Stellen Sie sich folgenden Irrsinn vor: Auf dem Weg zur Arbeit bemerken Sie an immer mehr Plätzen und Straßenecken große Bildschirme, die das TV-Programm des Senders RTL in die Öffentlichkeit übertragen. Die Bildschirme breiten sich aus und decken bald alle Straßen Ihrer Stadt ab, so daß Sie kaum noch eine Straße benutzen können, die Sie nicht zum RTL-Gucker macht. Irgendwann legt der Senat der Stadt fest, daß Sie als Bürger und unvermeidlicher Nutzer ihrer Straßen eine Gebühr an RTL zu entrichten haben, da Sie erweislich zum Publikum von RTL gehören.
100 wirkliche Taler, versichert Kant, sind um nichts mehr als 100 gedachte; ob sie existieren oder nicht, setzt ihrem Inhalt nichts hinzu. Ungern will ich den Professor gegen mich haben, aber mir scheint nicht unwesentlich, ob ein Irrsinn nur gedacht oder doch schon real ist, und es ist dieses eine Mal nicht das private Fernsehen, das für die Realisierung des Irrsinns verantwortlich zeichnet, sondern das staatliche. Die bisherige Regelung sah vor, daß jeder Besitzer eines TV-Geräts eine Gebühr für das staatliche Fernsehen zu entrichten hatte. Das war nervend, aber logisch und fair. Man konnte schließlich, wollte man dem Unsinn entgehen, sein Gerät aus dem Fenster werfen und lebte fortan in jeder Hinsicht besser. Ab 2013 wird indes auch jeder Nichtbesitzer eines TV-Geräts dieselbe Gebühr bezahlen müssen. Wir alle werden so zu kleinen Mäzenen des staatlichen Fernsehens. Nur: Ein Mäzen ist einer, der Millionen springen läßt, um eine Institution zu unterstützen. In unserem Fall läßt die Institution Millionen springen – 40 Millionen Mäzene nämlich, denn so viele Haushalte gibt es in diesem Land, die man nun kollektiv und ungefragt ins Irrenhaus einweist. Auch eine öffentlich-rechtliche Anstalt bleibt immer noch eine Anstalt.
Irre folglich auch ihre Argumentation. Aufgrund von Internet und anderen technischen Möglichkeiten sei der Empfang von TV ohnehin nicht mehr an ein TV-Gerät gebunden. Jeder Haushalt mit Internetanschluß könne das Programm von ARD und ZDF konsumieren und darf somit in die Zahlungspflicht genommen werden. Nicht einmal die Musikindustrie, die auch ganz malad dasteht und bislang noch für jeden Unsinn zu haben war, hat sich diese Logik zueigen gemacht und z.B. für jeden Haushalt den Zwangserwerb von Musik-CDs gefordert, weil heute ein jeder in der Lage sei, CDs zu kopieren. Aber der Gedanke könnte Schule machen, und schließlich müßte man alle Besitzer funktionsfähiger Geschlechtswerkzeuge verpflichten, Kindergeld zu zahlen, unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht.
Wenn ein Verfahren bei jeder Übertragung auf einen anderen Bereich Unsinn offenbart, liegt der Verdacht nahe, daß es generell unsinnig ist. Und Unsinn – seien wir ehrlich – gehört abgeschafft. Die staatlichen Sender wollen nicht, daß einer, der keine GEZ-Gebühren bezahlt, ihr Programm nutzt? Dann sollen sie es nichts ins Internet setzen. Oder gleich ganz vom Äther gehen. Ich stelle mir eine Welt ohne Fernsehen vor und finde plötzlich, daß das nicht die schlechteste Vorstellung ist. Wer glaubt, daß das staatliche Fernsehen ein kulturelles Gut sei, das gegenüber dem privaten Fernsehen erhalten werden müsse, scheint anzunehmen, daß Fernsehen überhaupt ein Gut ist. Aber Fernsehen ist kein Kulturgut, sondern mehr so eine Art Krankheit. Zugestanden: Wer Fernsehen will, muß auch staatliches Fernsehen wollen. Aber ich will das Fernsehen nicht.
Überdies habe ich seit langer Zeit Schwierigkeiten, das staatliche vom privaten Fernsehen zu unterscheiden und komme mir, wenn ich Geld für eine längst verlorene Unabhängigkeit und ein längst verlorenes Niveau entrichten soll, ein bißchen wie ein SPD-Wähler vor. Ich will mir aber nicht wie ein SPD-Wähler vorkommen.
Man kommt auf anregende Gedanken, wenn man darüber nachdenkt, was man alles nicht sein will. Zum Beispiel: Wie müßte das Fernsehen beschaffen sein, das ich unterstützen wollte? Es müßte auf die Quote nichts geben und – sagen wir mal: Kultur machen. ARD und ZDF dürften ihre Gelder nicht für Erwerb und Übertragung von Sportereignissen verschleudern, um die auch zahlreiche private Sender mitbieten, sie betrieben keine Boulevard-Magazine, keine Seifenopern und schöben Thomas Gottschalk dorthin ab, wo er hingehört: zu Dieter Bohlen, der auch gern Kandidaten quält (Schande, da ist er ja schon). Kurz: Die staatlichen Sender besorgten ein Programm, das nicht massenwirksam, sondern gut ist. Vormittags liefe Bildungsfernsehen, abends Theateraufführungen und nachtens Testbild. Dichterlesungen am Wochenende, tägliche Berichterstattung zu aktuellen Veranstaltungen, ausgiebige Presseschauen und Reportagen über Wasserwerke, seltene Bergvölker und exotische Berufe. Unter diesen Umständen wäre ich sogar bereit, die Moderation einer Samstag-Abend-Sendung zu übernehmen. Natürlich nur, wenn Alexander Kluge nicht kann.
Doch Kluge bringt mich auf den Boden zurück. Kultur ist ein dehnbarer Begriff, und die, die wir zur Zeit haben, ist ja kaum vorzeigbar. Ob bei RTL ein Kandidat ein Kakerlaken-Bad nimmt, oder bei Thalheimer Agamemnon ins Kunstblut wichst – es fällt mir schwer, da den Unterschied zu erkennen. Ich rufe mich also zur Ordnung. Keine halben Sachen, nieder mit dem Bildungsauftrag, nieder mit dem Fernsehen! Schafft es ab, das private wie das öffentliche! Laßt uns die Sendezeit in Lebenszeit umwandeln!
Unmöglich? Ach, Sie glauben gar nicht, was man so alles verbieten kann. Wer ARD sagt, so hieß es früher, muß auch BRD sagen.
Ich will aber nicht ARD sagen.
Und ja, ich weiß schon: die Champions League, Snooker im Crucible Theater, Sherlock, The West Wing, Boston Legal usw. Aber für schöne Serien und schönere Sportarten wird sich wohl ein Plätzchen jenseits des TV finden lassen. Noah schließlich ist auch nicht allein auf die Arche gegangen.
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