Feb 242015
 

Menschen, die mit dem Unterleib denken, gibt es gar nicht so wenige. Da ist nämlich kein günstigerer Nährboden für politische Irrationalität als das Gefühl der Ohnmacht, und ohnmächtig samma alle. Deshalb sind es so viele – und so viele aus der weiß-nichts-kann-nichts-Abteilung. Muss man sich mit ihnen beschäftigen? Nun sicher, es gibt Wichtigeres. Das Weltall zum Beispiel. Doch wenn sie auch nichts zu sagen haben, sie haben dauernd das Wort, und wer redet, hat Macht. Das Problem dabei ist, dass man sich im Verfolgen von Unterleibsgedanken stets vorkommt, als schnüffle man an einer Unterhose. Man fühlt sich wie ein Belästiger, also belästigt.

Und noch einen Grund hatte ich, im Ablauf der letzten zwölf Monate kaum ein Wort zu den neueren Volksbewegungen, den Mahnwachen und den Patriotischen Europäern im Auftrag des Abendlandes zu verlieren. Es lag nicht daran, dass bereits alles dazu gesagt wäre, und auch nicht daran, dass sie sich möglicherweise bald totgelaufen haben. Der nächste Wahnsinn kommt ohnehin immer. Es liegt am Narzissmus der kleinen Unterschiede, der an diesen Bewegungen ein dankbares Objekt zu haben scheint. Offenbar boten die neuen Volksbewegungen manch einem die Gelegenheit, sich am Kaumverschiedenen aufzuwerten. Beim Spott über die Aluhüte konnte man Autoren sehen, die sich in ihrer Friedensbewegtheit und Vorliebe für Verschwörungstheorien kaum weniger blödsinnig betragen hatten als die Elsässerianer & Jebseniten. Und in der Schelte der Pegida fanden sich durchaus auch solche Anhänger der Islamkritik, die offenkundig selbst mehr als bloß kritisch gegen Scharia und Islamismus, nämlich von paranoider Angst vorm Muselmann überhaupt getrieben sind. Es muss ein schönes Gefühl sein, den Vorwurf, dem man sich selbst immer wieder ausgesetzt sieht, seinerseits einmal aussprechen zu dürfen.

Die übergreifende Einheit ist schnell benannt. Pegida vergegenständlicht seine Ohnmacht in einem Schreckensbild des Orients. Die Mahnwachen erklären umgekehrt den Okzident zur Wurzel des Übels. Beide reagieren auf unsere Binnenlage, die Krise des Kapitalismus und den Abbau sozialstaatlicher Restbestände. Das wird schnell deutlich, wenn man sich das schier endlose Videomaterial zu diesen Bewegungen ansieht, all die Interviews und Reden von Veranstaltern und Teilnehmern dieser Happenings. Immer wieder bricht in den Schilderungen die soziale Frage hindurch. Aber die Angst vor der Zukunft, die Scheu, sich selbst betätigen zu müssen, und das Gefühl, sich einer nicht beherrschbaren Krisenentwicklung ausgesetzt zu sehen, übertragen sich hier auf die Weltlage mit ihrem Ost-West-Konflikt ganz anderer Art: ihren Kalifaten, Kriegen, Terror, Fluchtwellen und Feldgeschrei.

Als Volksbewegungen rekrutieren sich Pegida & Mahnwachen ebenso aus der bürgerlichen Mitte, wie sie an den Rändern fischen. Überhaupt scheinen doch die berüchtigten Ränder der Gesellschaft nichts anderes zu sein als die Ränder von deren Mitte, denn sie, diese Mitte, bildet ein Koordinatensystem ohne z-Achse. Es sind bloß, heißt das, die Meinungen, die all jene linken, rechten und ausgewogenen Schwarmgeister voneinander trennen. Und Meinungen sind nie was anderes als Gewichtssetzungen innerhalb vorgegebener Maßsysteme. Da die Volkstümler allerdings montags auf die Straße gehen und »Wir sind das Volk« skandieren, haben sie wiederum Absetzbewegungen hervorgerufen. Bei ostdeutschen Bürgerrechtlern[i] etwa oder westdeutschen Streetworkern, die z.B. mit der nicht minder ulkigen Losung »Ihr seid nicht das Volk« Antwort gaben. Natürlich sind sies. Das Volk hat viele Gesichter. Es ist mal zänkisch, mal brutal, mal träumerisch und mal versöhnlich. Es neigt ebenso zu Kerzen im Fenster wie zu Bücherverbrennungen. Hinter all der Hektik gibt es nur zwei Konstanten: Das Volk meint es immer gut und ist immer dumm bis auf die Knochen.

Das Volkstümliche hat eine Neigung, im Völkischen zu verenden. Deutlich wird das an seinem Verhältnis zum Staat. Die Montagskritik an der Regierung ist mehr heftig als fundamental. Weder Pegida noch die Mahnwachen setzen dem vorhandenen Staat eine ihrer Vorstellung entsprechend bessere Verfassung entgegen, sondern sie inszenieren das Volk als die große Alternative. Und wieder einmal kämpft das Organische gegen das Gemachte, das Authentische gegen das Vermittelte, das Einfache gegen das Komplizierte, wozu immer auch der Ausschluss eines Fremden gehört, im Fall Pegida der islamischen Metöken, im Fall Mahnwachen jener Elemente amerikanischer Fremdherrschaft, des Zinses und der zionistischen Lobby. Das Volk, lautet die Botschaft, ist der wahrhafte Teil der Nation, die Regierung hingegen hat die Nation verraten. Der Nationalismus von unten versteht sich als der andere, bessere Nationalismus. Der nicht korrumpierte, der berechtigte (weil im Widerstand gebildete). Tatsächlich ist er der Nationalismus, wie er so erst ganz bei sich ist.

Gern wird darauf verwiesen, dass Volksbewegungen auch was Seismographisches haben. Wenn sie auch voller Ressentiments seien, so reagierten sie doch auf Missstände. In der Tat, sie sind das Falsche im Falschen, und konkret kommt es stets auf die Frage an, welches der beiden Falschen schwerer wiegt. Man sollte, genauer, prüfen, ob einer Welt nach den Vorstellungen dieser Wüteriche die vorhandene nicht doch vorzuziehen sei, oder, weniger genau, ob sich aus diesen traurigen Gestalten über viele Umwege vielleicht doch etwas machen lässt. Dagegen spricht hier einiges. Es gibt, soweit ich sehe, keine fortschrittliche Bewegung ohne regressive Elemente. Aber wir reden im Fall Pegida & Mahnwachen nicht von Bewegungen mit regressiven Elementen, es sind regressive Bewegungen. Dass sie auf Missstände reagieren, zeigt nur, dass auch Nazis Sorgen haben.

Politische Romantik ist die Art der Beschränkten zu sagen, dass ihnen nicht gut ist. Deswegen stirbt sie nicht aus. Sie lässt sich in alle Zeiten und Orte übersetzen. Das romantische Pendant der arabischen Weltgegend ist nun ausgerechnet der von Pegida so gefürchtete und von den Mahnwachen auf projektive Weise verachtete Islamismus. Auch er reagiert zunächst auf eine objektive Schieflage. Allerdings weniger auf ein kolonialistisches Erbe, denn die historische Kolonialmacht im vorderen Orient war keine westliche, sondern das Osmanische Reich. Und kaum mehr auf die Außenpolitik der USA, denn die ist nicht nur jünger als der Islamismus, sondern ihrerseits bloß ein Teil im gesamten Verhältnis, worin sich Staaten mit verschiedenen Interessen und Möglichkeiten gegeneinander verhalten müssen. Wer dergleichen auf ein simples Schema bringt, in dem eine Hegemonialmacht über eine endlose Reihe geknechteter Mitstaaten herrscht und also als eigentliche Ursache des Übels herhalten muss, hat seinen Geschichtsbegriff von Karl May und nicht von Karl Marx.

Die Krise der arabischen Gesellschaft hat interne Ursachen; sie beruht auf einem Missverhältnis der vorhandenen Struktur des Wirtschaftens mit dem gültigen Recht. Die Scharia stülpt der Kapitalform eine Zwangsjacke über und behindert deren Entfaltung. Sie ist also ganz abgesehen davon, dass sie als unverhohlener Ausdruck des Inhumanen keine schlechte Figur abgibt, gegen-fortschrittlich und eine Fessel der Produktivkräfte. Nun sind gehemmte Produktivkräfte für sich noch nichts Übles; es darf ja gern auch mal etwas langsamer gehen. Wenn man aber 100 Jahre Rückstand und ganz veritables Elend zu bewältigen hat, kann ein Mangel an Leistung, Technik, Wissenschaft und Kreativität zum existentiellen Problem werden. Und so bedingt die Scharia ein Elend, das zugleich ihren Fortbestand ermöglicht, denn das veritable Elend ist ihr ebenso Rechtfertigung, sich der Moderne zu verweigern, wie sie unmittelbar aus diesem Elend hervorgeht.

Soweit der Konflikt bar vor uns liegt, ist er nichts anderes als ein gewöhnliches Verhältnis am Weltmarkt, auf dem dort, wo einer siegt, ein anderer verlieren muss. Die Differenzen in den politischen Verkehrsformen solcher Staaten wie, sagen wir: China, Russland, Indien und den USA sind dadurch bedingt, dass Prosperität allererst eine gewisse Liberalität gestattet. Der Islamismus aber ist aus anderem Holz. Terror und Todessehnsucht, Vernichtungswahn und Elendsliebe, Judenhass und Chauvinismus, Fortschritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit sind ihm wesentlich, machen ihn zur gegenwärtig führenden Weltgestalt der realisierten Unvernunft. Das Elend der arabischen Länder ist seine Voraussetzung, aber keine hinreichende Bedingung. China z.B. hat auf seinen Rückstand mit forciertem Wachstum reagiert. Im Nahen Osten hingegen herrscht seit längerer Zeit die Idee vor, sich im Elend einzurichten.[ii] An dieser Entscheidung tragen weder die Weltlage noch ein Konkurrent am Weltmarkt die Schuld, sondern die – und allein die –, die sie getroffen haben.

Das narzisstische Selbstbild, das in nicht unbeträchtlichen Teilen der arabischen Gesellschaft entstanden ist, befördert eine Paradoxie. Einerseits leidet man darunter, militärisch, politisch, ökonomisch, wissenschaftlich und kulturell der offenkundige Verlierer zu sein, anderseits gibt man vor, diese Art Wettbewerb abzulehnen. Der Begriff des Wissens wird, seit Qutb, im Begriff der Jahiliyyah auf den Kopf gestellt; das Weltwissen ist westlich, also falsch; wahres Wissen ist Wissen um Allah. Aber jenes vermeintliche Unwissen – das westliche um Wissenschaft, Technik und nackte Beine – muss errungen werden, damit der Kampf gegen es gewonnen werden kann. Man ist auserwählt von Allah, aber fast allen auf der Welt, die Allah nicht ehren, geht es besser. Der Islamismus ist der Trotz großgewordener Jungen, die in einer Gesellschaft von Männern für Männer gelernt haben, dass sie herrschen und herrschen sollen, aber täglich mit dem kränkenden Gedanken leben müssen, den Globus nicht beherrschen zu können. Es ist ihnen erlaubt, ihre Frauen zu unterdrücken, aber der First Lieutenant, der im Command Centre eine Drohne auf ihr Ausbildungscamp ansetzt, ist eine Frau.

Der Riss im Weltbild muss gefüllt werden; die Füllmasse sind der Todeskult und der Antisemitismus. Letzter schafft die Vorstellung einer auf dem Kopf stehenden Naturordnung, erklärt also, warum der zur Herrschaft geborene Islam die Welt gegenwärtig nicht regiert (weil eine kleine Gruppe mit unlauteren Griffen nämlich die Macht an sich gerissen hat). Der Todeskult wiederum ist das Mittel, aus der Lage zu entkommen, denn mit den Mitteln, die sich innerhalb eines von Anbeginn manipulierten und grundfalschen Spiels finden lassen, ist das Spiel nicht zu gewinnen. Es selbst muss vernichtet werden. Und da die islamistische Ideologie keine Theorie zu gesellschaftlichen Strukturen hat, kann sie keine alternativen Spielformen, keine Weltverhältnisse jenseits des Kapitalismus entwickeln oder wenigstens antizipieren. So liegt ihre Art, das Spiel zu verändern, darin, die Akteure des Spiels zu killen. Vernichtung ist das Ziel, auf das einer kommt, der keine Ziele hat und nie auf was kommt. Der Islamismus kämpft nicht einfach. Er will nicht bloß seine Sicht auf die Welt in derselben ausbreiten und andere Perspektiven verdrängen. Das wollen alle Weltanschauungen, religiöse ebenso wie säkulare. Den Islamismus erregt der Umstand der Abweichung als solcher. Er will nicht siegen, er will vernichten. Er kann im innersten nicht damit leben, dass irgendwer irgendwo irgendwie anders ist. Selbst dann nicht, wenn ihm aus dem Anderen keine Bedrohung erwächst, weil es sich in der Minderheit befindet. Deswegen ist er immer tyrannisch, wo er unterliegt, ebenso wie dort, wo er gesiegt hat.

So wenig also dieses Phänomen einfach wurzellos ist, so sehr es seine Wurzeln im realen geschichtlichen Prozess hat, so wenig ist es als Spezifikum Ausdruck dieses Prozesses. Islamismus ist – wie Pegida, wie die Mahnwachen – das Falsche im Falschen, die blödere Antwort auf die blöde Lage. Daher sind die deutschen Volksbewegungen selbst in ihrer Auffassung des Islamismus ganz spiegelbildlich. Denn Pegida blendet den historischen Zusammenhang des Islamismus aus, und die Mahnwachen ignorieren seine politischen Impulse. Den Patrioten allerdings liegt Theoretisieren nicht übermäßig; sie sind schon zufrieden, überhaupt ein Feindbild zu haben. Bei ihnen ist alles in einfacher Einheit. Der Terror kommt von den Terroristen, also müssen die – und alle, die ihnen ähnlich sehen – vor die Tür. Die Friedensintriganten denken dagegen grundsätzlich um die Ecke. Nichts darf so sein, wie es scheint. Ken Jebsen, der Rhetor des umfassenden Halbwissens, wusste bereits wenige Stunden nach den Anschlägen von Paris, dass mindestens begründete Zweifel bestehen, die Täter könnten Muslime gewesen sein.[iii]

Nun mag der Mann ein besonderes Beispiel sein, doch die Karl-May-Fraktion – deren Geflecht, wie eingangs angedeutet, weit über die Mahnwachen hinausreicht – lebt insgesamt davon, Vorgänge auf einfach adressierte Schuldfragen herunter zu brechen. Interessant ist hierbei das durchgängig gedoppelte Kalkül, das sich widerspricht. Zum einen, in Form der Verschwörungstheorie, wird versucht, die Schuld an solchen Anschlägen personell anderen Akteuren (Geheimdiensten oder gedungenen Schurken) zuzuweisen. Zum anderen wird betont, dass alle diese Netzwerke, von al-Qaida bis zum IS, nichts anderes als Gründungen der CIA oder doch wenigstens unmittelbare Folgen der amerikanischen Außenpolitik sind. Der Delinquent wird also erst erschossen und anschließend gehenkt. So scheint es zunächst unendlich wichtig zu sein, wer denn nun tatsächlich den Abzug gedrückt hat; und immer wieder geht es darum, dass islamistischer Terror keinesfalls von Islamisten verübt worden sein kann. Für den Fall aber, dass die Verschwörungsthese nicht verfängt, steht eine zweite Erklärung bereit, derzufolge die Frage, wer es nun konkret war, mit einem Mal ganz unwichtig wird, weil eine Kette von Vermittlungen letztlich doch wieder auf die Amerikaner führt. Die grüßen, wie der Igel den Hasen, am Anfang und am Ende des Tunnels mit einem seligen: Ick bin all hier!, während der Tunnel selbst in ein angenehmes Dunkel getaucht ist.

Die Mahnwachler verhalten sich gegenüber dem politischen Islam wie ein Sozialarbeiter zu seinen Kids. Unter der Angabe, ihnen helfen zu wollen, wird er oftmals zum Mitwisser und stillen Unterstützer. Die kaputten Typen hingegen, die bei Pegida mitlaufen, sind die deutschen Minutemen. Einstweilen, gottlob, noch unbewaffnet. Die Hysterie der Sozialarbeiter ist derjenigen der Bürgermiliz gar nicht mal unähnlich. Beide aber treffen sich in dem Punkt, dass sie am Verrückten verrückt werden. Das Verrückte gibt jedoch gar keinen Grund dazu. Es zu rationalisieren oder zu dämonisieren sind bloß zwei Weisen, es zu überschätzen. Der Terror ist bestialisch, aber punktuell. Er kann jeden erwischen, aber nicht alle. Seine Macht liegt einzig darin, Angst zu zeugen. Wer gegen ihn in Hysterie verfällt oder ihn kurieren möchte, hat zugelassen, dass er über seine physische Macht hinaus unser Leben regiere. Vigilanten und Sozialarbeiter, dasselbe Elend in zwei Gestalten. Reden wir besser von ergiebigen Dingen. Vom Weltall zum Beispiel.

Noten

[i] Friedrich Schorlemmer: Ihr seid nicht das Volk!. In: Der Freitag 5/2015. – »Weihnachtsgruß von Neunundachtzigern«. 25 Jahre nach dem Mauerfall. In: taz v. 22. Dezember 2014.

[ii] Dem Unesco Science Report von 2010 zufolge ist die wissenschaftlich-technische Entwicklung in der arabischen Welt in praktisch allen Belangen katastrophal. Das betrifft nicht nur den gegenwärtigen Stand, sondern auch das Tempo der Entwicklung. Arabische Länder verwenden geringere Anteile ihres BIPs auf die Forschung, edieren weniger wissenschaftliche Bücher, zählen weniger Forscher pro Kopf der Bevölkerung und melden weniger Patente pro Jahr an als die meisten anderen Länder in der Welt. Es ist im Angesicht historischer Beispiele wie der Sowjetunion, Indien, Israel oder der VR China (seit Deng) absurd, die Trägheit der arabischen Nationalstaaten auf äußerliche Bedingungen zurückzuführen.

[iii] auf der Facebookwall von KenFM u.d.T. »Terror lebt vom Timing. Inszenierter Terror erst recht« (7. Januar 2015, 22:19 Uhr CET).

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