Ich schätze Ockham sehr, aber sein Rasiermesser ist nichts anderes als die Einführung von Bauernregeln in die Erkenntnistheorie. Es gibt tatsächlich keinen logisch zwingenden Grund, aus dem die Einfachheit der Kompliziertheit vorzuziehen sei. In der Epistemologie interessiert nicht, auf wie umständliche Weise eine Erkenntnis erlangt wird, solange sie nur erlangt wird. Das Rasiermesser spielt mit dem gemeinen Menschenverstand und dessen Ressentiment gegen das Komplexe. Da ist immer dieser Glaube, daß jede Wahrheit ganz einfach ausgedrückt werden kann, und das ist nichts anderes, als daß der Maßstab für das, was wahr ist, vom Objekt in das Subjekt verschoben wird.
Zugleich – auch wahr nämlich, aber dem ersten Argument ganz entgegengesetzt – muß man berücksichtigen, daß in der Philosophie wie in jeder anderen geistigen Disziplin die Erkenntnis wesentlich an die Form gebunden ist. Und wenn zwei Philosophen dasselbe mit unterschiedlichen Formen sagen, ist es schon nicht mehr dasselbe. Die Form hat selbst eine Bedeutung, ein Vermögen, weitere Erkenntnisse nach sich zu ziehen. Insbesondere im Fall von Theorien, die Bewegungen ausdrücken sollen (Hegels, Marxens, Freuds z.B.), in denen der Gehalt gerade in der sorgsam ausgeformten Gestalt erst wesentlich das wird, was er ist. Ich sage nicht, daß jeder Formreichtum etwas taugt, aber ich halte es für falsch, a priori jeden Reichtum an Form zu unterbinden.
Was ich sagen will, ist dies: Hätte Ockham Rumpfkluft getragen, wär uns sein Rasiermesser wohl erspart geblieben. Wenn einfaches genial ist, dann ist es nicht genial, weil es einfach ist, sondern weil es genial ist.
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