Jul 222013
 

Von allen Denkern, auf die es ankommt, ist Leibniz uns heute am fremdesten. Kein Denker folglich, der Beihilfe zur Transformation nötiger hätte als eben Leibniz. Was zwischen Leibniz und der Gegenwart liegt, ist mehr als nur die theologische Form, mit der sein Denken stark verbunden ist. Mehr mithin als jene unglaubliche Fülle an zeitlicher Denk- und Entwicklungsleistung – von der Mathematik bis zur Linguistik, Jurisprudenz bis Historiographie, Kameralistik bis Ingenieurwissenschaft –, die das Kerngeschäft dieses Philosophen zu verdecken droht, wie es ein barockes Gewand mit dem Körper der Venus von Milo täte. Der nackte Leibniz gleicht aber der Venus nicht. Zieht man alles Äußerliche von ihm ab, bleibt immer noch etwas Weltfremdes.

Die Leibnizsche Metaphysik läuft an den Phänomenen vorbei. Sie hat Modellcharakter, ist mehr Entwurf als Spiegelung, keine Ableitung, ein Vorschlag. Sie funktioniert vermöge ihrer internen Struktur, doch man wird mit ihr nur warm, wenn man darauf verzichtet, ein So ist es denken zu wollen. Sie stimmt nicht im Sinne der Welt, aber sie stimmt im Sinne der Wahrheit. Wie das geht, läßt sich zeigen, indem Metaphysik und Erkenntnistheorie anhand dreier Elemente verständlich gemacht werden: (I) der ontologischen Substanz, (II) des Gottesbegriffs und (III) des Verhältnisses von Freiheit und Determiniertheit.

I

Wer Leibniz kapieren will, muß seinen Substanzbegriff kapieren, und den Substanzbegriff versteht am besten, wer dessen Einführung im »Neuen System«1 beobachtet. Das später als Monade bekannte substantielle Atom, das Leibniz vom bloß materiellen Atom unterscheidet, setzt kaum weniger Gedanken voraus, als es zur Folge hat, weswegen Leibniz ausführlich über sein philosophisches Werden berichtet. Die aristotelische Schule, insbesondere in ihrer Ausprägung durch den heiligen Thomas, das kartesische System, das spinozistische, den zeitigen Materialismus und im besonderen Maße den griechischen Atomismus versucht Leibniz für sich fruchtbar zu machen. Dagegen wirkte die neuere Naturwissenschaft im Gefolge Keplers, Galileis und Kopernikus’ auf Leibniz in dem Sinne ein, daß er die Überzeugung gewann, die neueren Erkenntnisse über die Natur nicht umgehen zu können. Dennoch hätte die Philosophie Philosophie zu bleiben und sich also mit philosophischen Mitteln an die Interpretation der Welt zu machen. Gerade diese doppelte Verpflichtung macht die Besonderheit der Theoriebildung im »Neuen System« aus, denn man täuscht sich nicht im Urteil, daß Leibniz seine Theorie der substantiellen Atome keineswegs aus empirischen Beobachtungen oder naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ableitet, sondern zielgerichtet ein Modell von Substanz und Struktur der Welt aufbaut, das er sodann mit all dem ausstattet, was es benötigt, um zugleich eine einheitliche Weltinterpretation zu sein und mit den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft in Übereinstimmung zu stehen.

Der erste philosophische Gedanke, der im »Neuen System« erscheint, findet sich in dessen zweitem Kapitel. Er habe, schreibt Leibniz, nie aufgehört, über die Philosophie nachzudenken, weil er stets der Eindruck behielt, »daß es Mittel gäbe, durch klare Beweise darin etwas Stichhaltiges festzustellen« (NS 2). Am Anfang seines Wegs durch die Denkschulen stand eine Vertiefung in die scholastische Lehre. Die damit verbundene spekulative Grundhaltung wurde jedoch bald in Frage gestellt, als Leibniz die Bekanntschaft mit der Mathematik und den »modernen Autoren« machte: »Mich bezauberte ihre schöne Art, die Natur auf mechanische Weise zu erklären, und ich tadelte mit Recht die Methode derer, die nur Formen oder Vermögen anwenden, aus denen man nichts lernt« (ebd.). Die nicht näher bestimmten modernen Autoren könnten demnach Vertreter materialistischer Positionen sein, Thomas Hobbes etwa oder Francis Bacon, sicher aber René Descartes mit seiner mathematisch-mechanischen Methode. Ihr Vorteil gegenüber der Scholastik ist, so läßt sich der zitierte Satz verstehen, daß ihre Lehren die Wirklichkeit betreffen, d.h. mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft in höherem Maß in Übereinstimmung stehen, und sich daraus also Ableitungen gewinnen lassen, die für weitere Erkenntnisse brauchbar sind. Aber auch mit den Positionen der modernen Autoren konnte sich Leibniz nicht zufrieden geben, da die Vertiefung der mechanischen Lehre bald zeigte, daß sie nicht zum »Grund der Naturgesetze« führe.

Bei dieser Aporie angelangt, beginnt Leibniz sich dem Spekulativen wieder zuzuwenden, indem er seinen ersten eigenen Gedanken formuliert, der auch der erste Gedanke des Neuen Systems sein soll. Es ist die Erkenntnis, »daß die Betrachtung der ausgedehnten Masse allein nicht ausreicht und daß man doch den Begriff der Kraft anwenden muß« (ebd.). Das richtet sich gegen Descartes und dessen Dualismus zweier Arten von Substanz, einer unausgedehnt-geistigen und einer ausgedehnt-materiellen. Leibniz lehnt beide Vorstellungen ab, die er jeweils als »das Leere« und »die Atome« bezeichnet. Die mechanische Definition der Substanz als bloßes Atom, Materie also, deren einzige Eigenschaft die Ausgedehntheit und die somit (da an ihr keine Kraft sein darf) ganz passiv ist, wäre für Leibniz »nur eine Ansammlung oder Haufen von Teilen bis ins Unendliche« (NS 3). Es existierten dann, soll das heißen, keine höheren Formen von Anordnungen und Strukturen, ohne die sich die Welt weder nach wissenschaftlichen Einsichten noch in den alltäglichen Erfahrungen erklären läßt. Auf der anderen Seite stünde die Vorstellung einer rein geistigen Substanz, die zwar dem Anspruch, Kraft zu sein, genügen könnte, jedoch räumlich leer bliebe. Unter dem »Leeren« versteht Leibniz nichts anderes als das Kontinuitätsproblem der mathematischen Punkte: Ein Punkt ist eine Singularität, ein Nichts, und aus einem Nichts wird nie etwas. So viele Punkte man immer herbeiholte, die einen noch so kleinen Raum zu füllen hätten, der Raum bliebe immer leer, und da aber die natürliche Welt einen materiellen Inhalt besitzt, wird deutlich, daß man auch mit den Mitteln der Mathematik keine metaphysische Grundlage zur Erklärung der Welt finden kann.

In diesem Dilemma zweier unvollkommener Substanzbestimmungen, deren eine Ausdehnung ohne Kraft und deren andere Kraft ohne Ausdehnung zur Bedeutung hätte, und deren Wechselwirkung von den Vertretern dieser Vorstellung zwar intendiert ist, nach der Vernunft jedoch nicht vorstellbar scheint2, geht die Überlegung darauf, wie eine Substanzbestimmung konstituiert werden könne, die die beiden Eigenschaften Wirklichkeit und Kraft in sich vereint. Zu diesem Zweck führt Leibniz die substantiellen Atome in sein Neues System ein: »[S]o war ich gezwungen, um diese wirklichen Einheiten zu finden, auf einen wirklichen und sozusagen beseelten Punkt zurückzugehen, das heißt auf ein substantielles Atom, das irgendetwas Formales oder Aktives einschließen muß, um ein vollständiges Seiendes zu bilden« (NS 12).

Fragt man nach der Beschaffenheit dieser substantiellen Atome, welche Eigenschaften sie besitzen, welche Bestimmungen in sie eingehen, und betrachtet die Antworten alsdann im Lichte der Frage, welche Funktionen sie damit zu erfüllen haben, wird man vor allem auf die zuletzt zitierte Passage zurückzugreifen haben, denn darin sind, gewissermaßen als definitorische Momente, bereits alle wesentlichen Bestimmungen enthalten. Die substantiellen Atome sind wirklich, einheitlich und beseelt, ferner besitzen sie Aktivität und Form.

Wirklich müssen sie sein, damit sich aus ihnen auch etwas ergeben kann, das in der Welt ist. Um die komplexen Strukturen der Wirklichkeit zu erklären und diese auf ihren Grund zurückzuführen, ist Leibniz überhaupt erst auf die Idee substantieller Atome verfallen. Wären sie nicht in dem Sinne wirklich, wie auch andere Elemente wirklich sind, ergäbe sich ein Dualismus zwischen Geistigkeit und Körperlichkeit, den zu überwinden Leibniz doch gerade angetreten ist. Darum nennt er die substantiellen Atome »die ursprünglichen Kräfte, die nicht nur die Wirklichkeit (den Akt) oder die Ergänzung der Möglichkeit, sondern auch eine ursprüngliche Wirksamkeit (Aktivität) enthalten« (NS 3).

Einheitlichkeit müssen sie besitzen, wenn sie die Rolle von Prinzipien ausfüllen sollen. Was keine Einheit ist, kann, da es sich beliebig teilen ließe, nicht der Anfang sein. Hieraus entsteht die Forderung nach der Unteilbarkeit der substantiellen Atome.3 Mit der unteilbaren Einheit ist sogleich auch in einer weiteren Hinsicht der kartesische Dualismus behoben. Daß die Unteilbarkeit ferner nötig ist, um zu verhindern, daß die materiellen Strukturen, die wir in der Welt finden, bei immer weiterer Teilung ins unendlich Kleine verschwänden und dieser Vorgang nie ein Ende hätte, scheint vor allem durch den Prinzipiengedanken evident zu sein. Die Vorstellung, daß im Kleinen kein Ende ist, hätte zur Folge, daß jede Bestimmung, die über diesen Prozeß gemacht werden könnte, immer nur einen Ausschnitt desselben beträfe, was für ontologische Bestimmungen, die ja allgemeingültig sein sollen, kein gutes Zeugnis wäre. Schließlich ist mit der angenommenen Einfachheit der substantiellen Atome als weitere Eigenschaft impliziert, daß diese kleinsten Einheiten ewig in der Welt sind: »Da nämlich jede einfache Substanz, die eine wahre Einheit besitzt, nur durch ein Wunder ihren Anfang und ihr Ende nehmen kann, so folgt daraus, daß sie nur durch Schöpfung beginnen und durch Vernichtung enden kann« (NS 4). Die substantiellen Atome sind also inexistent, solange sie nicht geschaffen, und existent, solange sie nicht vernichtet sind, woraus nach Leibniz folgt, daß sie mit der Welt geschaffen worden sind. Dieser Gedanke hat, trotz seiner theologischen Form, einen philosophischen Bezug, weil mit ihm die substantiellen Atome wiederum an die Wirklichkeit gebunden sind und den von Leibniz intendierten Zweck, Prinzipien der wirklichen Welt zu sein, erfüllen können.

Die dritte Eigenschaft ist Beseeltheit, welcher Terminus dem der Kraft entspricht; gleich im Anschluß schreibt Leibniz über die substantiellen Atome, »daß ihre Natur in der Kraft besteht und daß sich daraus etwas dem Empfinden und Begehren Analoges ergibt, und daß man sie also entsprechend dem Begriff verstehen muß, den wir von Seelen haben« (NS 3). Der Grund für diese Analogie dürfte wohl in der ähnlichen Funktion beider Begriffe liegen, was sich von der Tradition der Griechen und insbesondere der aristotelischen Terminologie herleitet. Für die Kraft (δύναμις) wie für die Seele (ψυχή) gilt, daß sie als philosophische Begriffe gebildet wurden, um Phänomene der Bewegung zu erklären, wobei unter Bewegung nicht nur die örtliche, sondern auch komplexere Formen, Wachstum etwa oder Metamorphose, verstanden werden müssen. Bewegung ist, wenn wird, was nicht ist. Hätte nichts weiter als das bloße, stoffliche Sein Bestand, fehlte jede Erklärung für die Phänomene der Bewegung.4 Der Begriff der Kraft, als anderes Wort für Möglichkeit verstanden, leistet, indem er zum Stofflichen als eine andere Form des Wirklichen hinzutritt, diese Erklärung. Was die Seele indessen von der Kraft unterscheidet, ist, daß sie sich als Begriff im Grunde ausschließlich auf den Bereich der belebten Dinge bezieht, während die Kraft für alle Bereiche der Wirklichkeit gilt. Leibniz unterstellt also den substantiellen Atomen keine Ungeheuerlichkeiten, wenn er von ihren Seelen spricht, sondern meint, daß ihre Kraftnatur ein von ihrer Beschaffenheit bestimmtes Potential darstellt, vermöge dessen sie in der Lage sind, die übrige, unbeseelte Materie, unter der sie sich stets befinden, in Bewegung zu setzen. Allerdings führt er die Analogie weiter, indem er aus den traditionell als für den Seelenbegriff wesentlich angenommenen Merkmalen »Empfinden und Begehren« etwas für die substantiellen Atome Analoges folgert. Der Vorteil dieses Schrittes liegt auf der Hand, denn mit der Empfindung ist für die substantiellen Atome zugleich die Möglichkeit des Zufügens und Erleidens von Wirkungen eingeführt, und mit dem Begehren erklärt sich die Wirkung nicht bloß roher und willkürlicher, sondern zielgerichteter und organisierter Kräfte. Beides ist für ein Modell, das gegen die Einwände der Naturbeobachtungen Bestand haben soll, unerläßlich.

Mit dem Merkmal der Aktivität ist die Entäußerung der Kraft bezeichnet, wobei Aktivität hier tatsächlich eine Selbstbewegtheit meint. In seiner Vorstudie zum »Neuen System«, der kurzen Abhandlung »Über den Begriff der Substanz«, schreibt Leibniz, daß der »letzte Grund der Bewegung in der Materie«5 liege und sich nicht bewegende Materie nur das Resultat einer von außen auf sie einwirkenden Hemmung sein kann (was physikalisch, zugegeben, eine seltsame These ist). Der Grund für das Postulat der Selbstbewegtheit liegt, wie deutlich geworden, in jener besonderen Art der Materie, die Leibniz die substantiellen Atome nennt, und die aufgrund ihrer Kraftnatur die bloß ausgedehnte Materie in Bewegung hält.

Das letzte definitorische Moment ist das der Form, und es ist, zumindest nach dem Eindruck der Lektüre des »Neuen Systems«, das am wenigsten durchsichtige. Form meint in jedem Fall eine Art Struktur, also ein Beieinandersein von Verschiedenheiten zu einer höheren Totalität. Was in sich ganz gleich ist, besitzt keine Form. Wenn Leibniz also über das substantielle Atom sagt, daß es »irgendetwas Formales« einschließen müsse, dann ist damit ausgesprochen, daß jene kleinste Einheit eine Art innere Anordnung und also unterschiedliche Teile oder Elemente besitzen muß. Auf der anderen Seite soll es keine Ausdehnung haben und auch nicht teilbar sein. Trotz dieser Unklarheit wird deutlich, welchen Vorteil der Formcharakter der Substanz hat, d.h. zu welchem Zweck er von Leibniz eingeführt wurde. Es gehört, wie erinnert sei, zu den durchgängigen Zwecken des von Leibniz konzipierten Modells von Substanz, mit den Erfahrungen und Erkenntnissen der Naturwissenschaft in Übereinstimmung zu kommen. Demgemäß scheint auch ein Bedürfnis zu bestehen, mit der Beobachtung und Erkenntnis von höheren Dispositionen und Qualitäten, so z.B. der Organe von Lebewesen oder der Organismen der Lebewesen selbst, in Übereinstimmung zu kommen und das Zustandekommen jener Organismen, d.h. ihren tiefsten Grund, philosophisch zu erklären. Und das ist das Motiv, aus dem Leibniz die Form genauso wie die Kraft bereits bei den kleinsten Einheiten, aus denen alles weitere zusammengesetzt sein soll, benötigt. Weder die leblose Ansammlung bloßer, formloser Materieatome noch die nicht zur Wirklichkeit kommenden mathematischen Punkte können als kleinste Einheiten das Zustandekommen von höheren Anordnungen und komplexeren Formen, können also besondere oder individuelle Beschaffenheiten erklären, denn es scheint für Leibniz eine Selbstverständlichkeit, daß die Form eines komplexeren Wesens nicht in seiner Anordnung bestehen kann, solange es weiter teilbar ist. Die Vorstellung, daß das Wesen einer Sache immer als immanent gedacht werden muß und z.B. nicht auch in den Beziehungen verschiedener Wesenheiten zueinander liegen kann, die zusammen seine Bestandteile ausmachen, bleibt dabei unangetastet.

Die substantiellen Atome ermöglichen Erklärungen höherer Einheiten, komplexer substantieller Zusammenhänge, die über das Vorhandensein von Aggregaten hinausgehen.6 Über die bloß materiellen Atome sagt Leibniz, aus ihnen ergebe sich »nur eine Ansammlung oder Haufen von Teilen bis ins Unendliche«. Dagegen setzt er flankierend einen Atombegriff, der die Kraft schon auf der untersten Ebene – der Substanz – beinhaltet. Nun hat er die Kraft, die ihm in den Materieatomen fehlt, zwar in die substantiellen Atome verbracht und sie damit zu dem gemacht, was sie sein sollen. Als Monaden sollen sie aber keine Ausgedehntheit besitzen und dennoch materieller Natur sein. Der Vorzug des Modells ist zugleich seine Schwachstelle. Es zeigt sich, daß Leibniz den kartesischen Dualismus im vollen Ernst nicht zu überwinden vermag. Angestrebt ist die Einheit des Widerspruchs von Materie und Form, erreicht wird es, indem er in die Materie hineinverlegt wird. Herauskommt ein schönes, rundes, ein faszinierende Erklärungsmodell der Welt, aber der Lösung oder doch wenigstens der Vermittlung des Widerspruch ist damit kein Dienst getan. Und mehr noch: Er bleibt bestehen, indem der gewöhnlichen Materie eine substantielle bloß zugesellt wird, die für alles Formale, alle Bewegung ursächlich zu sein hat. Wie die Vermittlung zwischen diesen beiden Materieformen zu denken ist, bleibt unerhellt.

Es scheint, als zahle ein philosophisches System, das sich gegen Angriffe von außen immun macht, einen hohen Preis: Es wird desto besser funktionieren, je mehr es sich in sich einschließt und seinen internen Beziehungen Konsistenz verleiht. Es büßt aber durch diesen Vorgang an Reichweite ein. Es gilt, im äußersten Fall, für sich, und nichts drüber. Das Unterfangen, den Gegensatz zwischen Atom und Struktur auf atomistische Weise zu lösen, muß ebenso sicher scheitern, wie der Versuch scheitern müßte, eine Sprache durch Verzicht auf syntaktische Begriffe, allein mit den Mitteln der Semantik zu beschreiben. Dennoch läßt sich sagen, daß man auf weniger grandiose Weise scheitern kann als Leibniz. Sein Versuch reicht nicht hin, aber er weist in großer – bis dato: größter – Klarheit einen Widerspruch aus, den die Philosophie anzunehmen hat, anstatt sich ihm, zum Beispiel, durch einen Dualismus zu entziehen. Dadurch bekommt die Monade etwas Platonisches, und in der Tat liegt der Wert des Monaden-Modells genauso wie der Wert der Platonischen Idee weniger in seinem Weltgehalt als vielmehr in der Leistung, einen vorhandenen Gegensatz mit Entschiedenheit festgehalten zu haben, und wie schon auf Platons ἰδέα die οὐσία des Aristoteles folgen konnte, ermöglicht die Monade das spekulative Konzept Hegels von Allgemeinheit und Besonderheit, in dem Substanz ebenso als Immanenz wie als Relation verstanden wird.

II

Nach der Frage, was die Monaden sind, interessiert, was sie tun. Daß sie die Leibnizsche Welt im kleinsten zusammenhalten sollen, hatte bereits das »Neue System« behauptet; wie und zu welchem Vorteil sie das tun, beantwortet die sogenannte »Monadologie«.7

Das allgemeine Ziel der Leibnizschen Philosophie ist, eine insgesamt plausible und einheitliche Erklärung der Welt zu geben, wobei – wie aus der Einführung der substantiellen Atome klar geworden – eine Besonderheit dieser Art Philosophierens darin liegt, daß die systematischen Erklärungen der Welt zwar nicht aus den Phänomenen abgeleitet werden, doch als Erklärungen keine Fragen in betreff der Phänomene offenlassen sollen. Leibniz arbeitet mit spekulativ gewonnenen Theorien, deren Wahrheit sich an der Wirklichkeit weder messen noch zeigen läßt, aber er richtet die Theorien so ein, daß sie nicht nur sich, sondern auch das, was sich messen oder zeigen läßt, erklären können oder zumindest doch nicht in unvermittelbarem Gegensatz dazu stehen. In diesem Sinne ist auch die Bildung des Begriffs der Monade aufzufassen, jenes, wie erinnert sei, substantiellen Atoms, das Leibniz dazu dient, die Prinzipien der Weltdinge zu bestimmen. Die Theorie der Monaden ist keine Verallgemeinerung empirischer Beobachtungen oder naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern ein Modell. Als solches hat sie in erster Linie eine Funktion zu erfüllen, denn nicht nur Philosophen, Denker überhaupt greifen gewöhnlich dann zu Modellen, wenn sie mit den in der wissenschaftlichen Tradition zur Verfügung stehenden Mitteln nicht weiterkommen.8 Ein Modell hat weniger eine an der Wirklichkeit überprüfbare Richtigkeit, als vielmehr einen die Welt interpretierenden Gehalt. Wichtiger als die Frage, ob es realiter richtig ist, ist die, was es aussagt und was es damit impliziert.

Die Leibnizschen Monaden haben, wenn man stark vereinfacht, zwei Funktionen im System des Philosophen zu erfüllen: zum einen den Anfang der Welt zu machen, indem sie der basale Baustoff derselben bzw. von Beginn an unter den Weltstoff gemischt und allgegenwärtig sind, zum anderen die Dialektik von Substanz und Struktur in einen einheitlichen Begriff zu bringen, indem alle Charakteristika der Erscheinungswelt wie Form, Kraft, Perzeption, Einheit, Vielfalt usf. in eine Einheit gebracht werden, an der nichts Wesentliches mehr äußerlich sein soll.9 Damit war ein Begriff geschaffen, der eine sowohl der Einheit als auch der Mannigfaltigkeit der Dinge gerecht werdende Erklärung möglich machte. Aber es ließ sich noch immer fragen, woher jene Monaden ihre Bestimmungen denn nun erhalten und, da sie am Anfang stehen, wer diesen Anfang ins Werk gesetzt hatte. Beide sich hieraus ergebenen Lücken in der Erklärung füllt Leibniz mit seinem Gottesbegriff.

Man kann den Leibnizschen Gottesbegriff in Unterscheidung dreier Funktionen auf die Vorstellung von den Prinzipien der Welt beziehen: Gott garantiert hiernach in betreff der Welt erstens für deren Grundlage und Anfang, denn er ist die Macht, die die Quelle von allem ist; zweitens für deren Ordnung und Harmonie, da er die Erkenntnis hat, die die Spezifik der Ideen enthält; und zum dritten schließlich garantiert er die Vollkommenheit und Güte der Welt, weil ihm der Wille zukommt, der die Veränderungen oder Erzeugungen zum besten hin bewirkt (vgl. Mon 48). Die Monaden indes, die Gottes Kreaturen sind10, haben diesen drei Bestimmungen entsprechend drei Eigenschaften: zum ersten ihr Subjekt (sujet) oder Substrat, zweitens ihr perzeptives und drittens appetitives (strebendes) Vermögen (vgl. Mon 48). In Gott sind diese drei Bestimmungen unendlich, absolut und vollkommen; in den geschaffenen Monaden sind sie bloß Nachahmungen, in denen jeweils die göttliche Vollkommenheit verschieden stark ausgebildet ist.

Ausgehend von dem Gedanken, daß aus der Untersuchung von Einzelheiten nur andere Einzelheiten folgen (vgl. Mon 37), kommt Leibniz, der auf der Suche nach einem zureichenden Grund für die gesamte Welt ist, auf den Begriff einer »notwendigen Substanz … in der das Besondere der Veränderungen« vorkomme, nur in eminenter Weise, wie in einer Quelle, und diese Substanz nennt er Gott (vgl. Mon 38).

Leibniz bezeichnet Gott als letzten Grund der Dinge bzw. als »zureichenden Grund jedes Einzelnen«, der, da er der letzte ist, auch der einzige sein soll. Somit haben wir in Gott eine Substanz, die »einzig, universell und notwendig« ist. Oder sagen wir doch besser: die notwendigerweise einzig und universell11 sein muß. Denn das Notwendige ergibt sich aus dem Bestreben, einen Grund zu finden, aus dem alles andere herrührt, und ein solcher Grund muß dann folglich einzig und universell sein.

Indem Gott als Substanz bestimmt wird, ist ausgesagt, daß ihm eine Art Aktualität zukommt. Die Möglichkeit, Gott könne allein die Kategorie des Möglichen verkörpern, ist damit ausgeschlossen, wenn anderseits behauptet wird, daß er nicht bloß im Wirklichen ist, sondern »allein … dieses Vorrecht [besitzt], daß er existieren muß, wenn er möglich ist« (Mon 45).12 Erkennbar ist der Versuch, Gott, als für die wirkliche Welt ursächlichen Grund, zugleich jenes Andere sein zu lassen, das durch den Begriff der Möglichkeit bezeichnet ist und in unserem Denken jene zahlreichen und durchaus verblüffenden Vorfälle erklären soll, daß etwas ins Dasein tritt, was zuvor nicht vorhanden war. Warum es Leibniz jedoch begründet scheint, daß Gott, wenn er möglich ist, auch gleich existieren muß, liegt wohl in der Natur, die dieser Begriff durch seine Bestimmung angenommen hat. Denn Gott soll der letzte Grund aller Dinge sein, und wenn er das ist, kann nichts anderes seine Existenz möglich machen als er selbst. Daher gilt von Gott, daß er ein Wesen ist, »das seinen Existenzgrund in sich hat« (Mon 45). Leibniz ist stets geneigt, eine Möglichkeit nur als Eigenschaft einer gewissen Wirklichkeit anzunehmen, weshalb er, wenn er nicht jeder Wirklichkeit eine andere Wirklichkeit voraussetzen möchte (was hieße, für die Welt keinen Anfang setzen zu können), einen Erstzustand annehmen, in dem Möglichkeit und Wirklichkeit gewissermaßen eins waren, und da Gott auch nach der Schöpfung fortexistieren soll, muß er noch immer in dieser Verfassung sein.

Es gibt demnach ohne Gott »nicht nur nichts Wirkliches, sondern auch nichts Mögliches«, und Gott ist »nicht allein die Quelle der Existenzen, sondern auch die der Wesenheiten« (Mon 43), der Monaden. Und dies sogar in ausgezeichneterer Weise, denn in seinem »Neuen System« etwa vergleicht Leibniz das Verhältnis Gottes zur gewöhnlichen Materie mit dem eines Ingenieurs zu seiner Maschine, während er Gott und die Monaden einem Fürsten und seinem Gefolge vergleicht. Ein Ingenieur regiert, wenn er eine Maschine baut oder regelt, über etwas der Gattung nach anderes. Ein Fürst, wenn er über seine Untertanen gebietet, herrscht über seinesgleichen. Die Monaden sind also nicht nur Kreaturen Gottes, sie haben selbst eine Art göttliche Natur, ohne die sie schwerlich ihre besonderen Funktionen ausüben könnten, denn von Gott haben sie ihre Kraft, das Dynamische, das in der Welt besorgt, das wird, was nicht ist.

Der göttlichen Erkenntnis, sagt Leibniz, entspreche bei den Monaden ihr Vermögen zur Perzeption. Man schreibe indes »Handlung der Monade zu, insoweit sie deutliche, und Leiden, insoweit sie verworrene Perzeptionen hat« (Mon 49). Diese Unterscheidung hat es in sich, denn sogleich tritt die Frage auf, wie die Monaden miteinander interagieren, und die Antwort ist verblüffenderweise, daß sie es überhaupt nicht tun. Die Welt funktioniert nach einer Ordnung, und diese Ordnung scheint nicht ein über allen Dingen waltendes Prinzip zu sein, sondern vielmehr in den einfachsten Substanzen der Welt zu liegen, und diese bilden die Ordnung nicht gemeinsam, sondern eine jede von ihnen ist genau so eingerichtet, daß sie sich so verhält, als stünde sie in einem Zusammenhang mit den anderen Substanzen. Es ist dies zwar auch eine Art Verhältnis, doch keines, das Affekte einschlösse. Ausdrücklich heißt es, daß »eine geschaffene Monade auf das Innere einer anderen keinen Einfluß haben kann« (Mon 51). Das Verhältnis zweier Substanzen, die einander nicht affizieren und dennoch dem Anschein nach in einem Zusammenhang aus Ursache und Wirkung, Aktivität und Passivität, Attraktion und Repulsion stehen, ist nur denkbar als eine im voraus vorgenommene Synchronisation, ein restloses Abgestimmtsein der Substanzen aufeinander, als eine prästabile Harmonie. Die Monade ist nicht aktiv und erleidet nicht Aktivität anderer Substanzen; sie verhält sich ihrem eigenen, inneren Programm gemäß, das Leibniz Perzeption nennt. Er gebraucht diesen Begriff also nicht im üblichen Sinne, in der Bedeutung von Wahrnehmung (die er als Apperzeption bezeichnet und von der Perzeption unterscheidet), sondern zur Benennung einer inneren Struktur, deren Beschaffenheit der Umwelt angemessene Verhaltensweisen besorgt, und das schließt Bewußtheit darüber nicht notwendig ein (vgl. Mon 14).

Monaden sind autark; sie haben, wie Leibniz sagt, keine Fenster (vgl. Mon 7). In einer jeden von ihnen sind sämtliche Informationen über die anderen Monaden enthalten, so daß eine jede von sich aus die einer anderen angemessene Verhaltensweise an den Tag legen kann. Wo ein Aktives existiert, bedarf es auch einer Sache, die diese Aktivität erleidet, und wo ein Passives ist, wird eine Sache benötigt, die es mittels Aktion zum Passiven macht, und solche Verhältnisse liegen nun ganz in den einzelnen Monaden begründet. So malte ein Maler hiernach z.B. ein Bild, indem er sich so verhielte wie einer, der ein Bild malt, und das kann er aber nur, wenn in seiner eigenen Struktur die nötigen Informationen über die zu bemalende Leinwand oder die Farben, mit denen er malt, enthalten sind. Umgekehrt ließe mit der Farbe sich nur malen und die Leinwand sich nur bemalen, wenn diese in sich die Information dessen, der malt, enthalten. Den Grund des Malens wird ein Maler nie allein in sich, sondern immer auch in Leinwand, Pinsel usw. finden. Daher hat Gott jede Monade mit allen Informationen ausgestattet, die sie braucht, um ein Teil des harmonischen Weltganzen zu werden. In jedem substantiellen Atom ist strukturell die Welt enthalten, soweit diese beziehungsmäßig für dieses Atom relevant ist (vgl. Mon 52). Man sieht wohl ein: Die prästabilierte Harmonie ist die stringente Folge der atomistischen Ontologie; Leibniz schließt die Relation so sehr aus dem Substanzbegriff aus, daß Substanz nur noch als immanent gedacht werden. Folglich kann es auch jenseits der basalen Ebene, in der komplexen Welt der Natur und des Menschen, nur scheinbare Beziehungen geben, und daher, folgt weiter, ist alles einem jeden einzelnen Element vollständig eingeschrieben.

Der Gottesbegriff wäre indessen nicht das, was er ist, und könnte kaum leisten, was er leistet, wenn nicht Vollkommenheit zu seinen Inhalten zählte. Leibniz bestimmt Gott zwar als eine Substanz, also als ein selbst Daseindes, aber ihr Dasein sei »in eminenter Weise, wie in einer Quelle« (Mon 38). Diese Eminenz bestehe darin, daß Gott unbegrenzt oder unendlich ist (vgl. Mon 40). Leibniz, der Vollkommenheit als das bestimmt, was eines höchsten Grades fähig ist13 und folglich verschiedene Grade an Vollkommenheit zuläßt, sieht Gott als »absolut vollkommen«, und diese Vollkommenheit bestehe in der Größe der an sich genommenen positiven Realität, sobald man deren Grenzen und Schranken beiseite lasse (vgl. Mon 41). Gott wäre demnach nichts anderes als alles Vollkommene der Welt. Und wenn alles Vollkommene in der Welt von Gott kommt oder in ihm besteht, so folgt daraus, daß alles Unvollkommene an ihr aus der Natur der bloß materiellen Existenzen selbst kommen muß. Diese seien von Natur aus begrenzt und endlich, Gott hingegen unendlich (vgl. Mon 42). Die Existenzen, die, vermittelt durch ihre jeweilige Monade, ihre Vollkommenheit von Gott haben, sind aber in unterschiedlichem Grade vollkommen. Das rührt daher, daß Gott an jedem Geschöpf so viel Vollkommenheit verwirklicht, wie dessen (physische) Natur zuläßt (vgl. Mon 47).

Worin die Vollkommenheit genau besteht, bestimmt Leibniz mit Bezug auf die Perzeptionen genauer: »Ein Geschöpf ist vollkommener als ein anderes, insofern man in ihm etwas findet, das dazu dient, Gründe a priori für das anzugeben, was in dem anderen vorgeht; und in diesem Falle sagt man, daß es auf das andere einwirkt« (vgl. Mon 50). Eine Monade findet in sich die Gründe für das, was in einer anderen vorgeht, durch ihre Perzeption, wobei Leibniz’ Hinweis auf das Einwirken der einen auf die anderen offenkundig darauf abzielt, daß Gründe für das, was im Anderen vorgeht, in höherem Maß gegeben sind, wenn es sich um direkte Perzeption (Aktivität) anstatt um »verworrene« (Erleiden) handelt. Bezieht man – trotz des Wissens, daß Gott kein »Geschöpf« ist – den Gedanken der monadischen Vollkommenheit auf den Schöpfer, so scheint hierin eine Begründung für die höchste Vollkommenheit Gottes zu liegen. Wenn Vollkommenheit von Geschöpfen in dem Maße gegeben ist, in dem eines die Gründe für das enthält, was in dem anderen vorgeht, ist Gott, wenn man so will, die vollkommenste und umfassendste Monade, weil zum einen seine innere Struktur alle Weltbeziehungen enthält – da ja die Menge der für Gott relevanten Weltbeziehungen mit der Menge der Weltbeziehungen überhaupt identisch ist –, und weil er sie zum anderen auf unverworrene, aktive Weise enthält, denn Gott ist der Grund alles Existierenden – er wirkt auf alles, und nichts wirkt auf ihn.

Aktivität im Sinne des Übergangs vom Möglichen zum Wirklichen hat immer eine Richtung. Es muß, sagt Leibniz, da Gott bei der Schöpfung die Wahl aus einer unendlichen Zahl von möglichen Welten hatte, einen Grund dafür geben, daß er gerade die wählte, die er schließlich verwirklichte (vgl. Mon 53), und dieser Grund könne nur in der Angemessenheit oder im Grad der Vollkommenheit liegen, denn jedes Mögliche hat in dem Grade seiner Vollkommenheit ein Recht, in die Existenz zu treten (vgl. Mon 54). Darum existiert das Beste. Gott hat das Wissen, die Macht und die Güte hierzu, denn er allein ist in diesen drei Eigenschaften unbegrenzt (vgl. MD 1).

Hieraus erhellt zwar, warum, wenn Gott alles entsprechend eingerichtet hat, die Monaden und damit die Welt zum Besten streben, aus welchem Grund er allerdings die Welt so eingerichtet sehen wollte, bleibt unklar, denn daß Gott gütig ist, ist kein philosophisches Postulat, sondern ein theologisches Dogma, und folgerichtig ist dies auch die Stelle im Leibnizschen System, die am häufigsten angegriffen wurde. Am Anfang des »Metaphysischen Diskurses« behauptet Leibniz, daß der vollkommene Zustand der Welt ganz empirisch an der Welt zu beobachten sei. Man wundert sich und vermutet, daß er den Begriff der Vollkommenheit vielleicht systemisch versteht. Die Welt wäre demnach vollkommen in dem Sinne, daß sie bis in jedes einzelne Element hinein aufeinander abgestimmt ist als ganzes funktioniert, denn der Systemgedanke impliziert, daß die Hinzunahme bestimmter Vorzüge mit dem Verzicht auf andere Vorzüge verbunden ist, die Vollkommenheit eines Systems also nicht in der Abwesenheit übler oder inferiorer Elemente besteht. Bestmöglichkeit also bezogen auf sich selbst, und so ist es durchaus gemeint. Bezogen auf das Ensemble der Möglichkeiten überhaupt, auf alle möglichen Welten, reicht dieses Argument aber nicht hin. Leibniz muß beweisen, aus welchem Grund keine andere Welt besser sein könnte als die vorhandene.

Wiewohl die Güte Gottes ein Dogma und also der Begründung nicht bedürftig, der Überprüfung mithin entzogen ist, läßt es sich im philosophischen Zusammenhang, zähneknirschend geduldet, auf philosophische Weise begründen und nutzbar machen. Wenn man die Existenz Gottes oder eines Göttlichen annimmt – und es gibt, wie gleich noch zu sehen, in der klassischen Metaphysik gute Gründe, das zu tun –, wird man auch Gründe für das Wirken des Göttlichen in der Welt finden, denn der Gottesbegriff ist nicht leer, sondern hat bestimmte Inhalte: Gott handelt nicht willkürlich, sondern den ewigen Wahrheiten gemäß, also vernünftig. Darin, sagt Leibniz, bestehe seine Freiheit (vgl. MD 3). Die ewigen Wahrheiten, die Gott bei der Schöpfung befolgt hat, sind der Inhalt des göttlichen Verstandes (vgl. Mon 43), und wenn Gott ihnen gemäß handelt, verwirklicht er nichts anderes als sich selbst. Was aber könnte freier sein als das, was ohne jedes äußere Hindernis sich selbst verwirklichen kann, und was könnte dem eigenen Willen mehr entsprechen als die Fähigkeit, nach der eigenen Natur handeln zu können?

Gott ist der Vater der Dinge und zugleich der Motor ihrer Bewegungen. Er besorgt ihre Vortrefflichkeit und ihr harmonisches Gesamtverhältnis. Und er hat alles so gut eingerichtet, wie es sich, solange man mit Materie arbeitet, irgend machen ließ. Auch, was der Schöpfung folgt, der Lauf der Welt, den direkt zu steuern er sich durchaus enthalten kann, ist vermittels der Stellvertreter Gottes (der Monaden mit ihrer Perzeption) durch Gott geregelt. Es zeigt sich, daß das Leibnizsche System ohne Gott in Erklärungsnot geriete. Der Gottesbegriff kommt bei Leibniz überall dort ins Spiel, wo es gilt, etwas plausibel zu machen, das mit den Mitteln der gewöhnlichen Vorstellung – von den Gegenständen der Erfahrungswelt wie den endlichen Bestimmungen des menschlichen Verstandes – nicht erklärbar wäre bzw. bald in einen Widerspruch oder eine Aporie führte. Das Verstandesdenken gerät im Angesicht des Absoluten, Unendlichen, Unbegrenzten, Äußersten (dem Anfang der Welt z.B. oder ihrem Bestzustand) unvermeidlich in Paradoxien; Kant hat das mit seinen Antinomien auf den Begriff gebracht, intuitiv aber war dieses Dilemma des endlichen Verstands, der das Unendliche erfassen soll, bereits für die Metaphysik der frühen Neuzeit maßgeblich.

Peter Hacks, der Schöpfer jener unvergeßlichen Gott-Figur aus »Adam und Eva«, schrieb an Hans Heinz Holz, den universell denkenden Leibniz-Exegeten, daß Gott in der klassischen Metaphysik diejenige Funktion ausfülle, die die Null in der Mathematik und der Joker im Rommé besitze.14 Das ist gut gesagt und bringt doch aber zwei Funktionen zusammen, die sehr verschieden sind. Die Null in der Mathematik hat eine andere Funktion als der Joker im Rommé. Die Null selbst wird nicht erfahren, aber sie ist bedeutsam für das ganze System der Mathematik; ohne sie stürzte es zusammen. Der Joker hingegen ist eine rein praktische Angelegenheit. Er tritt immer an die offene Stelle einer Einzelheit, hilft, eine bestimmte Lücke zu füllen. Gott läßt sich zur Konstitution eines weltanschaulichen Systems ebenso heranziehen wie zur Erklärung einzelner Phänomene, aber der Begriff von Gott ist dann durchaus ein anderer. Es gibt Philosophen, bei denen Gott beide Funktionen zugleich erfüllt, etwa die Occasionalisten der kartesischen Schule mit ihrem System der Gelegenheitsursachen. Bei Leibniz ist der Werkmeister durch sein Werk erkennbar (vgl. MD 2), und das Werk ist so vollkommen eingerichtet, daß Gott nicht als Ursache irgendeiner Gelegenheit in Erscheinung zu treten braucht. Müßte er das tun, spräche das durchaus gegen die Vollkommenheit seiner Schöpfung.

In der Metaphysik hängt alles mit allem zusammen. (Deswegen ist sie so widersprüchlich.) Aus dem äußerst atomistischen Substanzbegriff folgt der äußerste Determinismus der prästabilierten Harmonie. Dieser Determinismus wieder hat Folgen für den Leibnizschen Freiheitsbegriff, und selbst wenn, wie vorweggenommen sei, die Leibnizsche Metaphysik selbst ohne Wert wäre, für diesen Begriff der Freiheit schon hätte sich der ganze Aufwand gelohnt.

III

Um gleich den dynamischen Punkt anzusteuern: Für Leibniz schließen sich Freiheit und Determinismus – die Freiheit des menschlichen Willens und die Vorherbestimmtheit der Handlungen durch Gott – nicht aus. Das ist kein geringer Skandal, denn offenbar gehört es zu den unabänderlichen Vorstellungen des gemeinen Verstandes, daß Freiheit und Notwendigkeit sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Die Vorstellung der Freiheit verführt leicht zu der Annahme, daß dieser Begriff nur durch eine Abwesenheit von Notwendigkeiten bzw. Gesetzen gedacht werden kann, als unbedingte Freiheit also, die weder Gründe noch Zwänge für Handlungen zuläßt. Sie evoziert ein Gefühl des Unbedrängtseinwollens, des Auf-das-andere-Pfeifens und gibt den seichten Gemütern von Joachim Gauck bis Charles Manson das Gefühl, etwas Souveränität gegenüber der Welt zu wahren, die sich ihrem Verständnis entzieht. Gegen das widerspruchsvolle, stets vermittelte Realitätsprinzip setzt das überforderte Ich die absolute Freiheit. Von der anderen Seite her führte die Vorstellung einer absoluten Notwendigkeit zum Ausschluß des Freiheitsbegriffs, und es stehen sich zwei vorgestellte Welten gegenüber: eine unbestimmte, zufällige Welt, in der es keine Ursachen, keine Zwänge gibt, und eine Welt, in der nichts zufällig und alles notwendig ist. Man wird, wenn man ein konsistentes Kalkül zugrundelegt, wohl einsehen, daß eine Welt, die diesen beiden Vorstellungen gerecht werden könnte, nicht existieren kann.

Der Ort, an dem jener dynamische Punkt, in dem Freiheit und Determinismus vermittelt werden sollen, seine Ausdehnung erhält, ist die »Theodizee«.15 Anders als Gott aber schafft Leibniz nicht aus dem Nichts; das Thema hat einen externen und einen internen Vorlauf. Jenes durch die theologisch-philosophischen Debatten, die Leibniz in seiner Zeit vorfand (vgl. Theod § 39–41), dieses, weil das Problem in Leibnizens eigener Philosophie ein gewichtiges Thema ist (vgl. Theod Vorrede 7). Seine Position ist dezidiert deterministisch, und dennoch kann er die Existenz der Willensfreiheit, weil sie »für die Sittlichkeit des Handelns wesentlich ist« (Theod Vorrede 14), nicht abweisen. Es gehört allerdings zu den Eigenheiten der Zeit, in der Leibniz philosophierte, die Frage nach Freiheit und Notwendigkeit als eine theologische zu stellen, und so erscheint sie als Widerspruch zwischen freiem Willen des Menschen und göttlichem Schicksal. Letzteres zerfällt wiederum in zwei Teile: Vorsehung und Vorbestimmtheit durch Gott.

Leibniz besteht darauf, daß sittliches Handeln wesentlich mit dem freien Willen verbunden ist: »Recht und Unrecht, Lob und Tadel, Strafe und Belohnung können nicht auf notwendige Handlungen angewendet werden, und niemand kann verpflichtet sein, das Unmögliche zu tun oder das unbedingt Notwendige nicht zu tun« (Theod Vorrede 7). Bei sittlichen Handlungen ist es immer möglich, auch das Gegenteil der jeweiligen Handlung zu tun. Nur deswegen kann man ja von Handlungen sprechen, denen eine Entscheidung vorausgeht, und es ist hiermit schon einmal festgehalten, daß in den sittlichen Handlungen der Menschen keine absolute Notwendigkeit waltet, daß sie also zufällig sind. »Ich bin«, schreibt Leibniz demgemäß, »der Ansicht, daß unser Wille nicht nur vom Zwang, sondern auch von der Notwendigkeit frei ist« (Theod § 34). Aber der Umstand, daß die sittlichen Handlungen zufällig sind, bedeutet nicht, daß in ihnen keine Gründe liegen. Alles, was geschieht, hat einen bestimmenden Grund (vgl. Theod § 44), auch wenn »man sehr häufig das nicht gewahr wird, was uns bewegt« (Theod § 35) und »dieser Grund häufig sehr zusammengesetzt und uns unbegreiflich« (Theod § 49) ist. Es ist nicht allein die Vernunft, die den Grund für unsere Handlungen gibt. Der Wille steht bei Leibniz als eigenständiger Begriff. Zufälligkeit ohne Urteilskraft wäre zwar nicht Freiheit, jedoch Urteilskraft ohne Handlungstrieb wäre ein »Verstand ohne Willen« (Theod § 34). Wer also von der Freiheit des Willens redet, muß vernunftbegabte und strebsame Wesen voraussetzen.

Gegen diese freien Vernunftgeschöpfe, deren Handlungen Resultate ihrer Entscheidungen sind, steht indes die Vorstellung des Determinismus, der für Leibniz konkret in zweierlei besteht: in der Vorsehung und in der Vorbestimmung der Ereignisse durch Gott. Dementsprechend geht Leibniz bei seinem Versuch, Determinismus und Handlungsfreiheit miteinander zu vereinbaren, so vor, daß er zunächst die Probleme, die sich durch die Vorstellung der Vorsehung Gottes ergeben, zu beseitigen sucht und im Anschluß daran die Vorbestimmtheit der Handlungen und Ereignisse durch Gott behandelt.

Zunächst steht der Hinweis, daß das Vorherwissen der Wahrheit ihrer Bestimmtheit nichts hinzufügt, denn die künftigen Ereignisse treten nicht ein, weil Gott sie voraussieht, sondern Gott sieht die Ereignisse voraus, weil sie eintreten (vgl. Theod § 37f.). Ihre Realisierung hängt also nicht vom Wissen Gottes, sondern von ihrer Vorbestimmtheit (durch Gott) ab. Woher aber Gott sein Wissen hat – denn es ließe sich ja auch denken, daß er den Lauf der Welt im voraus bestimmt, aber sich des Inhalts jeder einzelnen Bestimmung nicht vollends bewußt ist, so wie ja auch die Menschen sich der Folgen ihrer Handlungen nicht immer bewußt sind –, klärt Leibniz durch den Verweis auf den Verstand Gottes, der nichts anderes als das Reich der unendlichen Zahl aller möglichen Welten ist. Wir berühren hier jenen Teil der Leibnizschen Metaphysik, der ihn zum vorläufigen Urheber der späteren Modallogik gemacht hat. Die zufälligen Handlungen, die durch den freien Willen der Menschen befördert werden, sind möglich. Sie gehören demnach in den Bereich des göttlichen Verstandes, d.h. sie werden von Gott gewußt, und zwar als das, was sie sind: zufällige Handlungen. Weil Gott alles denkt, was möglich ist (und nicht nur das, was wirklich, und auch nicht nur das, was notwendig ist), wüßte er demnach, selbst wenn die zufälligen Handlungen der vernünftigen Geschöpfe (die durch ihren freien Willen befördert werden) nicht von Gottes Beschlüssen abhängig wären, was in Zukunft passieren wird, da er sie in der Region der Möglichkeiten bereits gesehen hat, bevor er in die Lage kommt, über ihre Realisierung zu entscheiden (vgl. Theod § 42).

Die Vorstellung der Vorbestimmung erweist sich dagegen als schwieriger. Leibniz ist der Auffassung, daß die Zukunft nicht minder bestimmt ist als die Gegenwart und die Vergangenheit (vgl. Theod § 36). Der gesamte Lauf der Welt steht von Beginn an fest und muß im Grunde nur noch ins Dasein treten. Das aber gilt demnach auch von den Handlungen der Menschen, die doch als zufällig bestimmt wurden. Leibniz macht sich diesen Einwand selbst und beantwortet ihn damit, daß ein Ereignis in seiner exakten Bestimmung durch seine Realisierung nicht verändert werde, und löst alsdann den Widerspruch zwischen Zufälligkeit und Vorbestimmtheit auf: »Das Zufällige ist daher, als Zukünftiges, nicht weniger zufällig, und die Bestimmtheit … ist mit der Zufälligkeit nicht unvereinbar« (ebd.). Es folgt aber aus der Vorbestimmtheit eines Ereignisses nicht, daß es schlechthin notwendig ist, denn »die notwendige Wahrheit ist die, deren Gegenteil unmöglich ist oder einen Widerspruch enthält« (Theod § 37). Ein vorbestimmtes zufälliges Ereignis ist eines, das zwar determiniert und insofern notwendig16 ist, aber seine Determination selbst ist nicht notwendig: »Mit einem Wort, ich bin der Ansicht, daß der Wille stets mehr zu dem Entschluß neigt, den er schließlich faßt, daß er aber nie gezwungen ist, ihn zu fassen. Es ist gewiß, daß er diesen Entschluß fassen wird, aber es ist keineswegs notwendig, daß er ihn faßt« (Theod § 43). Zum Beweis der Möglichkeit dieser doppelten Natur führt Leibniz zwei Prinzipien der Vernunftschlüsse an (vgl. Theod § 44). Das eine ist das Prinzip des Widerspruchs, das – gemeint ist offenbar das Verhältnis der Kontradiktion – besagt, von zwei einander widersprechenden Aussagen müsse immer eine wahr und eine falsch sein. Hieraus läßt sich ableiten, daß wenn die Vorbestimmtheit eines Ereignisses am Charakter dieses Ereignisses nichts ändert (wenn z.B. das Ereignis, ob es nun eintritt oder nicht, zufällig ist), dann Zufälligkeit und Vorbestimmtheit dieses Ereignisses keine Kontradiktion bilden, und folglich ist möglich, daß sie zugleich am selben Ereignis sein können. Das zweite ist das Prinzip des bestimmten Grundes (offenbar ein Derivat des Satzes vom zureichenden Grund). Ihm zufolge passiert nichts, ohne daß eine Ursache bzw. ein Grund vorliegt, der für das Ereignis genau den entscheidenden Ausschlag gibt. Man sieht aus beiden Prinzipien also zum einen, daß Zufälligkeit und Bestimmtheit bei Ereignissen keinen Widerspruch darstellen, und zum anderen, daß jedes Ereignis bestimmt sein muß.

Was es indes mit den genaueren Umständen dieser Vorherbestimmtheit auf sich hat, und warum Leibniz glaubt, daß die Determination der Welt mit der Schöpfung bereits vollendet feststand, kann man am besten verstehen, wenn man in Zusammenschau der Leibnizschen Philosophie sich anderer theoretischer Elemente, vor allem seines Konzeptes der Substanzen und der daraus sich bildenden Ordnung, erinnert. Da ich bereits lang war, darf ich nun kurz sein:

Willensfreiheit zeigt sich in Entscheidungen vernunftbegabter Geschöpfe zugunsten von Handlungen, die weder unmöglich noch notwendig sind. Es handelt sich also um Entscheidungen, die auch hätten unterbleiben können, d.h. um mögliche oder zufällige Entscheidungen. Diese Entscheidungen sind aber nie grundlos: Sie sind, wenn sie Entscheidungen sind, von innen her motiviert. Diese Motivation kann nun wiederum bewußt sein oder unbewußt. Ferner kann sie in Vernunftgründen bestehen oder in anderen Gründen, z.B. im Streben nach Vergnügen. Immer aber liegt einer Entscheidung ein bestimmender Grund zugrunde. Das Individuum, das eine Entscheidung trifft, hat die Gründe für diese Entscheidung in sich, in seiner eigenen Disposition, die ihm von Gott am Anfang, im Akt der Schöpfung, eingegeben wurde. Hierzu gehört die Neigung des Individuums nach bestimmten Richtungen, oder genauer: In einer spezifischen Situation wird ein spezifisches Geschöpf seiner inneren Beschaffenheit und der Beschaffenheit der Situation gemäß handeln, und dieses Handeln, das Ausdruck des freien Willens und durchaus zufällig ist, ist Gott, weil es möglich ist und dem Bereich des göttlichen Verstandes angehört, bekannt, und wenn Gott also dem Geschöpf eine bestimmte Beschaffenheit eingepflanzt hat, so war mit diesem Augenblick auch klar, wie dieses Geschöpf in dieser oder jener Situation sich verhalten werde. Die Situationen wiederum ergeben sich aus den Aktivität und Passivität aller Geschöpfe einschließenden Perzeptionen der Substanzen und der prästabilen Harmonie, in der sich alle miteinander befinden. Letzteres bedeutet vor allem, daß das Geschöpf, wenn es sich in die große Ordnung einfügt, wenn es genau seinen Platz in der Welt einnimmt und seine Pflicht erfüllt, ausschließlich seinem inneren Drang folgt. Es sind die Entscheidungen des Geschöpfes also durchaus frei, und gegen diese Freiheit spricht nicht, daß das Resultat der Entscheidung, bevor sie passiert, von Gott gewußt und (durch das Programm der Substanzen) vorbestimmt ist.

Genausowenig also, wie Leibniz von einer absoluten Freiheit ausgeht, geht er von einer absoluten Notwendigkeit unserer Willensentscheidungen aus. Wie schon angedeutet, geht Leibniz von verschiedenen Graden von Notwendigkeit aus. Eine absolute Notwendigkeit würde in der Tat die Freiheit eliminieren, da Freiheit gerade in der Wahl besteht, und eine Wahl nur dort stattfinden kann, wo es sich weder um Unmögliches noch um Notwendiges handelt. Eine niedrigere Stufe von Notwendigkeit wäre die, in der die Individuen die Wahl hätten, es anders zu machen, das aber aufgrund ihrer inneren Anlagen nicht tun. Diese Sorte Notwendigkeit ist nur insofern notwendig, als die freien Entscheidungen der Individuen niemals ohne Gründe sind, diese Gründe aber in ihren Neigungen liegen, die Neigungen wiederum in ihren Dispositionen; die Dispositionen schließlich sind von Beginn der Schöpfung in ihnen eingepflanzt, und also geschieht jede Entscheidung, die ein Geschöpf in seinem Leben trifft, vermöge einer Notwendigkeit, aber eben einer, die in ihm selbst liegt.

Neben den theoretischen Implikationen scheint auch die praktische Funktion des Leibnizschen Freiheitsbegriffs wichtig. Da die Vorstellung einer vollends determinierten Welt in der Konsequenz des praktischen Handelns allzu leicht Haltungen provoziert wie das fatum mahumetanum oder das fatum stoicum17, die vom Menschen fordern, sich in das Geschick zu fügen, d.h. Gefahren nicht auszuweichen respektive Vorteile nicht anzustreben, nimmt Leibniz in seiner Schicksalskonzeption eine entscheidende Differenz vor. Während die traditionellen Schicksalskonzeptionen das Schicksal aus sich selbst begründen, also eine »schicksalsbedingte Notwendigkeit« behaupten, entwickelt Leibniz die Vorstellung, daß nicht dieser oder jener Fall eintrete, weil das Schicksal es vorschreibt, sondern daß das Schicksal ihn vorschreibt, weil er eintreten muß. Aus dieser Änderung ergibt sich eine vollkommen andere Maßgabe ethischen Verhaltens als bei den älteren Haltungen. Da jedes Ereignis einen Grund hat, kommt es auch stets durch ein vorhergehendes Ereignis zustande. Ein zum Tode verurteilter Delinquent kommt zu Tode, wenn er den Giftbecher trinkt. Entzieht er sich der Hinrichtung, bleibt er am Leben. In den traditionellen Schicksalsvorstellungen bliebe sein Schicksal von seiner Entscheidung zugunsten der Flucht oder der Hinrichtung unberührt. Nach Leibniz bestünde die Determination dagegen darin, daß sich der Delinquent für eine Variante entscheidet und daß auch diese Entscheidung, also sein Verhalten, determiniert ist. Indem also Leibniz den freien Willen nicht einfach gegen das Schicksal setzt, sondern ihn in es integriert, schließt er in seinen Begriff von Schicksal die Aktivität ein.

Durch dieses Ermöglichen der individuellen Aktivität und dadurch, daß die Determiniertheit der Ereignisse aus den Handlungen der Geschöpfe hergeleitet wird, ist Leibniz mit seinem Menschenbild den Vorstellungen moderner Denker, die den Menschen als sich selbst schaffendes Wesen auffassen, viel näher, als es in Ansehung seiner Schöpfungsvorstellung zunächst den Anschein hat. Auf der anderen Seite wirkt der durch den Begriff der göttlichen Ordnung gegebene starke Bezug zu den Gegebenheiten der Wirklichkeit als erholsames ein Antidot im Zeitalter des großgeschriebenen Ichs, aus dem seit Fichte und Friedrich Schlegel kein Entkommen zu sein scheint. Erreicht wird die Vermittlung von Freiheit und Determinismus aber nicht durch Vermittlung, sondern dadurch, daß das Allgemeine gegenüber dem Besonderen maximale Ausdehnung erfährt. Die Determiniertheit, die Vorbestimmtheit, die Synchronisiertheit der einzelnen Dinge und Menschen wird bei Leibniz so sehr zum absoluten Prinzip, das sie das äußerste Maß an Freiheit, Aktivität und Individualität in sich aufzunehmen vermag. Da kein wirkliches Geschehen denkbar ist, das jenseits dieser Ordnung vonstatten gehen könnte, erhält das Individuum äußerste Möglichkeit zum eigenen Handeln. Auf die Art läßt sich ein Weltganzes denken, in dem Ordnung und Chaos, Gesetz und einzelne Handlung, Partitur und Improvisation sich nicht ausschließen.

  1. »Système nouveau de la nature et de la communication des substances, aussi bien que de l’union qu’il y a entre l’ame et le corps« (Paris 1695); hier zit. n. d. Übers. v. Hans Heinz Holz (vgl. G.W. Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik (= Philosophische Schriften, Band I), Frankfurt a.M. 1965, S. 191–319), im folgenden: NS. []
  2. »Denn ich fand kein Mittel zu erklären, wie der Körper irgend etwas in der Seele geschehen lassen könnte, oder umgekehrt, noch wie eine Substanz mit einer anderen erschaffenen Substanz verkehren könnte« (NS 12). []
  3. vgl. NS 4 sowie das 1. Kapitel der »Monadologie«. []
  4. Dieses Problem von Materie und Bewegung, das ein phänomenologisches Derivat des Widerspruchs von Stoff und Form bzw. Ausdehnung und Kraft ist, beschäftigt nicht erst die neuzeitliche Philosophie. Es steht am Anfang der Philosophie überhaupt, bei Thales. Der sagt, folgt man Aristoteles, alles bestehe aus Wasser (DK 11 A 12). Und ebenso sagt er, folgt man wiederum Aristoteles, alles sei voll von Göttern (DK 11 A 22). Zugleich sei also alles im Stofflichen verwurzelt und dennoch voll beseelter Dynamik. Das weist auf jenes Verhältnis, das noch Descartes nicht anders als dualistisch fassen konnte. []
  5. G.W. Leibniz: Kleine Schriften zur Metaphysik (= Philosophische Schriften, Band I), hrsg. u. übers. v. Hans Heinz Holz, Frankfurt a.M. 1965, S. 199. []
  6. »Wenn es indessen keine wahren substantiellen Einheiten gäbe, so gäbe es auch nichts Substantielles oder Wirkliches in der Sammlung« (NS 11). []
  7. »Les Principes de la philosophie ou la Monadologie« (1714), Kapitel 38–60; im folgenden: Mon. []
  8. Ein eklatantes Beispiel ist Newtons Einführung der Gravitation in das physikalische System, welcher Vorgang nichts anderes war als die Etablierung einer modellhaften Plombe, die die offenbare Wirkung größerer Massen aufeinander erklären sollte. Was die physikalische Natur der Gravitation ausmacht – nämlich, daß es sich dabei recht eigentlich nicht um eine Kraft handelt –, hat erst Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie erklären können. []
  9. Daß das Wesentliche einer Sache nicht in äußerlichen Beziehungen bestehen darf, sondern in letzter Instanz als den Dingen immanent bestimmt sein soll, ist gerade die Schwierigkeit an dem Widerspruch zwischen Substanzen (Stoffen) und den von ihnen gebildeten Strukturen (Formen). Den Gedanken eines Wesentlichen nicht akzeptieren zu können, das seinen Ort in einer Beziehung zwischen Dingen hat, scheint der hauptsächliche Antrieb für Leibniz gewesen zu sein, das Modell der Monaden zu entwickeln. []
  10. »So ist Gott allein die ursprüngliche Einheit oder die ursprüngliche einfache Substanz; alle geschaffenen oder abgeleiteten Monaden sind deren Erzeugnisse« (Mon 47). []
  11. Daß Gott universell ist, besagt allerdings nur, daß alles, was auf der Welt existiert, von Gott stammt. Es ist, auch wenn es in diese Richtung geht, ersichtlich kein pantheistisches Konzept. []
  12. vgl. auch Mon 44: Gott als Wesen, »bei dem es genügt, möglich zu sein, um wirklich zu sein.« []
  13. vgl. »Discours de Métaphysique« (1686, ED Hannover 1846), Kapitel 1–8 (im folgenden: MD), hier: MD 1. []
  14. vgl. Peter Hacks / Hans Heinz Holz: Nun habe ich Ihnen doch zu einem Ärger verholfen. Briefe, Texte, Erinnerungen, hrsg. v. Arnold Schölzel, Berlin 2007, S. 63. []
  15. »Essais de Théodicée. Sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal«, Amsterdam 1710; hier zit. n. d. Übersetzung v. Herbert Herring, in: G.W. Leibniz: Philosophische Schriften. Französisch und Deutsch, Band 2, Frankfurt a.M. 1965 (im folgenden: Theod § 34–52). []
  16. Leibniz – wir kommen noch drauf – unterscheidet aber andernorts verschiedene Grade von Notwendigkeiten (vgl. z.B. Theod Vorrede 14). In Theod § 37 ist ganz offenkundig von der absoluten oder unbedingten Notwendigkeit die Rede. []
  17. Leibniz differenziert zwischen dem islamischen fatum mahumetanum, das den Menschen ganz aus der Verantwortung für sein Handeln nimmt und ihn zu bedingungslosem Glauben in die göttliche Lenkung anhält, und dem fatum stoicum, das zwar nicht zu kopflosen Handlungen im Alltag rät, aber gleichfalls zur Passivität drängt und in der Hauptsache darauf abzielt, dem Menschen die Angst vor dem Künftigen zu nehmen (vgl. Theod Vorrede 8–10). []

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