Jan 222016
 

Die Gewohnheit, eher nichts zu sagen als etwas Selbstverständliches oder bloß Tatsächliches, die gefühlte Pflicht, dass eine Nachricht ohne (intellektuelle oder gestische) Pointe eigentlich keine ist, bereitet schlechtes Gewissen, wenn man z.B. so etwas weitergibt wie die Meldung, dass die 62 reichsten Menschen der Welt genauso viel besitzen wie die 3,5 Milliarden ärmsten. Es ist nichts dabei. Es ist die blanke Realität, die jeden erschüttern muss, der sich das Menschliche in sozialen Fragen noch nicht ganz abtrainiert hat. Mehr gibt es daran nicht zu verstehen. Kein Theorem, keine Pointe, keine vertrackte Wendung. Nichts als nackte Tatsache, die praktisch schon selbst zu ihrer Abschaffung auffordert. Wir müssen endlich anfangen, damit aufzuhören, die Mitteilung erschütternder Tatsachen für keine Nachricht zu halten. Ein wenig mehr ceterum-censeo-Mentalität stünde uns gut zu Gesicht.

Die Tatsache spricht als solche. Das muss erklärt werden, denn sicher ist die Rechnung von Oxfam falsch. Sie ist so falsch, wie es jede andere wäre, aber sie zeugt etwas Wahres. Eine wirklich präzise Berechnung von Reichtum ist nicht möglich. Das ist nicht neu. Es gibt verschiedene Währungen, in denen der Reichtum der jeweiligen Länder ausgedrückt wird. Gebrauchswerte sind aber verschieden und bräuchten einen Basiswert – wir erinnern Marxens relativen Wert von Rock, Kaffee, Eisen, Weizen und Leinwand, ein System von Werten, die sich alle nur ineinander ausdrücken können. Ein Basiswert, das gemeinsame Äquivalent, ist bei einer Vielzahl von Währungen nicht bloß schwer zu machen, sondern unmöglich, da die Währungen gegeneinander nach Härte gerechnet werden und nicht nach Gebrauchswert (wie es eigentlich sein müsste). Wählte man indes Gebrauchswerte als Äquivalent, hätte man ebenfalls das Problem der mannigfaltigen Beziehungen. Alles muss mit Rücksicht auf was anderes bedacht werden. Man könnte z.B. allen Reichtum in allen Ländern allein auf den Brotpreis beziehen. Und man erhielte dann wahrscheinlich ein anderes Ergebnis, als wenn man den Reichtum auf die Milchpreise bezöge oder auf die Preise von Autoreifen. Gebrauchswerte sind je nach Ländern verschiedenen; in Graubrot ausgedrückt ist ein Deutscher viel reicher als ein Japaner, in Amaebi wohl eher nicht. Ein Produkt wie Brot hat kulturell verschiedene Bedeutungen, in Deutschland etwa ist es viel wichtiger als in den meisten asiatischen Ländern. Ferner wird Brot international unterschiedlich und unterschiedlich aufwendig hergestellt. Die Rohstoffe (Weizen, Roggen usw.) unterscheiden sich, gleichfalls die geographischen Bedingungen ihres Anbaus und ihrer Distribution, gleichfalls Verfügbarkeit, Forderungen und Fähigkeiten der Arbeitskräfte, gleichfalls der Stand der Produktionsmittel. Im Grunde lässt sich, wie man sieht, die einfache Modellrechnung, dernach Reichtum am Einkommen international festgestellt wird, in unzählige Unwägbarkeiten auflösen.

Wir haben also verschiedene Werte, verschiedene Nachfrage, eine Vielzahl von Gebrauchswerten (Brot, Milch, Autoreifen usw.) und eine Vielzahl von Währungen. Das alles zusammen macht die Idee einer wirklich präzisen Berechnung von Reichtum (also von Einkommen oder Besitz, der darauf bezogen wird, welche Art und Menge von Gebrauchswerten man damit erwerben könnte) von vornherein unmöglich, weil jeder Versuch bloß eine komplizierte Rechnung unzähliger Rücksichten herstellen muss. Ich kann immer nur eine Modellrechnung durchführen, bei der ich im einzelnen angebe, was ihr zugrunde liegt. Solche Meldungen machen keinen Knall.

Und doch ist es wahr, auch wenn es nie korrekt sein kann. Keine Berechnung ändert etwas am vorhandenen Verhältnis von Herstellung und Distribution, das jeder sieht und täglich erlebt. Und dieses Verhältnis sowie seine horrende Ungerechtigkeit ist die Tatsache, von der ich meine, dass man üben muss, sie nicht zu vergessen. Ob es nun 62 : 3,5 Milliarden oder 62 : 1,5 Milliarden lautet – es ist nicht die Quantität, die es unerträglich macht. Diese Quantität sollte uns nur daran erinnern, dass wir dazu neigen, es als gegeben hinzunehmen. Und dass in dieser Hinnahme immer die Tendenz liegt, gesellschaftliche Einrichtungen wie Naturverhältnisse zu behandeln.

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