Sep 252013
 

Juli Zeh, das Ich & die Wiederkehr des deutschen Imperialismus

»Wieso scheint das kaum einen zu interessieren?«, fragt anlässlich des NSA-Skandals die Frankfurter Rundschau eine Schriftstellerin namens Juli Zeh.[i]

Es ist doch gut, dass es Zeitungen gibt, die solche Fragen stellen, denn wahrscheinlich ist die NSA das am wenigsten behandelte Thema dieses Jahres – gleich nach dem Nahostkonflikt und der Bundestagswahl. Und es ist gut, dass es Menschen gibt, die sich der Beantwortung solcher Fragen stellen. Rauskriegen, was der Grund für einen vorliegenden Zustand ist, kann jeder Idiot. Die hohe Schule ist, nach den Gründen für Zustände zu fragen, die nicht vorliegen. Und was nun, Frau Zeh, ist der Grund, aus dem der NSA-Skandal keine Sau aufregt?

»Es gibt eine große Verunsicherung darüber, was genau passiert, und ein diffuses Gefühl, dass man eh nichts dagegen unternehmen kann … es wird Jahrzehnte dauern, bis das Ausmaß der Veränderungen ins Bewusstsein der Leute wirklich einsickert.« Die Menschheit wird also Jahrzehnte brauchen, um zu erkennen, was Juli Zeh bereits heute weiß. Wir werden der Autorin Dank zu schulden haben, dass sie uns schon Jahrzehnte vorher an ihrem Wissen hat teilhaben lassen, und vielleicht wirkt diese Teilhabe sich ja beschleunigend auf unseren Erkenntnisprozess aus. Das genaue Datum, an dem sich bei uns der Schalter umlegt, dürfte Juli Che indes geheimhalten, denn Revolutionäre sind nicht schwatzhaft.

Ich will gar nicht über den beiläufigen Unsinn reden, der da zwischen den wenigen Worten in bemerkenswerter Dichte versammelt ist. Über die politische Quantenmechanik etwa (»dass schon der beobachtete Mensch kein freier Mensch mehr ist … die Beobachtung ist ein Eingriff, eine Manipulation dessen, der beobachtet wird«), die wahlweise entweder so weit von der Wirklichkeit ins Ideal abrückt, dass die Beobachtung durch Geheimdienste vom allergewöhnlichsten Leben, in dem wir ja auch fortwährend beobachtet werden, nicht mehr zu unterscheiden ist, oder unterlässt, den Grad anzugeben, ab dem von Unfreiheit geredet werden kann. Ich will auch nicht reden über Phantasien, die allenfalls zeigen, dass die Autorin einmal zu oft »Minority Report« gesehen hat (»Stellen wir uns folgenden Fall vor: ein Algorithmus berechnet auf Grundlage der angehäuften Daten, dass ein bestimmter Mensch in den nächsten sechs Monaten mit einer Wahrscheinlichkeit von 85 Prozent ein schweres Verbrechen begehen wird«). Oder über ihren Ich-Begriff …

Nein, über den will ich doch etwas reden. »Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich. Man verliert dann im Grunde sich selbst.« Steht da, so undurchdacht wie bedeutungsheischend dahingesagt, und es ist schon deswegen Unfug, weil Geheimnisse natürlich nicht Voraussetzung von Persönlichkeit sind, sondern deren Folge, und man nicht einfach jedes an einer Sache unvermeidlich Vorhandene zu einem zureichenden Grund erklären kann. Der von der Autorin deklarierte Ich-Begriff konstituiert sich unter Ausschluss der Gesellschaft, in der das Ich weilt. Geheimnisse sind das, was sich ergibt, wenn das Ich auf die Gesellschaft trifft. Zu dieser Kollision gehört auch die Möglichkeit, dass offenbar wird, was die Person in sich zu verschließen sucht. Vielleicht sind die Masken, die ein Mensch trägt, ein Teil von ihm, und der Angriff auf die falsche Form eines Menschen auch ein Angriff auf ihn selbst. Aber wenn eine Lüge zusammenbricht und ein Mensch sich selbst neu erfinden muss, ist das kein Untergang seines Ichs, sondern selbst ein (wenn auch unerfreulicher) Teil seiner Ich-Bildung. Am Ende dieses Prozesses stünde immer wieder gleichfalls ein Ich. Das ist banal, denn es passiert alle Tage, dass Menschen bei Lügen ertappt und in der folgenden Verwicklung in die Öffentlichkeit gezerrt werden, und dass das passiert, daran haben das Internet, die mediale Öffentlichkeit und jenes Scheusal, das Juli Zeh liebevoll »unseren demokratischen Rechtsstaat« nennt, einen weitaus größeren Anteil als z.B. die NSA, die zwar alles weiß, aber kaum je Gebrauch von diesem Wissen macht. Überhaupt gehört zur Paranoia des Bürgerrechtlers die Annahme, dass der Staat keine andere Funktion und Leidenschaft besitze, als gerade ihm aufzulauern und das Leben schwerzumachen.

Es geht nicht ums Ich, nicht um die Welt, sondern nur um das, worum es der politischen Romantik immer geht: den eigenen Bauchschmerzen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Da fliegen große Begriffe durch die Luft, aber Ideologie ist nie was anderes als Überbau von Bauchschmerzen. Dass es der Autorin irgendwie auch um das Ich zu tun ist, das gleich einem scheuen Reh im Angesicht der dröhnenden Autobahn den Staat und seine Macht flieht, mag noch angehen. Es scheint sich aber mehr noch darum zu drehen, wer da die Macht ist. Man kann, die eingangs zitierte Frage der Rundschau auf vom Kopf auf die Füße stellend, fragen: Wieso interessiert gerade dieser Skandal so viele so sehr?

Dass überwacht wird, ist nicht neu. Lange schon, bevor Facebook und Google die Welt unter sich aufteilten, öffnete man Briefe, hörte Telephone ab, setzte verdächtigen Subjekten V-Leute in den Pelz usw. Das war nie schön, manchmal notwendig, oft vernünftig. Und dieses Handwerk beherrschten BND und Verfassungsschutz ebenso wie CIA, FBI, KGB oder das MfS. Was sich geändert hat, das sind die technischen Möglichkeiten, und in der Tat: Je umfassender und effektiver die Überwachung vermittels technischer Besserungen wurde, desto anonymer konnte sie werden. Kein Mensch liest Milliarden tägliche E-mails durch. Wenn Juli Zeh fürchtet, ihr Ich zu verlieren, weil Daten ihres Treibens erfasst werden, fragt sich doch, wer außer einem Computer, der bei einigen Keywords aktiv wird, beobachtet sie denn?

Aber kann dieses Wissen der gesammelten Daten nicht missbraucht werden? Sicher kann es. Doch auch das ist kein spezifisches Problem der NSA oder der Computertechnik, sondern besteht, seit es so etwas wie eine organisierte öffentliche Ordnung gibt, zu der – neben Strafverfolgung und Polizeidienst – immer auch das Sammeln von Informationen gehört. Obgleich die heutigen Einrichtungen anonym und technisiert sind, am Ende sitzt doch eine Person, die dadurch, dass sie dort sitzt, Macht hat und diese auch gebrauchen könnte. Wir alle haben Filme gesehen wie »Staatsfeind Nr. 1« oder »Die drei Tage des Condor«, Serien wie »Prison Break« oder »24«, in denen Vorgänge beschrieben werden, die unwahrscheinlich, aber denkbar sind. Aber was genau beschreiben sie? Doch nur, dass selbst in der technischen, durchorganisierten und transparenten Gesellschaft Manipulationen möglich sind wie zu früheren Zeiten auch. Der NSA-Skandal hat keine Erkenntnis gebracht außer der, dass ein Geheimdienst tatsächlich geheimdienstlich aktiv ist.

Die exzessive Auseinandersetzung allerdings mit dem Wirken des MfS, die von der monströs großen Gauck-Behörde organisiert und vom Ensemble der medialen Einrichtungen aufgenommen und verstärkt wurde, hatte neben allerlei anderen Effekten auch den, dass im Denken der Bevölkerung ein affektives Verhältnis zur eigenen Gegenwart, dem vereinigten Deutschland, verstärkt wurde. Da man zur selben Zeit, als es ununterbrochen um die Stasi ging, die Geschichte der westdeutschen Dienste praktisch nicht untersuchte, war dieser Effekt unvermeidlich. Obwohl kaum wer naiv genug war, es auch ausdrücklich zu formulieren, herrschte die intuitive Annahme vor, dass strukturelle Überwachung eine Sache der Vergangenheit und des Ostens sei. Das Entsetzen über den NSA-Skandal ist die nachgeholte Enttäuschung, die Wut gekränkter Liebe, die immer geahnt hat, dass sie betrogen wird, es aber so lange beiseiteschob, wie das möglich war. Der Normalbürger liebt die Vorstellung, dass das arglose Erscheinungsbild der Zivilgesellschaft auch deren Wahrheit ausmacht. Er muss die schmutzige Seite derjenigen Umwelt, in der und von der er lebt, auf abgrenzbare Objekte übertragen, um seinem bequemen Treiben weiterhin nachgehen zu können. Der Moment, in dem die Erkenntnis jener schmutzigen Seite ihn mit Macht heimsucht, kann demnach keiner der Klarheit sein. Diente das MfS dem Abschieben des Überwachungsproblems auf die Vergangenheit, so bietet sich die NSA an, das Problem geographisch zu verschieben. In beiden Fällen ist die Bundesrepublik vom Verdacht befreit.

Der Ami sitzt am Potomac wie einst der Russe an der Elbe. Die besondere Aufregung über den NSA-Skandal kommt da her. In den Supermächten hat der paranoide Partikularismus einer gekränkten Nation, die sich gern anstelle der größeren Staaten sähe, ein dankenswertes Objekt. Der Neid auf die Macht formuliert sich als Machtkritik, und der Anti-Etatismus, der ja nicht die Macht des Staates, sondern die Macht des Staates ablehnt, steigert sich im Angesicht einer Hegemonialmacht ins kaum noch Fassbare. Nur so sind Äußerungen wie die folgende zu erklären, die in puncto politischer Unreife Grönemeyers berüchtigtem »Gebt den Kindern das Kommando« in nichts nachstehen: »Die NSA von der Bespitzelung abzuhalten, ist in diesem ganzen Themenkomplex natürlich das allerschwierigste. Das geht nicht auf Knopfdruck. Wir brauchen einen weltweiten Mentalitätswandel, wie wir ihn beim Umweltschutz erlebt haben. Ein Staat muss vorangehen, muss auf den Tisch hauen und sagen, Leute, wir machen das jetzt, das muss sich ändern.«

Und welcher Staat es sein könnte, der vorangeht, die Welt zu erlösen, darüber hat Juli Zeh wie Leder eine ganz konkrete Vorstellung: »Deutschland ist der größte und mächtigste Staat in Europa und wir haben aufgrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts auch einen ganz besonderen Grund, wieso uns das Thema Überwachung interessieren sollte.« – Deutschlands Vormachtstellung in Europa, der ökonomische Würgegriff vor allem gegen die südlichen EU-Länder, der Überfall auf den souveränen Staat Jugoslawien, die Waffen- und sonstigen Geschäfte mit Ländern wie Saudi-Arabien und dem Iran erscheinen hier als etwas Gutes, aus dem die Macht erwächst, die Welt vor den USA retten. Denn Deutschland, so denken es Neo-Teutomanen wie Juli Zeh und Jakob Augstein, ist endlich gereinigt von seiner Vergangenheit und hat sich aufgrund dieser Reinigung das Recht erworben, den Rest der Welt zu belehren und, falls der am deutschen Wesen nicht freiwillig genesen will, in die rechte Richtung zu treiben.

Ich leide nicht an übermäßiger Liebe zu den Vereinigten Staaten. Und auch nicht an übermäßigem Hass auf Deutschland. Beide Länder besitzen ausgereifte kapitalistische Strukturen und agieren außenpolitisch als Mächte, die schwächeren (wiewohl nicht notwendig besseren) Ländern ihre Ideologie und Handelsbeziehungen aufzudrücken pflegen. Es ist lächerlich, im Rahmen dieses Gesamtverhältnisses in das eine oder andere dieser beiden Länder sowas wie Hoffnungen zu legen. Sie tun, was sie tun, weil sie müssen, weil ihre Struktur sie dazu zwingt.

Auch das Irrationale hat eine Art Logik. Es ist klar, dass jemand, der auf der außenpolitischen Ebene das Ununterscheidbare unterscheidet, im Innenpolitischen das Unterscheidbare nicht unterscheidet. Das völkische Denken übertreibt die Unterschiede zwischen den Nationen und untertreibt die Unterschiede innerhalb der Nationen. Daher wimmelt das Interview, in dem die Autorin sich nach einer weltweiten Führungsrolle der Deutschen sehnt, denn auch von allerhand Formeln wie: unser Rechtsstaat, unsere Bundesregierung, unsere Gesellschaft.

But there is no such thing as our society. Ein einziges Possessivpronomen kann aus Maggie Thatchers Quatschsatz eine Wahrheit machen, die so evident ist, dass man schon eine deutsche Schriftstellerseele sein muss, um sie ignorieren. Kapitalismus, Parlamentarismus, Föderalismus sind Strukturen, die gesellschaftliche Zerrissenheit ausdrücken oder bedingen. Gemeinschaft ist unter diesen Bedingungen eine Illusion, und der Wunsch nach Gemeinschaft irrational. Die so erträumte Gemeinschaft kann nicht als ein durch (politische) Vermittlung hergestellter Zustand gedacht werden, sondern nur als organisches Band zwischen Volksgenossen, das der unvollkommen, von politischen Kämpfen zerrissenen Wirklichkeit als kraftvolles Urbild entgegengesetzt wird. Es ist, mit einem Wort, die romantische Version der Gesamtscheiße; die gereizte Idealvorstellung einer reinen, schönen Gesellschaft (»unser demokratischer Rechtsstaat«), die gegen Fremdkörper wie den Minister Friedrich und die NSA verteidigt werden muss, ganz so, als seien nicht gerade Friedrich und die NSA durch eben diese Gesellschaft hervorgebracht und viel mehr wesensmäßige Erscheinungen derselben als die Wahnvorstellungen einmal zu oft befragter Literatinnen.

Es gibt kein Wir. Nicht zwischen uns allen gegen die NSA, nicht zwischen uns allen hier in Deutschland und vor allem nicht zwischen uns und Juli Zeh.

Noten

[i] »Ein beobachteter Mensch ist nicht frei«. Juli Zeh im Interview. In: Frankfurter Rundschau v. 17. September 2013. – Von weiterer Lektüre Zehscher Werke ist nach Durchsicht folgender Texte Abstand zu nehmen: Stefan Gärtner: Die Allerunausstehlichste. In: Titanic 05/2006. Enno Stahl: Die Bewahrerin. In: taz v. 16. Februar 2014. Ingo Meyer: Der Niedergang des Romans. In: Merkur (Nr. 786) 11/2014.

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