Apr 142014
 

Die Bundesregierung vermutet, daß die Unruhen in der Ostukraine von Moskau aus gesteuert werden. Umstandslos hat sie damit den Übergang von der ersten Trauerphase in die zweite geschafft. Wenn erst einmal klar ist, daß der Verlust nicht rückgängig zu machen ist (und der Verlust der Krim ist für das Deutsche Reich sicher der schmerzlichste seit 1945), beginnt die Suche nach dem Schuldigen, und der Vorzug einer solchen Suche ist, daß der Suchende darin so frei von Schuld wird wie der Gesuchte mit Schuld beladen. Die Unruhen in Kiew erscheinen dann nachgerade wie ein naturläufiger Vorgang, mit dem die deutsche Regierung weder konspirativ noch diplomatisch irgend etwas zu tun hatte. Die Unruhen in der Ostukraine hingegen konnten natürlich nur deswegen ins Reich der Tatsachen treten, weil sie von Moskau initiiert wurden.

Ich schließe in der Tat nicht aus, daß Regierung und große Teile des politisch-militärischen Establishments der Bundesrepublik ernsthaft an dieser Verdrängungsleistung laborieren und sie nicht bloß – was ja zumindest in technischer Hinsicht noch eine Art Anlaß für Respekt darböte – als Propaganda inszenieren. Das Bedürfnis, jeden Morgen in den Spiegel sehen und sich wenigstens etwas besser fühlen zu können als diejenigen, mit denen und gegen die man agiert, ist auch bei politisch handelnden Individuen vorhanden. Und Bedürfnisse, zumal in der Politik, wiegen zumeist schwerer als Erkenntnisse.

So ist denn praktisch alles, was hier zur Lage in der Ukraine gesagt oder geschrieben wird, von einer narzißtischen Wut durchzogen, die die inneren Konflikte der Ukraine ebenso ignoriert wie den Anteil der EU und Deutschlands an deren Zuspitzung, die die vormalige Opposition und jetztige Regierung von Kiew systematisch verharmlost und die mithin kenntlich ist an der aggressiven Sprache, mit der nicht nur Rußland (das sich die Feindschaft, die es auf sich zieht, ja redlich verdient hat), sondern auch diejenigen bedacht werden, die es wagen, auf die Verwicklung des Westens in diesen Konflikt und seine doppelten Maßstäbe hinzuweisen. Nicht, daß es keine »Putinversteher« gäbe, aber um als solcher zu gelten, muß man nicht unbedingt einer sein. Es reicht schon, dem deutschen Selbstverständnis nicht mit ausreichender Begeisterung beizuwohnen.

Das von Deutschland geführte und bei gutem Wetter von den USA flankierte Europa hat sich so sehr ans Siegen gewöhnt und ist so sehr dem Glauben an die Unwiderstehlichkeit der eigenen Denk- und Lebensweise erlegen, daß eine Niederlage in den durchgespielten Szenarien schlicht nicht vorkam und, wichtiger, die permanente außenpolitische und militärische Aggression der EU-Staaten nicht mehr als Aggression, sondern im günstigsten Fall als Verteidigung, zumeist jedoch als unbeteiligte Beobachtung wahrgenommen wurde. Ich erinnere mich, daß im Juni 1999, unmittelbar nachdem Belgrad den Kosovo aufgebeben hatte, russische Truppen in einer Blitzaktion den Flughafen von Priština besetzten, bevor die einfallenden KFOR-Truppen ihn erreichen konnten. Schon damals zeigte man sich im Westen bestürzt über die beispiellose Rücksichtslosigkeit, mit der Moskau expansive Aktionen der NATO stört. Auf der Krim waren die Rollen nun anders verteilt. Die russischen Truppen, sofern nicht schon dort, rückten ein, und keiner war schneller. Das europäische Entsetzen ist dasselbe; es findet daran keine Ruhe, daß der Russe einmal mehr dadurch überrascht, daß er sich dasselbe zu tun herausnimmt wie man selbst.

Die Wut der Bundesregierung ist vorderhand verständlich, es ist ja ihr eigenes Interesse, das dort beschnitten wird. Die Wut der Bundesbürger ist vermittelt durch Identifikation. Nur der, dem das Geschäft der EU zur Herzensangelegenheit geworden ist, der ernsthaft glaubt, es gehe dort her zwischen Uns und Denen, nur der kann sich erregen über das Verhalten Moskaus. Es sei denn, er hätte sich im Fall des Kosovo ebenso über die Bundesregierung erregt. Dann liegt es wohl eher im Gemüt überhaupt und kann mit etwas Baldrian oder ein paar Büchern von Max Goldt eingedämmt werden.

Gern würde ich mich in eine Äquidistanz zwischen Brüssel und Moskau begeben. Das ist bequem, und man erscheint so arg unverdächtig. Ich leugne gleichfalls nicht, daß die Empathie, die Putin seitens auch nicht eben weniger Deutscher zuteil wird, eine verkehrte Wut ist, nämlich Schadenfreude, die von Leuten gefühlt wird, die entweder ihre Abneigung gegen den deutschen Staat mit einer Liebe zum russischen verwechseln, oder sich so sehr an den Katzenjammer nach dem zweiten Weltkrieg gewöhnt haben, daß es nicht einmal mehr zur Kriegstreiberei reicht. Ich würde gern auch diesen Zeitgenossen ans Hosenbein pinkeln und schreiben, daß sie sich nicht weniger blamiert haben als die schäumenden Moskaukritiker, die Putin zum neuen Hitler hochblödeln u.ä. Aber das haben sie nicht. Nicht weil sie es nicht versucht hätten, sondern weil es nicht geht.

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