Aug 032013
 

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lebt die Poesie im Zeitalter des Materials. Dichter aller Gattungen verwenden einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Tätigkeit darauf, Elemente ihrer Vorläufer – seien es Poeten, Philosophen oder sonstwie befugte Wortproduzenten – als Bruchstücke in ihre Werke einzuweben. Es ist – um gleich den passend aufs Zeitalter geschriebenen Ausdruck Gerard Genettes zu verwenden – der vollständige Sieg der Transtextualität.

Der Dokumentarismus (Weiss, Runge, Kipphardt usw.) ist nur die äußerste und zugleich natürlich ärmste Ausprägung dieses Verfahrens, das allgemein geworden ist. Man imitiert, parodiert, zitiert, spielt an oder stielt. Nicht nebenbei, nicht bei passender Gelegenheit, sondern in der Hauptsache, um der Sache selbst willen. Es gilt geradezu als unfein, hemdsärmlig, es nicht zu tun. Dahinter steckt nur zum Teil Snobismus (der ja ein edles Motiv wäre); es ist maßgeblich die Angst vor der Struktur, vor dem großen Gedanken, dem großen Gefühl, der großen Haltung – die Angst vor allem, was für sich stehen könnte und keiner materialen Flankierung bedürfte.

Diese Angst kommt aus dem Mangel an Anschaulichkeit, aus der Unübersichtlichkeit des modernen Zeitalters. Die Vorstellung, daß ein Dichter nichts sagt als was er zu sagen hat, scheint dem Zeitgeist einen solchen Schrecken einzuflößen, daß der tut, was er sonst nie tut: an einem Verfahren über mehrere Generation hinweg festzuhalten, wie das so unterschiedliche (und unterschiedlich gute) Dichter als James Joyce, Ingeborg Bachmann, Erika Runge, Hans Magnus Enzensberger, Umberto Eco, Arno Schmidt, Daniel Kehlmann und Dietmar Dath sichtbar machen.

Dennoch stellt sich die Frage, ob es nicht möglich sein sollte, ein Stück Literatur zu schreiben, das als solches interessant ist, das nichts zu bieten hat als sich selbst, dessen Kraft ganz auf seiner eigenen geistigen Struktur und der diese Struktur transportierenden, wiederum höchst eigenen sprachlichen Schönheit liegt. Ein Werk, dessen Inhalt, vermittelt über die Form, in eine ganz persönliche Beziehung zu seinem Gegenstand tritt. Ein Werk somit auch, das in eine ganz persönliche Beziehung zu seinem Rezipienten tritt. Das nämlich zwänge auch die Literaturforschung zurück auf das Feld der Ästhetik, zurück zur Struktur- und Formanalyse. Es wäre für sie – die naturgemäß zum Philologischen und nicht zum Ästhetischen neigt, die das Material liebt und den Gedanken scheut, die lieber knobelt und fahndet als daß sie in die Tiefe geht und etwas ins Systemische ableitet – eine neue Herausforderung.

Sorry, the comment form is closed at this time.