Sep 012014
 

Es kommt im Leben schon mal vor, daß einer einen fragt, warum er mit einem anderen befreundet ist, und mit dieser Frage durchaus nicht Interesse, sondern Mißbilligung bekundet. Wenn einer Ärger mit einem hat und nun von der gesamten Welt erwartet, sie möge an diesem Ärger teilnehmen, ist darin eine alte Sehnsucht zum Ausdruck gebracht; nämlich mehr zu können, als man selbst kann. Die eigene Macht endet direkt hinter der eigenen Handlung, man wünscht sich einen Fortgang, ein Wirken über sich hinaus. Warum sollen nicht alle einsehen, was ich eingesehen habe?

Es ist durchaus menschlich, im Fall eines Ärgernisses nicht nur die eigenen Freundschaften beenden zu wollen, sondern die anderer Menschen gleich mit. So menschlich wie das Bedürfnis, einem, der einem dummkommt, in die Fresse zu hauen. Also die Art von Menschlichkeit, die man besser nicht auslebt, wenn man sich nicht für den Rest seines Lebens schämen möchte. Der Impuls ist normal, daß man ihm nachgibt hingegen, widerspricht der Norm. In den sozialen Netzwerken aber, insbesondere bei Facebook, wo Freundschaft ein binärer Wert geworden ist, wo es keine Zweideutigkeit und keine Verborgenheit gibt, einer also entweder mit einem befreundet ist oder nicht, wird die Frage, warum man mit der Unperson X denn gemeinsame Freunde habe, zum wiederkehrenden Ritual. Das reicht von allgemeinen Statusmeldungen bis zu persönlichen Nachrichten. Dem Pathos sind keine Grenzen gesetzt; sogar ein öffentliches Ultimatum habe ich schon erlebt. Viel Aufwand und Ärger könnte gespart werden, würde Facebook ein Feature entwickeln, mit dem man, ähnlich dem Anstupsen oder den Geburtstagswünschen, Entfreundungsforderungen für Freundschaften, an denen man nicht selbst teilhat, normiert abwickeln kann. Horst-Oliver hat dir eine Entfreundungsanfrage für Knut-Detlev geschickt.

Kant hat schon recht. Was nicht zur Verallgemeinerung taugt, sollte nicht zum ethischen Leitsatz erhoben werden. Daß der Feind meines Feindes mein Freund sein müsse, ist Unsinn, weil es auf ein paar Grenzfälle zutrifft, aber nicht auf das, was man Leben nennt. Dasselbe gilt für den anderen Grundsatz der Engstirnigkeit: Der Feind meines Freundes ist mein Feind. Auch hier müßte schon Schwerwiegendes vorliegen, daß angebracht wäre, das Partikulare, Verwickelte, Arbiträre am alltäglichen Zusammenleben dem Einen zu unterwerfen. So cool Einheit im Philosophischen ist, so uncool ist sie im Privaten. Bei Sophokles gibt es einen Satz, der weiterhilft. Es spricht ihn Antigone:

Oὔτοι συνέχθειν, ἀλλὰ συμφιλεῖν ἔφυν
Nicht mitzuhassen, sondern mitzulieben bin ich geboren. (Soph. Ant. 523)

Freunde sollten, mit anderen Worten, viel mehr ihre Zu- als ihre Abneigungen teilen. Was einen verbindet, ausleben, und was einen trennt, vorbeiziehen lassen. Bezogen auf die Handlung des Stücks vertritt Antigone damit natürlich nur eine Teilwahrheit, weil sie dem Gesetz der Polis die Empfindung der familiären Liebe entgegensetzt. Das funktioniert auf der Ebene des Staates genauso wenig wie die rücksichtslose Behauptung des Staatlichen selbst, die Kreon ins Werk setzt. Auf der Ebene des Persönlichen hingegen taugt dieser Satz, wenn zwar nicht gleich zum Kategorischen Imperativ (Grenzfälle bleiben immer offen), zumindest zur Handlungsmaxime. Man kommt mit ihm, im Gegensatz zu den erwähnten expansiven Feindbestimmungen, weiter. Man lebt glücklicher. Sophokles wurde 92 Jahre alt. Älter werden mit Sophokles.

Sorry, the comment form is closed at this time.