Jun 272016
 

Vielleicht noch ein Nachtrag zur Linken und ihrem Verhältnis zur Unterschicht. Ich habe vor ein paar Tagen die ZEIT zitiert: »Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren« und etwas launig kommentiert: »Das soll wohl auch noch ein Vorwurf sein.« Das klingt lustig, und wie alles, was lustig klingt, stimmt es nur zur Hälfte.

Es ist wichtig, dass man die soziale Skala seines Landes kennt. Dass man also mehr oder weniger anschaulich weiß, wie die Ärmsten und wie die Reichsten leben, wie viele Leute Arbeit haben und wie viele nicht, oder wie es um die Verteilung der Arbeitsweisen steht, also Selbständige, Beamte, Angestellte, produktive Arbeit, Dienstleistung etc. Die verschiedenen Stellungen im Produktionsprozess, Zugehörigkeiten zu Milieus und nicht zuletzt Höhen der Einkommen besorgen, auf den Durchschnitt gerechnet, unterschiedliche Weisen, das Ganze wahrzunehmen, sich zu darin zu verhalten, und schließlich auch an Möglichkeiten jenseits des Vorhandenen zu glauben. Wenn man die Menschen, mit denen man zusammenlebt, schon nicht leiden kann, so ist es doch sinnvoll zu wissen, wer was und wie sie sind. Und Marxens schöner Gedanke, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, ist einmal ebenso zutreffend auf die große Masse, wie er eine Aufforderung an jeden Einzelnen darstellt, ihn durchs eigene Verhalten zu widerlegen.

Es ist auch sinnvoll, die Armut nicht aus dem Auge zu verlieren, damit man nicht eines Tages beginnt davon zu reden, dass wir doch alle hier auf einem hohen Niveau jammern, im Wohlstand gar ersticken usw. Die prekäre Lage der Nachwuchsakademiker ist den meisten Linken schon bewusst, nur doch vor allem, weil es ihr eigenes Milieu betrifft. Die Universitätsarmut ist allenfalls der Vorposten einer großen Bevölkerungsgruppe, die aufgrund ihrer materiellen Situation von erheblichen Teilen des gesellschaftlichen Verkehrs ausgeschlossen ist. Diese Gruppe ist heterogen, aber erkennbar. Sie besteht aus Hartz-IV-Empfängern, Aushilfsjobbern, Ungelernten u.a. Auch aus Menschen mit körperlicher Behinderung, denen man bis heute von gesetzlicher Seite nicht gestattet, ein Privatvermögen anzuhäufen, das 2.600 Euro übersteigt. Es geht um Menschen, die sich (ein Beispiel) nicht leisten können, in einer Gegend zu leben, die weitgehend frei von Kriminalität ist. Es geht um Menschen, die (ein anderes) zwar gleich vor dem Gesetz sind, aber auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe angewiesen sind, wenn sie ihr Recht durchsetzen wollen. Es geht um Menschen, für die (ein letztes) Hausbesuche vom Sozialamt oder Gerichtsvollzieher ebenso zum Alltag gehören wie das Wissen, dass sie nicht einfach irgendwo hinfahren können, sondern sich beim zuständigen Amt vorher abmelden müssen.

Das Ideelle und Materielle greift spätestens dort, wo das Materielle bemerklich fehlt, eng ineinander. Es geht nicht mehr bloß ums Fressen, es geht auch um die Moral. Da materieller Reichtum gleichfalls Möglichkeit und also Freiheit bedeutet, merkt jener Bevölkerungsteil nicht bloß an seinem Budget, dass er nicht dazugehört, sondern er kann auch kaum dasselbe emphatische Verhältnis zum Begriff der Freiheit haben wie etwa linksliberale Professoren mit unbefristeter Stelle oder frisch geduschte Turbopennäler, die eben an ihrem Startup basteln. Arme Menschen erleben reale Freiheit als etwas, das andere sich täglich nehmen und das ihnen allzumeist verwehrt bleibt.

Das alles, wie gesagt, ist richtig im Auge zu behalten, weil man – und ich merke das selbst an mir – immer wieder in die Gefahr gerät, die eigene dolce vita für normal und verallgemeinerbar zu halten. In diesem und nur in diesem Sinne sollte man als Linker oder – was ich bevorzuge: – als Kommunist ein Verhältnis zur Unterschicht haben.

Aber man muss nicht mit ihr leben, nicht mit ihr verkehren oder sich am Ende noch ihr Denken und ihre Maßstäbe zueigen machen. Die sogenannte Diktatur des Proletariats war ein Kampfbegriff aus dem 19. Jahrhundert, als es Marx und seinen Leuten darum ging, für fortschrittliche Ideen eine Trägermasse zu finden, und die 200 Fabrikarbeiter nebenan dafür schwer in Frage kamen. Die Kehrseite dieser konvenienten Ideologie ist aber der Proletkult und die Feindschaft gegen den Intellektuellen. Der Tugendterror mithin der Kulturrevolution. Die Austreibung all dessen, das schön und besonders ist. Ich bin durchaus der Auffassung, dass gesellschaftliche Umwälzung jenseits von Spontaneität nur stattfinden kann und daher der Organisation bedarf. Sie bedarf aber nicht der partikularen Perspektive einer bestimmten Klasse, zum einen, weil jede partikulare Perspektive irreführt, man also andere Perspektiven braucht und lernen muss, seinen gedanklichen Vorrat aus allen möglichen Töpfen – und selbst denen seiner Gegner – zu nehmen, und zum anderen, weil darin immer die Gefahr liegt, die erkorene Klasse als bessere, reinere, gesündere uws. zu verklären, den Standpunkt dieser Klasse schon deswegen für den besten zu halten, weil er der Standpunkt dieser Klasse ist.

Der sogenannte Klassenstandpunkt ist nur ein anderes Wort für Faulheit im Denken. Und er ist eine Ausrede, um die schwerste aller politischen Aufgaben zu umgehen, nämlich das Gemeinsame im Verschiedenen der Menschen herauszufinden und dem gerecht werdend etwas am Dasein zu basteln.

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