Nov 132014
 

Zur durch und durch hässlichen Anatomie des Kunden

Wer in den zurückliegenden Wochen Bahn gefahren ist, in die üblichen Schmierblätter geblickt oder sonstwie verrückte Dinge getan hat, um mit der Erlebniswelt jener fleischgewordenen Fiktion namens Ottonormalverbraucher in Kontakt zu kommen, mochte sehen, was nach dem kurzzeitigen Hoch des WM-Siegs und der sich anschließend mächtig zurückmeldenden Spaltung durch die Ukrainekrise die deutsche Volksgemeinschaft ein weiteres Mal zu einen imstande ist. Lokführer nämlich.

Eine Nation tobt. Bild weiß, wo es hingehört, fragt scheinheilig danach, wer die eigentlichen Gewinner des Streiks seien und sorgt dafür, dass seine Leser das Wesentliche nicht aus den Augen verlieren, indem es Photos der Privatwohnung des GDL-Chefs Weselsky veröffentlicht sowie dessen geschäftliche Telephonnummer. Der weist seine Sekretärin an, die Flut der eingehenden Anrufe auf den Apparat des Vorstands der Deutschen Bahn AG umzuleiten. Focus befragt die Ex-Frau Weselskys über dessen private Eigenarten, und da Ex-Frauen prinzipiell unverdächtige Zeugen abgeben, sind wir alle furchtbar entsetzt darüber, dass ein Gewerkschaftsführer sich erfrecht, guten Wein trinken zu wollen, und gelegentlich Streit mit seiner Frau hatte. Der Gipfel staatsbürgerlich-serviler Hysterie wird, wie meistens, in Form des Kabaretts erreicht. Ausgerechnet am 9. November schränke die GDL die Reisefreiheit in Deutschland wieder ein, witzelt es auf allen unmöglichen Kanälen des Web 2.0. Die Posse an dieser Posse ist, dass die, die sie reißen, es eigentlich bitterernst meinen.

Hass hat mehrere Schichten. Denn er spielt sich allenthalben ab zwischen der Unfähigkeit, die Welt, und dem Unwillen, sich selbst zu erkennen. Auf der Leiter des Ekels steigt man hinauf, indem man hinabsteigt.

Die Wahrnehmung des GDL-Streiks hat erstaunliche Ähnlichkeit mit der Wahrnehmung des Konflikts zwischen der GEMA und youtube. Hier wie dort geht der Streit zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Produzenten auf der einen Seite und einem Konzern auf der anderen. Und hier wie dort wird von der übergroßen Mehrheit der Konflikt als von einer Seite verursacht wahrgenommen. Das liegt zunächst simpel an der Unfähigkeit, auch nur einmal um die Ecke zu denken. Der Terror des Unmittelbaren, der Unsinn der sinnlichen Gewissheit. Wenn der Ottonormalverbraucher bei youtube ein Video anclickt und liest, es sei wegen der GEMA nicht verfügbar, erregt er sich über die GEMA und fragt nicht danach, wer sie denn dazu gebracht hat, das Video sperren zu lassen. Er sieht nicht, dass youtube gigantische Gewinne mit Musikvideos erzielt, ohne denen, die sie hergestellt haben, einen wenigstens ansatzweise adäquaten Teil des Gewinns zukommen zu lassen. Wie selbstverständlich wird angenommen, dass Künstler jede noch so geringe Gage akzeptieren müssen, während es für einen Konzern unzumutbar scheint, seine Profitrate sinken zu sehen. Analog richtet sich der Ärger des Bahnkunden unmittelbar gegen den Lokführer, denn der ist, den er vital vor sich sieht, dessen Fehlen unmittelbar fasslich wird. Die Bahn AG ist dagegen ein Abstraktum, und der Wüterich auf dem Bahnsteig fragt nicht, was vorgefallen sei, ehe die Lokführer das Streiken begonnen haben.

Das Abstraktum allerdings ist, weil Menschen Schwerfassliches gern mit Henkeln versehen, behaftet von Vorurteilen. Wo ein Lohnkampf zwischen Arbeitern und einem Konzern statthat, werden die Parteien dieses Konflikts gemeinhin nicht als gleichberechtigt wahrgenommen, obwohl sie das juristisch sind. Eine Konstante praktisch aller Ideologien, die unter dem Kapitalismus hinblühen, ist die Auffassung des Kapitals als Naturverhältnis. Das Handeln des Kapitalisten wird mit dem Hinweis auf den Markt einfach als Teil der Bedingungen genommen, und mit Bedingungen verhandelt man nicht, man richtet sich auf sie ein. Die Forderungen des Arbeiters werden dagegen als verhandelbar gesehen. Er, der bloß ein Mensch (also nicht wichtig) ist, kann sich doch bescheiden mit dem, was das Leben ihm bietet. Er wird schon nicht verhungern, und wenn ihm die Bahn nicht genug zahlen will, dann soll er sich halt was Besseres suchen. Kraft dieser bornierten Vorstellung kann der Konzern sich als der große Andere inszenieren, dessen Interessen stets von der Weihe höherer Notwendigkeit getragen sind, obgleich kaum einer bei Verstand bestritte, dass ein Konzern ebenso als partikulare Größe im gesellschaftlichen Nexus steht wie seine Angestellten.

Doch die Abneigung gegen die Lokführer reicht tiefer, ist giftiger. Der Ottonormalerbraucher weiß im Zweifel immer, wem seine Sympathie gehört, und das nicht, weil Konzerne etwa so beliebt wären, sondern weil man die andere Seite – Menschen, die etwas können und dafür bezahlt werden wollen – noch mehr hasst. Nichts, wirklich nichts, bringt den Konsensbürger so sehr in Rage wie ein Arbeiter, der um seine Rechte kämpft. Der mag Künstler sein oder Wissenschaftler, Lehrer oder Krankenschwester, Lokführer oder Polizist. So sehr man sich mit der Heiligen Arbeit identifiziert, so groß ist die Ablehnung gegen die, die sie verrichten. Das nämlich gehört zusammen, denn was an der Arbeit stört, ist allemal der Arbeiter. Wo die Losung »Sozial ist, was Arbeit schafft« sich allgemeiner Beliebtheit erfreut, kann jeder Versuch eines Arbeitenden, mehr Lohn für dieselbe Arbeit zu bekommen oder weniger Arbeit für denselben Lohn leisten zu müssen, nur als Teufelei gesehen werden. Die Idee der Nation und des ordentlichen Staatsbürgers schiebt sich dabei mit Macht hinzwischen. In diesem Land sitzen wir doch alle im selben Boot, da muss man zupacken und darf nicht jammern. Hier muss jeder seinen Beitrag leisten. Und das heißt ins Ehrliche übersetzt: Wenn ich schon zurückstecken muss, dann die auch. Dass Lokführer nicht unbedingt Besserverdiener sind, stört dabei wenig. Neid kann sich, so verrückt das klingt, sogar gegen Menschen richten, die ein geringeres Einkommen erhalten, dann nämlich, wenn der Besserverdienende das heilige Leistungsprinzip verletzt sieht und den Depravierten übelnimmt, dass sie für weniger Arbeit nicht angemessen weniger Lohn bekommen. Neid ist es genau dann, wenn es dem Leistungsträger primär gar nicht darum geht, dass er selbst besser, sondern ihn vor allem interessiert, dass der Andere schlechter bezahlt wird. So erscheint der Gewerkschaftskampf als zweierlei: als Frechheit des Einzelnen, der will, was ihm nicht zusteht, und als Verrat am Vaterland. Bezogen auf die soziale Frage hat die nationale Identität keinen anderen Zweck als die soziale Differenzierung zu stützen. Menschen werden im Leben gleichgemacht, damit man sie in der Arbeit ungleich behandeln kann.

Die moderne Form des nationalen Konsensus lebt auf im Kollektivsubjekt des Kunden. Nicht im Volksdeutschen, nicht im Staatsbürger, nicht im Arbeiter, im Kunden erst fühlt der Pöbel sich richtig frei. Der Briefkasten quillt von Werbung über, in der Markthalle wird man mit Treueaktionen und kostenlosen Lebensmittelproben belästigt, Fielmann bittet um ausführliche Evaluation seiner Dienstleistungen, und vor der Universität machen quietschgelbe Tonnen, denen zwei Beine gewachsen sind, Jagd auf Passanten. Man konsumiert nicht einfach, man betätigt sich als Kunde, und der Spätkapitalismus ist der einzige Ort, an dem Kundesein ebenso anstrengend ist wie Arbeiten. Daher all die Gereiztheit. Und der Mangel an Mitgefühl. Der Kunde ist die Reduktion des Menschen auf seine Eigenschaft, zahlungsfähiger Verbraucher zu sein, und diese Reduktion wird erstaunlich gut angenommen. Die Intensität der Identifikation ist stärker als bei anderen Kollektivsubjekten. Sicher auch, weil das Kundesein die Illusion gestattet, dergleichen sei unpolitisch. Doch unpolitisch ist bloß der Gegenstand dieser gesellschaftlichen Betätigung, die Art der Betätigung ist es nie. Ich habe Menschen erlebt, die bei einem Streit an der Kasse dem Personal gegenüber Formulierungen benutzten wie »Da kann ja der Kunde nichts dafür, wenn hier der falsche Preis draufsteht.« Wo einer nicht mehr »Ich« sagt, sondern von sich als gattungsmäßig bestimmtem Objekt spricht, ist mit Vernunft ohnehin nicht weiterzukommen. Und es liegt darin etwas ebenso Devotes wie Aufgeblasenes, denn so, wie sich ein vielseitiges Ich in dem Ausdruck »der Kunde« auf eine seiner Seiten reduziert, maßt es sich zugleich an, für die Gattung insgesamt zu sprechen. Und tut es auch, mit dem Blick in die hinter ihm wachsende Schlange, dieweil es offenbar wähnt, dass im Laufe des Streits an der Kasse die Augen der Weltöffentlichkeit auf ihm ruhen. So wird der Kunde zum Weltkunden und ein jeder, der das Unglück hatte, in dieselbe Schlange zu geraten, zum Mitkunden. Ungefragt. Eingemeindet.

Die Ideologie des Weltkundentums hat einen kollateralen Effekt, der interessierten Kreisen genehm sein kann. Der Verbraucherschutz ist die Zivilcourage des kleinen Mannes. Das ewig nagende Gefühl, nicht genügend für die Welt zu tun, das alle diejenigen plagt, denen die Schätzung schwerfällt, was in einer Zeit wirklich drin ist und was nicht, sucht sich im Feld des Konsums eine Ersatzübung. Man kauft und lebt bewusst, man guckt den Dienstleistern genau auf die Finger. Man tut es für sich, glaubt aber, es stellvertretend für alle Menschen zu tun. Dieser eine Kniff macht möglich, Aggression und Eifer ins Verhalten zu bringen, was dort, wo es bloß um die persönlichen Belange ginge, nur peinlich wirken kann. Der Kunde, mit einem Wort, lässt sich, wo er als der Kunde agiert, hervorragend gegen den Arbeiter ausspielen. Und auch hier wird wiederum ein partikulares Interesse als Gemeininteresse ausgegeben, um die Durchsetzung eines anderen Partikularinteresses zu verhindern. Eine alte Dame, mit der ich letzte Woche einen Tisch in einem leider viel zu kleinen Großraumabteil teilen musste, sagte zur ihrem Begleiter, sorgenvoll über den Rand ihrer Bildzeitung blickend: »Ich sage dir, wer der eigentliche Verlierer des Streiks ist: der Kunde.« Das Blatt hatte die zu der Antwort passende Frage aufgeworfen, und in einem gedankenverlorenen Moment muss der Redakteur geschrieben haben, die eigentlichen Verlierer beim vorgeblichen Kampf für die Lokführer seien die Lokführer. Er hätte wissen müssen, dass solche Überlegungen keinen Kunden vom Ofen locken. Miese Arbeitsbedingungen oder gesenkte Sozialleistungen regen ihn nicht auf, sondern ausschließlich erhöhte Preise und Steuern. Und nicht erbrachte Leistungen. Er fragt auch nicht, wenn der Postbote mal wieder nicht zweimal klingelte, welcher Druck den Angestellten zwingt, seine Lieferungen möglichst schnell, beim Nachbarn oder der nächsten Poststation, loszuwerden. Was ihm einfällt, ist, den Hörer in die Hand zu nehmen und sich über den Briefträger zu beschweren. Der Kunde ist immer wütend, wenn einer nicht gleich springt. Während er auf dem Bahnsteig steht und einer ausgefallenen Verbindung wegen grollt, wird die Asymmetrie überdeutlich: Für die Lokführer geht es um nicht weniger als ihre gesamtes Leben, ihren Lohn, ihre Freizeit, ihre Sicherheit. Für den Kunden geht es um einen Tag, an dem er sein Ziel nicht so schnell und nicht so bequem wie üblich erreicht.

Der Bahnstreik bringt den seelischen Abgrund des Ottonormalverbrauchers zum Vorschein, der, wo er in Rage gekommen ist, fast schon wieder einem Menschen gleicht. Auch deswegen muss man Claus Weselsky und der GDL dankbar sein, denn ihr Verdienst ist, als Objekt des Hasses das Schlechte am Schlechten hervorzubringen. Wo das dämliche Bild der Sozialpartnerschaft gestört wird und der servile Untertan und souveräne Weltkunde kein Blatt mehr vors Hirn nimmt. Es ist im unverrückbaren Elend bereits ein Fortschritt, wenn sich das Elend als das zeigt, was es ist.

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