürr, so abgezogen, so einfach und belanglos ist das alles, wenn man das Konkret-Historische und seine ideologischen Konstruktionen hinter sich gelassen hat und auf der Ebene der Affekte ins Auge des Hurrikans schaut. Die Frage der Judenhasser, an der sich all die Wut entzündet und die zu verdecken all der ideologische Müll produziert wird, lautet: Dürfen die das?

Und, dürfen sies? Diese Frage zielt auf Legitimität, und darin endlich wird sichtbar, warum der Antizionismus durchaus als ein Schlüssel fürs Verständnis des Antisemitismus genommen werden kann. Israel, sagt Poliakov bekanntlich, ist der Jude unter den Staaten. Das ist evident, aber es wäre selbst dann so, wenn nicht ein Jude in diesem Staat wohnte oder an seiner Gründung beteiligt gewesen wäre. Denn Israel ist der Aufsteiger unter den Staaten.

Kein Staat ist ohne Gewaltgeschichte. Keine Politik ohne schmutzige Seite. Wer gegen Israel und seine Geschichte exklusiv das Wort richtet, dem bleibt, will er sich nicht als willkürlich zu erkennen geben, nur die eine Möglichkeit, zwischen einer legitimen und einer nicht legitimen Gewalt zu unterscheiden. Also der Wechsel von der spontanen zur systemischen Irrationalität, was in diesem Zusammenhang auch nicht unbedingt ein Lichtblick ist. Bis in die Rhetorik hinein sind die Spuren dieser Verschiebung deutlich. Man muss dazu nicht einmal die auch heute noch geläufige, gleichwohl nicht mehr dominante Figur vom jüdischen Unvolk, vom künstlichen Staat, vom Stachel im Fleisch des Nahen Ostens bemühen, in der ja die jüdische Besiedlung der Region auf denkbar tumbste Weise als anorganisch, nicht naturgemäß, als den Blut-und-Boden-Katechismus verletztend delegitimiert wird. Man muss auch nicht die Idee der jüdischen Weltherrschaft – immerhin die in der islamischen Welt vorherrschende Darstellungsform der antisemitischen Seelenlage – heranziehen, worin ebenfalls das Unlautere, Heimtückische, Unmännliche, Ehrlose zum Ausdruck gebracht ist. Es reicht ziemlich aus, auf das ungebremste Empören hinzuweisen, das im Takt der nahöstlichen Ereignisse aufkommt und sich am Wortvorrat des Antizionismus bedient. Israel führt nie einfach Kriege, sondern stets völkerrechtswidrige Kriege; es hält keine Seeblockaden aufrecht, sondern stets völkerrechtswidrige Seeblockaden; es baut keine Siedlungen, sondern stets illegale Siedlungen. Die durchgängige Präsenz dieser Figur des Illegalen bei Leuten, die mit den Bestimmungen des Völkerrechts ebenso willkürlich umspringen[18], wie sie keine Vorstellung von der Irrationalität dieses Rechts zu haben scheinen – das ja im eigentlichen Sinne gar kein Recht und in der Tat nichts anders ist als eine gesetzte, Tatsache gewordene Metaphysik der Sitten, die Illusion einer mehr als bloß gesetzten, objektiven Ordnung in einem Zustand, der tatsächlich bloß ein Naturzustand, also anarchisch und ohne Sinn, ist –, diese durchgängige Präsenz jedenfalls lässt sich nur vor dem Hintergrund jenes Zorns gegen den Aufsteiger und Friedensstörer, als Rationalisierung dieses Zorns nämlich erklären.

Indem Israel und nur Israel als besonderes Beispiel hervorgenommen wird, indem man es durchweg mit dem Makel der Illegalität versieht, geschieht allerdings nicht bloß das berüchtigte Messen mit zweierlei Maß; es wird – man mag sich erinnern an das eingangs behandelte Rückkehrrecht – implizit die Behauptung aufgestellt, dass die Geschichte Israels, anders als die der europäischen Nationalstaaten, nicht Geschichte, sondern immer noch Gegenwart ist. Es wird getan, als sei daran zu operieren, als könne, müsse, sollte das Rad noch einmal zurückgedreht werden. Vielleicht ist das überhaupt das allergespenstischste an jenem Gefieber um den Nahen Osten. Dass man sich – ganz unabhängig davon, dass die jüdischen Wurzeln in der Levante und die auch während der Diaspora gegebene Kontinuität jüdischer Siedlung dort ignoriert werden – bis heute stellt, als seien die Juden in Israel/Palästina bloße Ankömmlinge, als würden nicht die stattgehabten Einwanderungswellen seit 1882 ebenso zu den geschichtlichen Tatsachen, zu den vielbeschworenen Wurzeln gehören, die man gleichsam zu respektieren hätte wie die lange Geschichte der vermeintlich autochthonen Bevölkerung. Die man nicht auszutilgen, sondern mit denen man umzugehen hat. Israel nicht in die Geschichte zu entlassen, ihm nichts Vergangenes zuzubilligen, ist die passende Performance europäischer Volksfreunde zum Unterrichtsstoff im Gaza, wo bereits die Kinder lernen, dass Israel nicht nur nicht existieren soll, sondern simpel nicht existiert. Und es gleicht, da es von allerhand Versicherungen idealer Beweggründe begleitet ist, auf brechreizende Weise dem Versuch eines exzentrischen Chirurgen, eine Wunde offenzuhalten, weil er mit dem Verlauf der heilenden Narbe nicht zufrieden ist.

Dabei stünde ein solches Bestreben dem Bedürfnis, das in der Romantik des Weltfriedens zum Ausdruck kommt, eigentlich entgegen. Der Wunsch, sich seiner Lebensumstände, global und privat, ein für allemal sicher sein zu können, sollte wohl Raum für Verständnis der Nöte Anderer schaffen können. Die Unfähigkeit allerdings, diese Nöte an sich selbst zu erkennen, der Zwang, diese Nöte auf ein Objekt zu projizieren, die Unfähigkeit ferner, mit den Mitteln der Vernunft in das Nielösbare zu resignieren, schafft jenen destruktiven Impuls der Friedenssehnsucht, der ihr eigenes Wollen immer wieder ins Gegenteil verkehrt. Obwohl er auch darin nie seinen Frieden finden wird, erlangt der Antisemit, indem er dem Juden gleichfalls den Frieden verweigert, eine Art Lösung. Unser Chirurg krankt nicht an Ehrgeiz, er ist, ohne es zu wissen, selbst ein Wundkranker, der sich weniger zu bluten dünkt, wenn ein an Anderer neben ihm ebenfalls blutet.

[November 2012 | April 2015]

 

Noten

[1] Staaten aber sind, wo sie gebildet werden, immer künstlich. Das gilt von den reinen Nationalstaaten (wie Frankreich, Polen und Deutschland) genauso wie von den synthetischen (etwa Belgien und die USA oder, historisch, Jugoslawien und die Sowjetunion). Das völkische Denken operiert dagegen mit einem organischen Volksbegriff, mit der realiter unsinnigen, ideologisch dafür um so stärker aufgeladenen Vorstellung des natürlichen Rechts eines Volk genannten Subjekts auf ein Stück Boden. Dieses Recht, so argumentiert man, besitze das »Palästinensische Volk« vor den Juden, da die Juden gewaltsam in ein Gebiet gedrungen seien, in dem sie keine Geschichte (mehr) haben. Ganz abgesehen davon, dass das nicht stimmt, weil die Besiedlung der Region durch die Juden nie vollständig abgerissen ist (und noch heute etwa die Hälfte der in Israel lebenden Juden Nachkommen des alten Jischuw sind oder aus den angrenzenden Regionen stammen), ließe sich diese Argumentation doch, wenn man sie akzeptiert, ebenso gut gegen die Araber richten. Auch die sind schließlich, und übrigens lange nach den Juden, einmal in die Region gekommen und haben sich ihrer bemächtigt. – Das geläufige Argument manifester Antizionisten, dass die Juden infolge der Diaspora kein Volk seien und also nie einen Anspruch auf ein eigenes Land hätten erheben dürfen, sollte allerdings in der nachvollziehbaren Absicht, diesem zweckgebunden und willkürlichen Diktum etwas entgegenzusetzen, nicht reproduziert werden. Das geschieht aber dort, wo vom erfundenen Volk der Palästinenser geredet wird. Richtig ist, darauf hinzuweisen, dass die Verwandlung der Araber in die Palästinenser Ende der sechziger Jahre ein doppelter Propagandakniff Arafats war. Erstens sollte die arabische Bevölkerungsgruppe mit der Region verschmolzen werden, indem nicht mehr zwischen Juden und Arabern in Palästina, sondern zwischen Palästinensern und Juden in Palästina unterschieden wurde. Bereits im Namen also wurde der Vorrang beim Anspruch aufs Land kenntlich gemacht. Zweitens ging es darum, die palästinensischen Araber östlich des Jordan, die ihren eigenen Nationalstaat schon 1923 (und zwar fast 80% des ursprünglichen Mandatsgebietes) erhalten hatten, von denen westlich des Jordans zu trennen, weil sich natürlich Terror im Namen eines Volks, das nach wie vor keinen eigenen Nationalstaat hat, leichter propagieren lässt als im Namen einer Bevölkerungsgruppe, die bereits einen Staat bekommen hat und nun einen zweiten fordert. Der Teilungsplan von 1947 bezog sich von vornherein auf die verbleibenden 20% Prozent des historischen Palästina, und noch die Hälfte dieser 20% waren in der Frage, wie viel an die jüdische Seite abzutreten sei, der Arabischen Liga genau 10% zu viel. Dennoch muss das Argument der erfundenen Palästinenser auf seine Struktur hin betrachtet abgelehnt werden. Es befördert völkisches Denken, indem es einer Gruppe einen künstlichen Charakter unterstellt, ganz so, als ob nicht letztlich jede Gruppe, die sich Volk nennt, eine künstliche Bildung wäre, eine kollektive Selbstzuschreibung, die aus der Gewohnheit (Sprache, Bräuche, Religionen, Genealogien oder territoriale Bindung) ihre Rechtfertigung zieht. Das innere Bekenntnis des Völkischen beruht auf der Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Völkern, deren Hintergrund die Vorstellung einer irgendwie höheren, legaleren, echteren Weise, Volk zu sein, bildet. Der Hinweis auf die Erfindung der Palästinenser kann also vernünftigerweise nur dem Nachweis dienen, dass die üblichen doppelten Standards angewendet werden, wo den Juden einerseits ein künstlicher Charakter vorgeworfen, den Palästinensern anderseits aber ein Naturcharakter verliehen wird. Die Weltgeschichte leistet sich gelegentlich ironische Wendungen. Hier insofern, als sich ohne jede Polemik sagen lässt, dass die israelische Besatzung der Geburtshelfer des palästinensischen Volks war. Ihr erst haben die Palästinenser zu danken, sich als kollektives Ich darstellen zu können. Zuvor wurden die Araber der Region Palästina nicht unterschieden, weder im Osmanischen Reich noch unter den Briten noch in den Besatzungen Jordaniens und Ägyptens.

[2] Die Siedlungsfrage ist nicht der Kern des Konflikts. Sie erschwert praktisch die Lösung, steht aber prinzipiell einer Zweistaatenlösung nicht im Weg. Mit einer Einigung auf verbindliche und unantastbare Grenzen, erledigte sie sich von selbst. Die Siedler hätten dann die Wahl, entweder nach Israel zurückzukehren oder in Palästina unter dem Schutz der dortigen Regierung zu leben. Die Behandlung der Frage allerdings ist kompliziert, weil sie von allen Seiten her mit vertrackten Ideologien und Absichten gefüttert ist. In der geläufigen Kritik am Siedlungsbau steckt die Vorstellung, dass ein souveräner arabischer Staat Palästina selbstverständlich keine jüdische Minderheit dulden kann (während die Duldung einer arabischen Minderheit in Israel ebenso selbstverständlich erwartet wird). Die Kritik an dieser Kritik übersieht dagegen, dass es nicht das Ziel des zionistischen Projekts sein kann, Juden hinter den eigenen Landesgrenzen in einer durchaus nicht freundlichen Region zurückzulassen. Das Ansinnen der Siedlungsbewegung selbst ist durchaus expansiv: Gott habe ihnen das Land versprochen, daher haben sie ein Recht, dort zu siedeln. Hiervon zu unterscheiden wäre nach meiner Vermutung die Absicht der säkularen Rechten, für die die Schaffung von Siedlungen ein Versuch zu sein scheint, die Ausgangslage der Verhandlungen zu ändern. Der immer wieder an- und abgesetzte Siedlungsbau dient als Druckmittel, die Aufgabe von Siedlungen oder der Gebietstausch wird gegenständlich im Sinne eines Quidproquos: Was bekomme ich, wenn ich diese Siedlung auflöse? Konstruktiv ist das durchaus nicht, und ganz sicher eine eklatante Perversion der Land-für-Frieden-Formel. Dennoch zeichnet sich im Vergleich zum Rückkehrrecht ein weiteres Mal jene Asymmetrie des Konflikts ab (auf die ich gleich noch zu sprechen kommen werde): Die israelische Regierung benutzt Land, die palästinensische Vertretung Menschen als Verhandlungsmasse.

[3] Sicher hängt die ideologische Asymmetrie auch mit der Asymmetrie der Kräfte zusammen. Der Schwächere ist oft der Radikalere; er muss seine Unterlegenheit kompensieren und zu anderen Mitteln greifen. Dennoch ist der Unterschied zwischen eine Ideologie der Selbstbehauptung und einer der Eliminierung nicht bloß ein gradueller, und das Hervorbringen einer Ideologie der Vernichtung kann durch genau gar keine Umstände entschuldigt werden. Die sittlichen Zwecke müssen schwerer wiegen als die Berücksichtigung der vorhandenen Kräfte. Schwach zu sein ist keine sittliche Leistung.

[4] So etwa, stellvertretend für diese Richtung – und übrigens den revisionistischen Flügel des Zionismus als bloß reaktiv umdeutend –, Alan Posener: »Es war der Revisionist Wladimir Zeev Jabotinsky, der den erbitterten Widerstand der Araber gegen eine jüdische Besiedlung Palästinas ebenso vorhersah wie die Vernichtung der osteuropäischen Juden und darum die Notwendigkeit einer jüdischen Armee und einer massiven jüdischen Einwanderung nach Palästina betonte. Jabotinsky und seine Schüler – wie etwa Menachim Begin, der den Likud gründete – sind nicht die sympathischsten Gestalten des Zionismus. Aber Realisten sind selten sympathische Leute.« (Alan Posener: Was, wenn die Araber unseren Frieden nicht wollen? In: Die Welt v. 13. Januar 2013).

[5] Die Dhimma, der Schutzvertrag, unter den die Juden als Volk des Buches im islamisch dominierten Raum historisch gestellt waren, ist nebenbei bemerkt nichts anderes als eine Rechtsform der Apartheid, da die Völker des Buches in ihm als rechtlich benachteiligt fixiert waren. Das »Schutz« in »Schutzvertrag« hat also dieselbe Bedeutung wie in »Schutzgeld«. Man sollte das erwähnen, wenn – wie durch Christoph Hörstel zum Al-Quds-Tag am 18. August 2012 in Berlin – die Forderung eines solchen Zustandes aus dem Mund von Leuten kommt, die keine Gelegenheit auslassen, Israel Apartheid vorzuwerfen.

[6] In diesem Zusammenhang scheint mir wichtig, den politischen Antizionismus abzugrenzen einerseits vom religiösen Antizionismus des orthodoxen Judentums und anderseits vom sogenannten Postzionismus in der modernen israelischen Gesellschaft. Der Postzionismus ist eine heterogene Strömung, deren Vertreter nicht durchweg denselben Antrieb haben wie die der antizionistischen Internationale. Wo in der Argumentation zwischen der historischen Notwendigkeit des Zionismus und seiner gegenwärtigen Rolle unterschieden wird, liegt bereits eine wesentliche Differenz zum Antizionismus vor, die man auch dann anerkennen sollte, wenn man das Postulat, Israel müsse sich heute vom Zionismus lösen, für falsch hält. Die Ablehnung Israels durch streng messianistische, orthodoxe Strömungen hat wiederum religiöse und zumindest nicht zwingend auch politische Motive. Im einzelnen Fall kann das zusammenkommen, aber die Strömungen selbst sollte man auseinanderhalten. Der Antizionismus, wie ich ihn in diesem Text behandle und generell meine, wenn ich ohne Zusatz Antizionismus sage, ist eine politische Strömung, deren Anfang in der unmittelbaren Reaktion der antisemitischen Subkultur auf den Baseler Zionistenkongress (1897) gesehen werden kann. Das erste bekannte Werk dieser Strömung sind die »Protokolle der Weisen von Zion« (1903).

[7] Im antizionistischen Zugriff erscheint jegliche Eigenschaft Israels als Element seines Kolonialismus bzw. Imperialismus und kann nicht für sich begriffen werden. Dass Israel z.B. der einzige Staat im Nahen Osten ist, in denen Homosexuelle nicht verfolgt werden, hat ihm den Vorwurf des Pinkwashing eingebracht (bei Butler: Homonationalismus). Anstatt das sittliche Element eines Staates in die Bewertung einfließen zu lassen, wird es, da die Bewertung Israels immer schon feststeht, gedanklich isoliert als perfide Strategie der Ablenkung von den Zuständen der Besatzung. Jede negative Eigenschaft wird hingegen umgehend in die Bewertung integriert, da sie die feststehende Tendenz des Urteils verstärkt. Die negativen Eigenschaften sind dem Staat wesentlich, die positiven akzidentiell. Ein älteres, beinahe klassisches Beispiel wäre hingegen die stiefmütterliche Behandlung der Sprachgeschichte Israels. Die vorsätzliche und geplante Einrichtung einer modernen Sprache, ihre vorgebildete Theorie und die Maßnahmen ihrer praktischen Umsetzung mit dem endlichen Ziel, sie lebendig zu machen, ist ein in der Geschichte der Weltsprachen beispielloser Prozess, der ganze Heerscharen von Historikern und Linguisten begeistern und beschäftigen müsste. Der Antizionist jedoch sieht in diesem gesellschaftlichen Experiment nichts anderes als ein die organische Ordnung verletzendes Mittel der als kolonialistisch gedeuteten Siedlungsbewegung, wie er übrigens auch im Fruchtbarmachen der erworbenen Landstriche, in den oft kommunistisch organisierten Kibbuzim und im Trockenlegen der Malariasümpfe nichts als Varianten aggressiver Landnahme zu sehen vermag.

[8] Im Kompost der antizionistischen Argumente findet sich ein zur Rechtfertigung dieser Haltung gelegentlich herangezogenes Argument, das den Juden die Eigenschaft abspricht, ein Volk zu sein. Während der klassische Antizionismus (Rosenberg u.a.) die Juden als Nichtvolk sah, werden die Juden hier nicht als Volk gesehen; sie seien – sagt man, ohne erklären zu können, weshalb säkulare Juden dann weiterhin dazugerechnet werden –, eine Religionsgemeinschaft. Das ist schon deswegen willkürlich, weil im Fall der Juden sich Religion und Volk, vermittelt durch das Dogma der Auserwähltheit, einfach decken. Die Herleitung aber ist gerade bezogen auf das, was in diesem Text gezeigt werden soll, aufschlussreich. Der Begriff des Volks ist kategorisch unscharf, weil er im Reich der Erscheinungen gebildet wird und dort bleiben muss. Ein Volk – wie schon in Anm. 1 erwähnt – ist die Bestimmung einer erkennbaren Gruppe in Unterscheidung von anderen Gruppen, und zwar auf Grundlage gesellschaftlicher Gewohnheiten. Diese Gewohnheiten können aus Sprache, Religion, Brauchtum, territorialer Integrität oder einem gemeinsamen Mythos kommen, und jede dieser Wurzeln kann wegfallen, solange nur eine von ihnen gegeben ist. In der Tat stellt sich das geschichtliche Phänomen Volk vor allem als Selbstzuschreibung dar, indem eine Gruppe sich eine längere Zeit als Volk ausgibt. Wofür sie natürlich Gründe im Gesellschaftlichen und der Geschichte nicht nur heranziehen muss, sondern auch nur dort, wo eine gewisse Kontinuität in den Gewohnheiten besteht, überhaupt das Bedürfnis einer Gruppe aufkommen kann, sich als Volk zu verstehen. Mehr als Gewohnheit und Selbstzuschreibung steckt im Begriff des Volkes nicht; er ist von Beginn an relativ, unscharf und vom Standort abhängig. Das eifrige Debattieren darüber, ob den Juden die Eigenschaft, Volk zu sein, zukomme, verrät somit einen gedanklichen Hintergrund, den ich am Ende dieses Textes ausführen werde: die zwanghafte Objektivierung des in der Pluralität aufgelösten Subjektiven und damit den Bezug auf ein nicht klar definiertes metaphysisches Rechtsprinzip. Der Antizionist, soweit er sich dieses Arguments bedient, beträgt sich, als ob irgendwo ein objektives Regelwerk liege, das entscheidet, wer Volk ist und wer nicht.

[9] Geisel schreibt: »Im Namen des Friedens gegen Israel zu sein, ist etwas Neues. Denn dieses Ressentiment hat alle praktischen und politischen Beweggründe abgestreift. […] Dieser neue Antisemitismus erwächst weder aus niedrigen Instinkten noch ist er Ausfluß ehrbarer politischer Absichten. Er ist die Moralität von Debilen. Das antijüdische Ressentiment entspringt den reinsten menschlichen Bedürfnissen, es kommt aus der Friedenssehnsucht. Es ist daher absolut unschuldig, es ist so universell wie moralisch. Dieser moralische Antisemitismus beschließt die deutsche Wiedergutwerdung insofern, als sich durch ihn die Vollendung der Inhumanität ankündigt: die Banalität des Guten.« (Eike Geisel: Die Banalität der Guten. Berlin 1992, S. 120f). – Ich hätte, wie ich zeigen will, gegen diesen trefflich beschrieben Affekt nur einen Einwand, den nämlich, dass er durchaus nicht neu ist.

[10] Dieser Gedanke, der von den Juden gewissermaßen erwartet, sich für das Wohl der Welt zu opfern, ist ein festes Baustück der antizionistischen Tradition und tatsächlich nichts anderes als ein verklemmtes Fortdenken des Holocausts. Nicht überall ist die Ausführung so klar wie bei Klaus Polkehn, der 1970 in Erinnerung des Ha’avara-Abkommens, durch das 60.000 Juden dem Zugriff des Naziterrors entzogen wurden, der Jewish Agency vorwarf – und man beachte hier die Zuschreibung der Rollen –, »die Mithilfe der SS bei der Beschleunigung der Austreibung der Juden« gewonnen zu haben, womit »ihre Konspiration mit den Nazis … dazu beigetragen [hat], das Nazi-Regime zu stärken und die Front des antifaschistischen Kampfes … zu schwächen« (Klaus Polkehn: Wie es wirklich war: Zionismus im Komplott mit dem Faschismus. In: Horizont 3/1970, S. 28f.). Dass die Agency in einer Lage, in der die in Deutschland lebenden Juden auf keine Schutzmacht und keinen Verbündeten rechnen konnten – denn der einzig nennenswerte Widerstand gegen die Machtergreifung der Nazis war im Nachspiel des Reichstagsbrands zerschlagen worden –, nicht daran denkt, ihre Klienten dem Tod und der Verfolgung auszuliefern, sondern so viele wie möglich davor zu retten versucht, kann tatsächlich nur in einem schwer gestörten Gemüt zum Vorwurf werden. Das große Ziel des Weltfriedens, hier verkörpert im Gedanken des antifaschistischen Widerstands, wendet sich ausgerechnet gegen diejenige Opfergruppe, die nicht bloß die primäre, sondern im Vergleich zu den politischen Gegnern (Kommunisten, Sozialdemokraten) wesentlich schwächer war. Von ihr wird erwartet, sich für die Gesamtheit des deutschen Volks zu opfern, als ob nicht die Gesamtheit dieses Volks das Vernichtungsunternehmen gegen die Juden erst hervorgebracht hätte.

[11] vgl. Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden?. Frankfurt 2012. Bei Aly erhält die Figur des Aufsteigers eine wesentliche Rolle, aber er führt das noch allgemein auf den Neid zurück, was die Sache schon trifft, aber, wie ich unten begründen werde, die eigentliche Bewegung noch nicht genau erfasst. Zudem zeigt insbesondere seine Einleitung, was passieren kann, wenn ein seriöser Forscher eine sehr allgemeine und somit gut übertragbare These mit politischen Absichten über den Antisemitismus hinaus anwendet und im Grunde dazu nutzt, jegliches Streben nach sozialer Gerechtigkeit unter Verdacht zu stellen. – Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich Alys Buch (erhältlich seit September 2012) bei der ursprünglichen Abfassung meines Textes (veröffentlicht im November 2012) noch nicht kannte. In der hier gedruckten Fassung (April 2015) werde ich das damals noch konzis erzählte Motiv des zum Starken gewordenen Schwachen, das kein anderes ist als das des Aufsteigers, ausbuchstabieren, wobei mir das von Aly zusammengetragene Material in einigen Punkten hilfreich war.

[12] gehalten im Mai 2003 in Münster. Bruhn kritisiert Postones Bestimmungen als »ökonomistische Reduktion« und weist darauf hin, dass die »Protokolle der Weisen von Zion« mindestens zum gleichen Anteil von der politischen Verdorbenheit des Judentums handeln. Der bloß raffenden, unproduktiven Wirtschaft entspricht die im Antizionismus unterstellte Unfähigkeit der Juden zum »Aufbau eines organischen Staatswesens« (die bekanntlich bis in unsere Gegenwart hinein im Vorwurf der Künstlichkeit des zionistischen Staatsgebildes fortlebt). Wer ökonomische Unproduktivität behauptet, müsse das auch im Politischen tun. Die Wurzel des Machiavellismus verfolgt Bruhn in der zweiten Hälfte des Vortrags auf den Gedanken der Konstitutionsgewalt zurück. Er vergleicht Herzl mit Robespierre und Lenin, nämlich als Gestalten einer umwälzenden Gewalt, die einen Verfassungszustand einrichten muss, das aber nur kann, indem sie im Vorgriff die Verfassung, die sie ermöglichen soll, negiert. In der Tat denke ich, dass Antileninismus und Antizionismus – alle Unterschiede zwischen Lenin und Herzl eingestanden – sich in diesem Punkt sehr gleichen, dass sie die Notwendigkeit jenes Vorgriffs, die unvermeidliche Paradoxie des politischen Handelns in jeder Revolution leugnen. Beide vollziehen als Stimmungen gegen eine reale gesellschaftliche Bewegung ihre Abneigung dort, wo die Kritik nicht bloß auf einzelne Maßnahmen oder Ereignisse, sondern auf das Konzept selbst gerichtet ist. Das ist, was ich meine, wenn im Titel von Romantik die Rede ist. Einen empfindlichen und überaus reaktionären Antirealismus, der keine Widersprüchlichkeit, keine schmutzige Seite, keine Verstiegenheit am realen geschichtlichen Prozess erträgt. Der Stoßseufzer der bedrängten Seele, der noch kürzere Katechismus derjenigen, denen selbst der Katechismus der Geschichte noch zu lang ist. Eine historische Bewegung kann nur begriffen werden, wo der Begreifende über sie hinaus ist. Der Antizionismus, der grundsätzlich gar nichts begreift, unternimmt den Versuch, ein exklusives Feindbild zu begreifen, über das er nicht nur nicht hinaus ist, sondern mit dem er nicht einmal im günstigsten Fall auf Augenhöhe sein kann.

[13] vgl. Saul Ascher: Flugschriften. Theoretische Schriften. Band 1. Mainz 2011, S. 209f.

[14] Im Element des Unproduktiven wird der angesprochenen Einheit von Machiavellismus und spekulativem Kapital Genüge getan, beide Formen der Tätigkeit sind Selbstzweck und nicht schöpferisch. Als ein drittes Element dieser Art führt Bruhn die sexualpathologische Komponente hinzu, die in der Figur des Schleimigen, Schlüpfrigen, bloß Lustbetonten, im die Fortpflanzung jedenfalls nicht primär setzenden Juden erfüllt ist. Bruhn behauptet, dass der Antisemitismus insgesamt auf dieser »mächtigen Triebgrundlage aufruht«, was ich nicht für wahrscheinlich halte, da dieses Element in der Geschichte des Antisemitismus zu oft fehlt, klassisch eher im Rassismus zu Hause zu sein scheint und dazu passend auch vor allem im modernen Antisemitismus verstärkt auftaucht, zu einer Zeit also, in der die antisemitische Theorie systematischer sein wollte und alle irgend greifbaren Ressentiments in sich zu integrieren suchte. So findet man das sexuelle Element bei dem von Bruhn zitierten Henry Ford ebenso wie in Harlans »Jud Süß« (die Vergewaltigungsszene während der Folterung), doch selbst in diesem Zeitabschnitt wird es nicht zum dominanten Vorwurf gegen die Juden.

[15] Ein ähnlicher Affekt scheint mir nebenbei bemerkt im Verhältnis des Islam gegen das Judentum sichtbar zu werden. Diejenige Religion, die als letzte die Bühne betritt und also am wenigsten originell ist, am wenigsten, heißt das, aus einem eigenen Mythos schöpfen kann, vermag diesen Mangel an Ritual nur durch ein Mehr an Glauben zu kompensieren. Die islamische Kultur hat sich seit dem 7. Jahrhundert des Orients bemächtigt und dessen Geschichte weitgehend mit der eigenen überschrieben. Die Juden sind unter der Dhimma nicht bloß die Underdogs, sie sind die Herren von gestern. Und daher sind sie dieser Tage, indem sie Israel halten, die Herren von heute, die die Sklaven von gestern sind, die die Herren von vorgestern waren. Auch das christliche Europa ist aus dem Judentum hervorgegangen, vermochte es historisch zu überholen und reagiert überaus empfindlich auf das Comeback der Juden.

[16] In der Tat kann die Form der Diaspora selbst als Quelle der Angst gesehen werden. So schreibt Leo Pinsker am Anfang seiner »Autoemanzipation«: »Das jüdische Volk hat kein eigenes Vaterland, wenn auch viele Mutterländer; es hat kein Zentrum, keinen Schwerpunkt, keine eigene Regierung, keine Vertretung. Es ist überall anwesend und nirgends zu Hause. Die Nationen haben es nie mit einer jüdischen Nation, sondern immer nur mit Juden zu tun.« (zit. n. d. Aufl. v. 1913, S. 8) Und gerade diese unheimliche Präsens, überall zu sein, doch nie als Einheit fassbar, führt zu jener zwanghaften Vorstellung des vollständigen Gegenteils: des Leviathanischen, der geheimen Verbundenheit und Einheit der Juden. Die Diaspora ist die Voraussetzung für das Konstrukt eines Weltjudentums.

[17] Der Antiamerikanismus ist vielleicht ein Grenzfall, dennoch zögere ich, in ihm eine dem Antisemitismus adäquate Form zu sehen. In der Tat sind auch die USA ein Aufsteiger, zudem eine nicht gewachsene, sondern durch Siedlung gebildete Nation. Aber sie sind schon seit einigen Jahrhunderten auf dem internationalen Tableau, und es fehlt die fremde Komponente. Das Judentum geht der europäischen Kultur voraus, ist eine ihrer Wurzeln, die Vereinigten Staaten hingegen sind ein Ableger Europas. Zugleich sind sie getrennt durch den Atlantik, es fehlt die unmittelbare Kollision mit dem amerikanischen Volk, die Angst vor der Unterwandung, vorm Staat im Staate. Schließlich waren die USA niemals schwach, sie sind nicht die Underdogs von gestern, deren Rache man fürchtet. Die kulturelle, technische und wissenschaftliche Macht Amerikas ist evident; das Land ist groß, sein Militär stark, weshalb auch kein Bedürfnis besteht, ein geheimes Weltregieren zu vermuten, da die Hegemonie offensichtlich ist. Alle diese Gründe mögen erklären können, warum der Antiamerikanismus weniger durchgreifend ist. Die geopolitische Präsenz der Amerikaner wird von Israel nicht einmal im Ansatz erreicht, das antiamerikanische Ressentiment, soll das sagen, hat viel mehr Anlass, sich zu entzünden, als das antiisraelische, und dennoch tut es das nicht in dem Maße. In der Extensität wohl gleichauf steht der Antiamerikanismus in der Intensität deutlich zurück. Während israelische Waren von Antizionisten häufig boykottiert werden, erfreuen sich amerikanische TV-Serien, Musik, Genussmittel, Technik usf. auch in antiamerikanischen Kreisen größter Beliebtheit. Die amerikanische Kultur wird allgemein von der amerikanischen Politik getrennt. Kein Staat der Welt wird dagegen in solchem Maße als in sich einheitlich und damit wesenlos genommen wie der israelische.

[18] Erinnert sei etwa an die Abweisung einer die Gaza-Flottille betreffenden Strafanzeige von Inge Höger (4. Juni 2010), die, mit dem vorgeblichen Völkerrechtsexperten Norman Paech im Hintergrund, praktisch wahllos in alle Richtungen zielend – offenbar in der Hoffnung, irgendeiner der Schüsse werde schon treffen – vor allem eines beweist: wie kreuzegal einer erklärten Sachwalterin des Völkerrechts dessen genaue Inhalte sein können. Die Abweisung durch den Generalbundesanwalt (vom 30. September 2014) zeigt sachlich gut nachvollziehbar die Willkür der angeführten Beschuldigungen auf.

  2 Responses to “Nahost! Nahost! oder Zur Romantik des Weltfriedens”

  1. […] den jüdischen Nationalismus gerichtet“, schreibt Felix Bartels in seinem lesenswerten Artikel „Nahost! Nahost! oder Zur Romantik des Weltfriedens“. Antizionisten engagieren sich selbstverständlich nicht für die Abschaffung der Nationalstaaten […]

  2. […] Felix Bartels in seinem lesenswerten Artikel „Nahost! Nahost! oder Zur Romantik des Weltfriedens“. Antizionisten engagieren sich selbstverständlich nicht für die Abschaffung der Nationalstaaten […]

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