Nov 072016
 

Zur Deutung der Digression des »Theaitet« (172c–177c)[1]

Einleitung

Haben wir denn nicht Zeit, fragt Theodoros den Zeitvertreiber Sokrates, als befänden sie sich gleichsam auf dem Zauberberg, wo alles stillsteht und folglich die großen Fragen verhandelt werden können. Es scheint so, entgegnet ihm der andere, und man sollte nicht übersehen, daß, während das gesprochen wird, der junge Theaitetos anwesend ist und dem Disput der beiden Älteren lauscht wie Hans Castorp dem Streit zwischen Settembrini und Naphta. Wie interessant kann eine Erörterung sein, die man vor allem deswegen führt, weil man die Zeit dazu hat? Wir werden sehen, daß Sokrates, und mit ihm Platon, meint, daß gerade diese Art Gespräche die interessantesten sind. Wo nichts anderes zwingt, muß es die Sache selbst sein, die zur Abhandlung drängt. Wo etwas anderes zwingt, bleibt für die Sache kein Platz. Über sechs Stephanusseiten erstreckt sich jene Abschweifung in Platons »Theaitet«[2], die unter der Bezeichnung Digression[3] bekannt geworden ist und die da nicht stünde, hätten die Teilnehmer des Gesprächs nicht befunden, daß sie die Zeit besitzen, diesem Exkurs nachzugehen. Inmitten der streng auf die Frage, wie Wissen definiert werden könne, gerichteten Gesprächsführung setzen Sokrates und Theodoros die Erörterung dieses erkenntnistheoretischen Problems aus und beschäftigen sich mit einer Betrachtung, die eher dem Bereich der praktischen Philosophie zuzuordnen wäre: der Gegenüberstellung zweier Lebensweisen, der theoretisch-philosophischen und der praktisch-politischen. Dem nichtigen Treiben der Polis wird das erhabene Geschäft der Philosophie entgegengehalten; allein die Philosophie besitze einen wahren Begriff von Gerechtigkeit und ermögliche auf die Art das gute Leben. Was Wissen ist, erfahren wir in der Digression nicht.

Thematische Wendungen sind nicht ungewöhnlich in den Platonischen Dialogen. Der »Gorgias« z.B. beginnt mit der Rhetorik und kommt auf die Frage nach der richtigen Politik. Der »Phaidros« beginnt mit der Liebe und kommt auf die Rhetorik und Schriftkritik. Die Digression verblüfft aber erstens dadurch, daß die Wendung, die sie markiert, keine Wendung des gesamten folgenden Gesprächs anzeigt, sondern nach ihrem Ablauf das hergebrachte Thema Fortsetzung findet, und zweitens ist es die Stärke des Bruchs, die Verwunderung auslöst. Von der Rhetorik auf die Politik zu kommen scheint ganz intuitiv, und auch im »Phaidros« ist die thematische Wendung verständlich, da sich zeigt, daß Sokrates Angriff und Verteidigung des Eros fingiert hat und das Fingieren selbst zum Thema des Dialogs wird. Eine thematische Wendung, die sich aus dem zuvor Gesagten ergibt und dadurch verständlich wird, daß der vorangegangene Teil des Dialogs das nun durch die Wendung zur Sprache kommende Thema verborgen mitgenommen hatte, wird vom Leser leichter akzeptiert als ein Exkurs, der zwar einen Anlaß, aber keinen tieferen Grund im Dialog zu besitzen scheint. Doch selbst die Anamnesis-Passage im »Menon«, die der Digression in dieser Hinsicht am ehesten gleicht, vermag nicht so viel Verwunderung auszulösen, denn sie legt einer praktischen Erörterung eine theoretische zugrunde, während im »Theaitet« der umgekehrte Fall vorliegt. Hier scheint das Gespräch vom Tieferen zum Flacheren zu kommen, so wie in mäßigen Dramen, worin der Autor, weil er versäumt hat, die Handlung vorher entsprechend zu arrangieren, ein »Lustiges Zwischenspiel« einschiebt, das den Schauspielern die Zeit geben soll, sich umzuziehen.

Forschungsstand

So hat diese Passage, die »erratisch herausragt« (Roloff 1975, 147), die Forschung vor einige Probleme gestellt. Bereits der Name Digression drückt nichts anderes aus als die Verlegenheit, nicht genau benennen zu können, was der Zweck dieses Teils im Dialog ist. War sie für sich häufig ein Thema der Betrachtung – und ist z.B. im späten Altertum ausgiebig mit Blick auf die Homoiosis theo behandelt worden[4] –, so mußte noch Cornford feststellen: “The occasion of this digression has not been well understood” (Cornford 1935, 81). In der Tat widersetzt sie sich einer bloß intuitiven Rezeption. Um zu verstehen, warum sie im »Theaitet« verankert ist, muß man in die Tiefe gehen. Feststeht: Die Digression ist von Platon selbst als Digression konzipiert. An ihrem Ende nennt Sokrates sie ein Beiwerk (παρέργα, 177b8), und daß er sie vor ihrem Beginn als größeren Logos bezeichnet (172bf.), scheint eher auf ihren Umfang als auf ihre Bedeutung bezogen zu sein. Auch die Art schließlich, in der die Digression eröffnet wird, zeigt, daß ein Ausbruch aus dem Gang der Erörterung markiert wird.[5] Doch wenn man nicht Pfusch oder eine Interpolation[6] annehmen will, sollte man mit der Hypothese arbeiten, daß die Digression nicht nur für sich einen Sinn hat, sondern auch in Bezug auf den sie umgebenden Dialog.

Die Positionen der Forschung bewegten sich dagegen lange Zeit zwischen offenem Behaupten einer vollkommenen Irrelevanz und verlegenen Erklärungen, die indirekt auf ein ähnliches Urteil hinausliefen. Schleiermacher nennt die Digression eine »höchst willkührliche Unterbrechung« (Schleiermacher 1818, 180). Campbell diagnostiziert ihr im Vergleich zum vorausgehenden Disput mehr Tiefgang und verteidigt die poetische Form der mythischen Rede bei Platon; dennoch lehnt er die Vorstellung, die Digression sei ein integraler Bestandteil des »Theaitet«, ab (Campbell 1883, lx). Wilamowitz hält sie für einen »Fremdkörper«, »ein anorganisches aber köstliches Stück« (Wilamowitz 1919a, 414), deren Wert für Platon so groß gewesen sein muß, daß er die Disharmonie zwischen ihr und dem Dialog in Kauf genommen habe. Natorp macht ein paar unverbindliche Bemerkungen zur Verwandtschaft der Passage mit »Gorgias« sowie »Phaidros« und schließt nach wenigen Zeilen das Thema mit den Worten ab: »[E]s sollte genug sein, einmal darauf aufmerksam gemacht zu haben« (Natorp 1921, 96). Laut Apelt hat die Digression, obgleich »Glanzpunkt des ganzen Dialogs«, »was die Ökonomie der Komposition anlangt, […] durchaus nur den Charakter einer Episode« (Apelt 1921, 166). Unwirsch urteilt Ryle: “The Theaetetus is about fifteen Stephanus pages too long”, worunter auch die Digression falle, denn sie sei “totally irrelevant to the topic of the dialogue” (Ryle 1966, 278) und “philosophically quite pointless” (ebd., 158). Bröcker faßt Sokrates’ λόγος δὲ ἡμᾶς, ὦ Θεόδωρε, ἐκ λόγου μείζων ἐξ ἐλάττονος καταλαμβάνει (172b8–c1) originellerweise in den Worten »[…] denn da käme man vom hundertsten ins Tausendste« zusammen und fügt sodann an: Sokrates »ergeht sich (172cff.) des Längeren über das Wesen des Philosophen. Das übergehen wir« (Bröcker 1967, 358). McDowell zufolge ist die Digression “on the face of it quite irrelevant to the dialogue” und präsentiert “a purpose which, in a modern book, might be served by footnotes or an appendix” (McDowell 1973, 174). Doull widmet dem Abschnitt keine anderthalb Seiten, auf denen er dann die Frage nach seiner Funktion für den Dialog nicht einmal aufwirft (Doull 1977, 23f.). Für Bostock gilt dasselbe (Bostock 1988, 89f.). Noch weniger Aufwand treibt Heitsch, der in seinem Kommentar am gegebenen Ort die Digression überspringt und sich lediglich im einleitenden Teil seines Buchs, der den Aufbau des »Theaitet« behandelt, ein paar Worte abnötigt, denen die Verlegenheit, von der oben die Rede war, deutlich anzumerken ist: »[H]ier« – in der Digression – »findet nun eine Stimmung ihren Ausdruck, aus der heraus für den Leser die thematische Grundfrage des Dialogs ›Was ist Wissen‹ in Person und Schicksal des Redenden unmittelbar erfahrbar wird« (Heitsch 1988, 23). Auch der jüngste Kommentar, vorgelegt von Seeck, übt in der Frage nach der Funktion Zurückhaltung, obwohl er sich durchaus mit der Digression beschäftigt (Seeck 2010, 89).

Gegen die Auffassung der vollkommenen Irrelevanz spricht bereits, daß nichts leichter ist als den inneren Zusammenhang ethischer und theoretischer Fragen bei Platon nachzuweisen, die Untersuchung praktischer Fragen im Zusammenhang eines erkenntnistheoretischen Kurses dort also nie vollends irrelevant sein kann. Hierzu sei, ganz allgemein, auf die Platonische Tugendlehre verwiesen, ferner auf das Theorem von der Unterordnung aller Ideen unter die Idee des Guten und nicht zuletzt auf den sogenannten ethischen Intellektualismus. Doch auch moderatere Auslegungen, die der Digression den Status einer Fußnote zubilligen, schreiben ihr, und wohlgemerkt im günstigsten Fall, nur einen Wert für sich, nicht aber in Bezug auf die Konstruktion des »Theaitet« zu. Diese Art der Erklärung – oder vielmehr Nicht-Erklärung – hat die Forschung bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts dominiert. Friedländers Versuch einer kontextbezogenen Deutung (1930) war lange Zeit kaum in Gesellschaft; lediglich Cornford dachte in dieselbe Richtung (1935). Annemarie Capelles Bemerkung, daß man die Digression durchaus »als nicht herausnehmbares Kernstück« (Capelle 1961, 191) des Dialogs ansehen darf, ist zwar nobel, aber wenig fruchtbar, da sie nicht erklärt, aus welchen Gründen dieser Wandel der Auffassung nunmehr statthaft sei. Der vollzog sich tatsächlich mit den wichtigen Untersuchungen von Barker (1976) und Niehues-Pröbsting (1982). In der heutigen Forschung ist die Auffassung, bei der Digression handle es sich um einen integralen Bestandteil des »Theaitet«, weitgehend durchgesetzt, obwohl sich die Begründungen dafür sehr unterschiedlich ausnehmen.

Methode und Aufbau

Vor allem die Deutlichkeit des thematischen Bruchs macht die Untersuchung der Passage interessant. Ihr Erscheinen im Dialog ist für den Leser derart überraschend, daß die Frage nach der Funktion, die sie im Text ausübe, alle anderen relevanten Fragen bestimmen muß. Man kann die Funktion eines Gegenstands aber nicht erklären, ohne über seinen Inhalt zu reden. Was zusammengefaßt werden soll, muß zunächst ausgebreitet werden. Der größte Teil der vorliegenden Untersuchung wird demnach in der Analyse des theoretischen Gehalts der Digression bestehen müssen. Sobald darüber Klarheit herrscht, kann gefragt werden: Wieso placiert Platon eine Passage, in der praktische Fragen behandelt werden, in einem Dialog, dessen Gegenstand mehr als sonst einer dem Bereich der theoretischen Philosophie angehört? Wie erklärt sich der Bruch im Gedankenverlauf des Dialogs? Ist die Digression ein indigener Bestandteil oder ein Fremdkörper im Text?

So wie der Blick auf die Binnenfunktion durch das Herausarbeiten ihres Gehalts ermöglicht wird, so erscheint der Gehalt deutlicher durch den Vergleich mit Passagen aus anderen Dialogen und überhaupt durch theoretische Bezüge zu bekannten Platonischen Inhalten.[7] Es wird sich zeigen, daß ohne die Rücksicht auf das, was man Platonismus oder Platonisches System nennt, die genaue Funktion der Digression nicht verstehbar ist. Natürlich kann (und soll) auch diese Untersuchung nicht den alten (und reizvollen) Widerspruch zwischen Inhalt und Äußerung, eigentlicher Lehre und Form ihrer Darstellung, auflösen, in dem Platons Werk von jeher steht und der der modernen Forschung, deren Beginn man bei Schleiermacher anzusetzen hätte[8], zum dauerhaften Problem geworden ist.[9] In der Konzentration auf das einzelne Werk[10] liegt nämlich ein gesteigertes Interesse für die Form. Gewiß auch eine Beschränkung, die das Herstellen größerer Zusammenhänge ausschließt.[11] Die Form wirkt auf den Inhalt zurück: Der Dialog zielt auf das genaue Gegenteil einer als einheitlich gedachten Philosophie, auf das Plurale, Partikulare, Dihairetische, und er befördert die besondere Schwierigkeit, daß in ihm das vom Autor Beabsichtigte bzw. im Werk strukturell Angelegte auf dramatische Weise, vermittelt durch verschiedene Subjektpositionen also, zum Ausdruck gebracht wird und die Frage, ob Figur und Autor übereinstimmen, sich immer wieder von neuem stellt. Zudem ist es eine Eigenart Platons, Theorien innerhalb seiner Dialoge zweckgebunden einzusetzen, nicht selten, um Lücken zu füllen oder eine aufgetretene Aporie zu überwinden, damit der Dialog seinen Fortgang nehme. Beispiele hierfür wären die meisten mythischen Reden in den Dialogen, worin die philosophische Idee nicht selbst mitgeteilt wird, da die Mythen als Metaphern fungieren, die theoretisch, didaktisch oder dialogtechnisch gelesen werden können. Zu nennen wären gleichfalls theoretische Exkurse wie etwa der über die Anamnesis im »Menon«, von dem Platon seinen Sokrates sagen läßt, daß er diese (seine) Theorie nicht so ganz vertreten wolle.[12] Die Antwort auf die Frage, inwieweit die Digression von einer solchen Beugung betroffen ist, kann unmöglich einer Untersuchung vorausgesetzt werden, in der sie, im günstigsten Fall, doch erst ermittelt werden kann. In der Konzentration auf das Dialogische liegt somit die Tendenz, die im Dialog getroffenen Aussagen Platons in ihrer Geltung abzuwerten. Daß ein Gedanke, der in einem dialogischen Kontext geäußert wird, nicht von Platon selbst mitgeteilt, sondern einer Figur in den Mund gelegt ist, die auf andere Personen der Szene und deren Aussagen reagiert, bedeutet nicht zwingend, daß diese Aussage ausschließlich durch diesen dialogischen Kontext verständlich werden kann. Es scheint sinnvoll, die Aussagen, die der Verfasser in einem Dialog hinterläßt, nicht zunächst einmal zu desavouieren, sondern zunächst einmal ernst zu nehmen.[13]

Die Erforschung Platons findet allerdings im Verhältnis dreier Prinzipien statt, zu denen sich jeder Forscher verhalten muß: dem synchronen Prinzip einer durch alle Dialoge gemeinsam vermittelten Gesamtlehre, dem synchronen Prinzip des abgeschlossenen Einzelwerks und dem diachronen Prinzip einer Entwicklungshypothese. Die von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an vorgenommenen stilistischen Analysen der als echt geltenden Dialoge haben eine gewisse Ordnung in die vormals bloß spekulativen Gedanken zur Datierung gebracht.[14] Wo aber die Entwicklungshypothese als Prämisse gesetzt ist, besteht die Gefahr, erscheinende Widersprüche des Platonischen Werks allzuleicht als entwicklungsbedingt zu übergehen. Man begreift theoretische Gebilde nicht auf die schlechteste Weise, wenn man den Linien ihrer inneren Oppositionen folgt, und in manchem Gegensatz liegt möglicherweise eine höhere Einheit verborgen, die sich der unmittelbaren Rezeption noch entzogen hat. Die Vermittlung von System und Entwicklung bedeutete unweigerlich, daß mindestens eine Entwicklung zum System hin oder eine vom System weg vorläge und somit das System nicht das Gesamtwerk Platons umfassen könnte. Der Gedanke ist nicht falsch, hat aber Konsequenzen. Wenn etwa die Ideenlehre im »Theaitet«, wo sie aufgrund seines Themas kaum fehlen dürfte, nicht zur Erwähnung kommt und im »Parmenides« sogar kritisiert wird, läßt sich dieser Widerspruch leicht lösen, indem man annimmt, daß er zeitlich bedingt ist. Demnach müßte der »Theaitet« als Ausdruck des Zweifels an der Ideenlehre gelesen und sein aporetischer Ausgang als absolut verstanden werden. Dagegen ließe der Dialog sich auch in einen systematischen Zusammenhang einordnen: als eine Art epistemologisches Propädeutikum der Platonischen Ideenlehre; sein aporetischer Ausgang diente damit der Einsicht, daß eine Erkenntnistheorie scheitern muß, wenn sie sich nicht des richtigen Modells (der Ideen) bedient.[15]

Wenn hier also Bezüge über das Einzelwerk hinaus hergestellt werden, soll damit weder die Binnenstruktur mißachtet noch die Möglichkeit einer persönlichen Entwicklung geleugnet, sondern es soll gezeigt werden, daß die Inhalte der Digression nicht willkürlich oder unbewußt gesetzt, sondern typisch für Platons Denken sind. Es scheint intuitiv richtig zu unterstellen, daß ein Philosoph, der sich theoretisch äußert, auch eine Theorie besitzt. Zumindest dies wäre zu konzedieren, daß die Gesamtmenge der Platonischen Dialoge sich dem Versuch widersetzt, eine restlos schlüssige Gesamtgestalt zu rekonstruieren. Doch die Zahl der Gemeinsamkeiten ist so hoch, daß ein kontinuierlicher theoretischer Zusammenhang angenommen werden muß. Platon lesen ist wie ein Spaziergang durchs Heimatdorf. Dauernd trifft man alte Bekannte. Und auch wenn man nicht jeden, den man trifft, immer gleich zweifelsfrei einordnen kann, so wäre doch absurd zu glauben, man befinde sich nicht in seinem Heimatdorf.

Jede Methode ist einseitig, eben weil sie Akzente setzen und damit Ungleichheit an ihrem Gegenstand herstellen muß, ganz so, wie es auch keine Verse gibt, die ausschließlich aus betonten Silben bestehen. Eine Methode, gegen die sich nichts einwenden ließe, ist nicht denkbar. Ein wissenschaftliches Verfahren ohne Methode freilich ebenso wenig. Die Digression soll demnach mit besonderer Rücksicht auf die in ihr behaupteten begrifflichen Korrelationen untersucht und durch Bezüge zu anderen Dialogen Platons ergänzt werden, ohne daß dabei der Anspruch erhoben würde, ein kontinuierliches Gesamtbild der Theorie Platons zu gewinnen. Eine genrebezogene, ästhetische Analyse der Passage (Sprache und Gestus der Rede, dramatische Entwicklung, Psychologie etc.) wird, weil auch die Philologie philosophische Werke zunächst als philosophische Erscheinungen fassen muss, in dieser Arbeit nicht angestrebt. Wenn aus dem Inhalt der Digression ihre Funktion abgeleitet werden kann, soll die Arbeit ihr Ziel erreicht haben.[16]

Die Untersuchung wird in drei Schritten vorgehen. Im ersten Teil soll sie sich der Digression zunächst unbefangen nähern, ihr Erscheinen im »Theaitet« nachzeichnen, ihre diachrone Struktur herausarbeiten. Auf die Art können zugleich erste Erkenntnisse über die Stellung der Passage im Dialog und ihre Konstruktion gewonnen als auch eine Erinnerung ihres Inhalts vollzogen werden, die es leichter macht, im zweiten Teil in die Erörterung zu treten. Das Geschäft des zweiten Teils besteht im wesentlichen darin, die erinnerte diachrone Struktur in eine synchrone Struktur zu überführen, also die grundlegenden begrifflichen Korrelationen der Passage herauszuarbeiten und zu diskutieren. Die Diskussion hat die Aufgabe, einzelne Elemente aufzuschlüsseln, Bezüge innerhalb der Passage herzustellen (Leitmotive, Spiegelungen v.a.) und, soweit es die Interpretation weiterbringt, Bezüge zu anderen Werken Platons deutlich zu machen. Der Abschnitt ist unterteilt nach vier Themen, die zusammen die Digression und ihren Gehalt zur Gänze abdecken: Polis, Erkenntnis, Metaphysik und Ethik. Der dritte Teil ist dann der Frage nach der Funktion der Digression im Dialog gewidmet. Er eignet sich die im ersten Teil gewonnen Erkenntnisse zur Stellung der Passage im Dialog an und arbeitet mit den Einsichten des zweiten Teils, die den Inhalt der Digression betreffen. Auf dieser Basis stehend sollen verschiedene Ansätze zur Klärung der Funktion diskutiert werden, um zum Abschluß einen Grundriß zu fertigen, der die Frage nach dem Zweck der Digression, dem Grund ihres Erscheinens im Dialog, beantworten soll.[17]

1. Erscheinen der Digression im »Theaitet«

1.1 Stellung im Dialog

Dialogtechnisch zerfällt der »Theaitet« in zwei Teile: in das einleitende Gespräch zwischen Eukleides und Terpsion (142a–143c) und das eigentliche Lehrgespräch zwischen Sokrates, Theodoros und Theaitetos (143c–210d). Dieses wiederum teilt sich in fünf: das einleitende Gespräch, worin Theaitetos vorgestellt, das Thema des Dialogs (die Definition des Wissens) angerissen und über die sokratische Methode der Maieutik gesprochen wird (143c–151d); ferner in die drei Teile, worin man jeweils eine der drei Definitionen des Wissens bespricht (151e–186e, 187a–201c, 201c–210d); und in die Digression, die sich numerisch ziemlich genau in der Mitte des gesamten Textkörpers findet (172c–177c).[18] Was die Dialogstruktur betrifft, steht sie inmitten der Abhandlung der ersten Wissensdefinition, die von ihr unterbrochen und nach dem Ende der Unterbrechung fortgesetzt wird.[19]

Die drei Teile, in denen die Definitionen behandelt werden, besitzen einen ähnlichen Aufbau: Sie beginnen mit der Einführung der jeweiligen Definition, von wo aus sie zu einem ausführlichen Exkurs ansetzen, dessen Inhalt bloß mittelbar auf die jeweilig vorgestellte Definition bezogen ist, und kommen erst nach Abschluß dieses Exkurses zu der eigentlichen Widerlegung der Definition. So wird etwa die zweite Definition, Wissen als wahre Meinung, nicht eher widerlegt, als eine ausführliche Diskussion fünfer Modelle zur Beantwortung der Frage, was falsche Meinung sei, zum Abschluß gebracht wurde (187e–200d). Der dritten Definition, Wissen als wahre Meinung mit Erklärung, wird, bevor der Begriff der Erklärung selbst auf- und angegriffen wird, die Erörterung und Widerlegung einer vagen Traumtheorie angeschlossen (201d–206b). Ähnlich verhält es sich in dem Teil, worin die Digression placiert ist und der die erste Definition, Wissen als Wahrnehmung, behandelt. Anstatt sich direkt auf den Wahrnehmungsbegriff und die Widerlegung der ersten Definition zu konzentrieren, leitet Sokrates das Gespräch auf den Homo-mensura-Satz[20] des Protagoras um, der ausführlicher als jede andere im Dialog vorgestellte Theorie diskutiert wird (152a–184b). Innerhalb dieses Exkurses nun findet sich, als Exkurs im Exkurs, die Digression.

Der Homo-mensura-Satz des Protagoras besagt, die Wahrheit einer Sache bestehe nicht an sich, sondern stets nur als das, was diese Sache für ein Anderes ist. Dies Andere ist der jeweilige Mensch, der die Sache wahrnimmt, daher der Mensch das Maß aller Dinge ist.[21] Solcherart formuliert bedeutet der Satz einen absoluten Relativismus, welchen Widerspruch Sokrates für seine Absicht, den Satz logisch zu destruieren, auszunutzen versteht. Die Aussage, alles sei relativ, ist ein Widerspruch in sich, da sie das Relative absolut setzt, aber mit dieser Setzung zumindest einen Fall geschaffen hat, dessen Gültigkeit als nicht relativ gesehen werden muß. Ein Widerspruch in einem System von Aussagen läßt sich für die Anfechtung dieser Aussagen gut ausnutzen. Sokrates demonstriert das, indem er aus Protagoras’ These einige konkrete Derivate ableitet und diese dann gegeneinander in Widerspruch setzt (171af.). Freilich kann ein Widerspruch nur dann als Einwand wirken, wenn er vom Betreffenden anerkannt wird. Der Homo-mensura-Satz entzieht vermittels desselben absoluten Relativismus, der ihm logisch zum Verhängnis wird, der Diskussion den Grund, wodurch sein Verfechter mit dem Hinweis auf die unangreifbare Gültigkeit des subjektiven Meinens (schließlich ist auch eine widersprüchliche Meinung eine Meinung) ihn aufrecht erhalten könnte. Dadurch gerät die Diskussion in eine Lage, in der eine weitere Verständigung nicht mehr möglich ist.[22] Bis zum Einsetzen der Digression hatte die gemeinsame Untersuchung der Protagoreischen These in der Tat verschiedene Einwände zum Vorschein gebracht, die der Ablehnung des Satzes weitere Nahrung gaben, sich jedoch bis dahin nicht als zwingend erwiesen hatten.[23] Die Ablehnung des Homo-mensura-Satzes scheint nicht nur logisch begründet, sondern auch intuitiv richtig, und Sokrates verweilt bei diesem Punkt etwas länger, ehe er seine Beweisführung fortsetzt. Offenkundig verhalte sich kein Mensch, nicht einmal Protagoras selbst (170d–171b), in Bezug auf Erkenntnis und Philosophie so, als habe es mit diesem Satz seine Richtigkeit. Denn wo man eine Auffassung für wahrer hält als eine andere, könne der Homo-mensura-Satz bereits keine absolute Geltung mehr besitzen (170a–171d). Allein für die unmittelbaren Sinneseindrücke läßt Sokrates den absoluten Relativismus gelten, für Fachfragen, etwa auf dem Gebiet der Medizin, hingegen nicht (171e). Überraschenderweise führt Sokrates, bei dieser Erkenntnis angelangt, das Gespräch nicht weiter an der Frage entlang, was Wahrheit eigentlich sei, sondern verweilt noch länger bei der Protagoreischen These, über die er nun ausführt, daß sie zwar in betreff der Theorie falsch sei und sich niemand ihr gemäß verhalte, bezüglich der praktischen Angelegenheiten jedoch scheine die Sache gerade umgekehrt zu sein, und jedermann verhalte sich, wie Protagoras es behauptet.[24] Unter diesen praktischen Angelegenheiten versteht Sokrates Vorgänge in der Polis, die die Klärung der Frage berühren, was gut oder schlecht (καλὰ καὶ αἰσχρά), gerecht oder ungerecht (δίκαια καὶ ἄδικα), ehrfürchtig oder lästerlich (ὅσια καὶ μή) sei (172a1f.). Bereits in der fingierten Verteidigungsrede hatte Sokrates im Namen des Protagoras die These vorgetragen, was jedem Staate gerecht und schön (δίκαια καὶ καλά) erscheine, das sei es ihm auch, solange er es dafür erklärt (167c4f.). Die Grundlagen des Staatswesens sind demnach bloße Konvention und keineswegs aus einer universellen Gesetzmäßigkeit hervorgegangen. Diesen Gedanken – eine Übertragung des Homo-mensura-Satzes auf die Polis – wiederholt Sokrates nun (172af.), und er wird zum unmittelbaren Anlaß für die Digression.

1.2 Gedanklicher Verlauf und Struktur

Zu beachten ist zunächst die gedankliche Eröffnung der Digression. Bevor Sokrates darin größere Bezüge herzustellen beginnt, wirft er dem Leser drei erratische Brocken vor die Füße, die vorderhand keinen sinnvollen Zusammenhang erkennen lassen. Zuerst skizziert er die praktische Relevanz des Homo-mensura-Satzes. Obgleich die meisten Menschen in der Theorie nicht die These des Protagoras teilen, verhalten sie sich in der Praxis entsprechend. Aber das, so Sokrates, sei bereits wieder die nächste Abhandlung (172bf.). Nachdem Sokrates und Theodoros sich darauf verständigt haben, in diese Abhandlung einzusteigen, setzt Sokrates dann mit einer Beobachtung an, die nicht ohne weiteres mit dem Homo-mensura-Satz in Verbindung zu bringen ist, daß nämlich Philosophen vor Gericht oft Gelächter erregen (172c). Theodoros ist ebenso überrascht, wie der Leser sein muß, und erhält als Erklärung eine dritte, ebenso unvermittelt geäußerte Beobachtung, derzufolge sich der Gerichtsredner zum Philosophen wie der Sklave zum Freien verhalte (172cf.). Was immer Platon bei der Dialogführung mit diesem seltsamen Vorgehen bezweckt haben mag, erreicht hat er damit, daß des Lesers Aufmerksamkeit, ebenso wie die der Zuhörer Theodoros und Theaitetos, geweckt ist. Zusammenhänge setzen Erkenntnis voraus, und Erkenntnis zielt auf Zusammenhänge. Der Leser eines Buches ist immer geneigt, beieinanderstehende Sätze miteinander in Verbindung zu bringen. Gelingt das nicht ohne weiteres, ist sein Interesse geweckt; das Bedürfnis, Gewißheit zu erlangen, hier nicht befriedigt, meldet sich heftiger zu Wort. Mit diesem psychologischen Mechanismus scheint der Autor zu spielen, indem er an den Anfang drei Themen setzt – den praktischen Relativismus, die Lächerlichkeit, die Freiheit –, die erst im weiteren Verlauf der Digression enger verknüpft werden und wiederkehrende Themen der Passage sind. Diese Art der Eröffnung bestärkt den Verdacht, daß der Bruch, den die Digression darstellt, vom Autor ganz bewußt kalkuliert ist.[25]

Der gedankliche Verlauf der Digression läßt sich wie folgt wiedergeben: Zunächst ist Sokrates sich mit Theodoros darin einig, daß sie der Muße genug besitzen, an dieser Stelle des Gesprächs einen Exkurs über die Eigenheiten des Polislebens wagen zu können (172c). Solche Menschen wie er und Theodoros machten sich aber, so fährt er fort, vor Gericht oft genug zum Gespött der Leute, und auf eine Nachfrage des Theodoros fügt er als Erklärung an, daß der Rhetor sich zum Philosophen wie ein Sklave zu einem Freien verhalte (172cf.). Die Philosophie nehme sich einfach die Zeit, die sie benötigt, um ihren Gegenstand angemessen zu behandeln (172d). Die Redner vor Gericht dagegen zwinge die kontingentierte Redezeit, der unablässige Bezug auf den Gegner und die Notwendigkeit, Eingang in das Gehör der Richter zu finden, in ein Korsett, das keine Behandlung des Gegenstands ermöglicht, die diesem selbst gerecht wird. Die Rhetoren seien daher zum einen unfrei, zum anderen nur am Gegenstand, wie er für sie, und nicht, wie er an sich ist, interessiert und leiden infolge dieser beiden Umstände an einer Deformation der Seele, die sie kleinlich und ungerade macht (172e–173b). Nachdem Sokrates und Theodoros sich darauf verständigt haben, daß sie die Muße, die sie als Philosophen besitzen, auch auf die Betrachtung der Lebensweise der Philosophen verwenden wollen (173b–c), fährt Sokrates mit der Beschreibung der anderen Seite fort. Die Philosophen kennen die Polis, das Alltagsleben, die Gerichte und die Politik nicht. Der wahre Philosoph wohne nur körperlich im Staat. Er erforsche die Dinge im Ganzen (also: an sich), ohne sich zum Naheliegenden herabzulassen (173c–174a). Theodoros bittet Sokrates, sich in der Sache genauer zu erklären, was dieser zum Anlaß nimmt, jene berühmte Anekdote des Thales ins Spiel zu bringen, wonach dieser bei der Sternenschau, den Blick allein nach oben gerichtet, in einen Brunnen gefallen und von einer thrakischen Magd verspottet worden sei (174a–b). Die Anekdote zeige, daß der Philosoph das Allgemeine und Bedeutende kennt, während das Besondere und unmittelbar vor Augen Liegende ihm fremd sei. So wisse er im begrifflichen Sinne genau, was der Mensch ist, und kenne doch keinen einzelnen Menschen (174b). Die Konfrontation der philosophischen Lebensweise mit der öffentlichen ist somit ein unerschöpflicher Quell von Mißverständnissen und Mißgeschicken. Der Philosoph schätzt politische Macht, Besitz und Genealogien gering (174c–175b), er anerkennt allein den Geistesadel. Die Befreiung des Polismenschen durch die Philosophie bedeute den Ausgang aus dem angewandten Recht, worin stets nur partikulare Standpunkte vertreten werden, und die Hinwendung zur Gerechtigkeit als solcher. Es sei dies indes ein Gang in die Höhe; fehlende Gewöhnung mache den Aufstieg schwer (175c–d). Schließlich stellt Sokrates beide Lebensweisen zusammenfassend gegenüber: auf der einen Seite der Philosoph mit Freiheit und Muße und der daraus resultierenden Lächerlichkeit bei nichtigen Dingen, auf der anderen Seite der Gerichtsredner, geschickt zwar in diesen Angelegenheiten, aber unfrei (175e). An dieser Stelle angelangt, nimmt die Erörterung eine weitere überraschende Wendung. Sokrates redet über das Schlechte und seine Natur. Das Schlechte werde es immer geben, weil es mit dem Guten eine Relation bildet, und wo folglich das eine nicht ist, auch das andere nicht sein kann (176a). Bei den Göttern aber wohne allein das Gute; nur den Menschen sei das Schlechte eigen (ebd.). Der Weg zum Guten bestehe daher in der Verähnlichung mit Gott (Homoiosis theo), soweit es möglich ist (176b). Gott sei niemals und auf keine Weise ungerecht, sondern in jeder Hinsicht vollkommen. Diese Erkenntnis mache die wahre Weisheit und Tugend aus, und die Unwissenheit hierüber Dummheit und Schlechtigkeit (176c). Zwei Urbilder (Paradgeigmata) gebe es daher: das Göttliche, das zugleich das größte Glück bedeutet, und das Ungöttliche, das zugleich das größte Unglück ist.

Nimmt man wenige Stellen aus, besteht die Digression aus fünf größeren Logoi, die, in dieser Anordnung, eine Art Aufstieg zum Höheren darstellen. Sokrates, soll das heißen, arbeitet sich in seiner Rede vom Schlechten, das den Anlaß zum Exkurs bildet, zum Vollkommenen hinauf. Am Ende der Digression steht der Philosoph, der dem Göttlichen so nahegekommen ist, wie ein Mensch es irgend vermag. Nach der oben beschriebenen Eröffnung (172b–c) widmet sich Sokrates im ersten Logos (172d–173b) dem läppischen Treiben der Rhetoren in der Polis, um ihm im zweiten Logos (173c–174a) das edle Leben der Philosophen entgegenzustellen, das zunächst aber nicht so sehr edel erscheint als vielmehr naiv und auf andere Weise ignorant, was möglicherweise darin motiviert ist, der Spiegelkonstruktion, die die Digression insgesamt bestimmt[26], gerecht zu werden. Der dritte Logos (174a–175b), der davon handelt, was passiert, wenn beide Lebensweisen miteinander in Kollision geraten, bringt sodann zum Vorschein, daß die Unwissenheit des Philosophen eine bewußt eingenommene Haltung ist, die nicht auf Unfähigkeit, die nichtigen Gegenstände zu erkennen, beruht, sondern auf einer tieferen Kenntnis dieser Angelegenheiten, als sie die darin Verwickelten besitzen. Der vierte Logos (175b–e) beschreibt den Gang in die Höhe, das Vermögen der Philosophie zum wahrhaft freien Leben. Der fünfte Logos (176a–177a) skizziert eine Metaphysik des Guten, in der die beiden Lebensweisen als Paradeigmata wieder auftauchen und der philosophische Weg als Verähnlichung mit Gott vorgestellt wird. Eine thematische Ordnung der Digression, in der Reihenfolge ihrer Rede, ließe sich wie folgt darstellen:

gedanklicher_verlauf-skizze

 

2. Theoretischer Gehalt

Die Gegenüberstellung der theoretischen und praktischen Lebensweise (τρόπος, 175d8) vollzieht sich durch eine ziemlich konsequent ausgeführte Spiegelung (172d–173b, 173c–176a, 175d–176a).[27] Beide Weisen gehören unterschiedlichen Bereichen an; die eine der Politik oder dem Gerichtswesen, allgemeiner: dem Leben in der Polis, die andere dem, was Aristoteles später das theoretische Leben[28] genannt hat und von dem Sokrates nur widerwillig zugibt, daß es, und sei es bloß körperlich, ebenfalls in der Polis stattfindet. Beiden Bereichen wird eine Disziplin zugeordnet: der Polis die Rhetorik, dem theoretischen Leben die Philosophie. Die Eigenschaften beider Lebensweisen verhalten sich zueinander wie Komplementärmengen: Die Philosophen sind frei, die Rhetoren unfrei; die Philosophen gerade in der Seele, die Rhetoren ungerade; die Philosophen in nichtigen Dingen ungeschickt, die Rhetoren in nichtigen Dingen geschickt; die Philosophen in wichtigen Dingen befugt, die Rhetoren in wichtigen Dingen unbefugt. Beide Disziplinen erfüllen die Zwecke ihrer Bereiche. In der Rhetorik geht es stets um die Durchsetzung von Sonderinteressen bestimmter Menschen gegen Sonderinteressen anderer. In der Philosophie geht es um Allgemeingültigkeit. Der Philosoph weiß, was Gerechtigkeit als solche ist, weil er von der Rechtspraxis absieht. Denn der Streit vor Gericht geht nicht um dieses oder jenes, sondern immer nur um einen selbst. Nicht der Gegenstände an sich, sondern das, was er für den Redenden ist, interessiert in der Rechtspraxis, und diese Praxis erweist sich somit als Verwirklichung des Homo-mensura-Satzes, von dem damit deutlich zutage tritt, daß Protagoras ihn den Erfahrungen des Polislebens entnommen und auf die Erkenntnistheorie angewendet hat.

Die auffällige Bildung der Komplementärmengen kann kaum als zufällig betrachtet werden. Die Digression bietet sich dar als eine anschauliche und vielseitige Rede, die man, was ihre sprachlichen und erzählerischen Eigenschaften betrifft, fast kulinarisch nennen kann. Trotz dieser äußerlichen Vielfalt ist sie jedoch streng konstruiert. Zum einen, wie wir sahen, vertikal, in ihrem Verlauf und Aufbau; zum anderen, wie eben behauptet, horizontal, durch eine streng durchgeführte Spiegelung, die in fast jedem Fall Kontradiktionen bildet: Freiheit – Zwang; Totalität – Partikularität; Objektivität – Subjektivität; Absolutheit – Relativismus; Göttliches – Sterbliches; Gerechtigkeit selbst – Rechtspraxis (Interessiertheit); Ferne – Nähe; Authentizität – Schein; gerade Seelen – ungerade Seelen; Gut – Schlecht; Glück – Unglück. Die Digression ist dualistisch, wie es der reinste Platonismus stärker nicht sein könnte. Es ist, als habe Sokrates die ganze Welt mit einem scharfen und mächtigen Schnitt gespalten.

Im folgenden soll diesem Schnitt nachgegangen und gezeigt werden, wie sich der Dualismus der Digression konkret äußert. Es ist dabei sinnvoll, die Untersuchung nach Themen zu organisieren, denn die konkreten Äußerungen der Digression sind von einer Vielartigkeit und gegenseitigen Bedingtheit, daß sie der Ordnung bedürfen und nicht einfach der Reihe ihres Auftretens gemäß vorgetragen werden können. Zunächst soll im Abschnitt Polis (2.1) ein Blick auf die Lebensweise der Rhetoren geworfen werden; das Motiv der Freiheit spielt hierbei eine besondere Rolle, und man erhält eine erste Andeutung der Platonischen Ethik. Im Anschluß daran wird der Faden von der anderen Seite her aufgenommen, und es kommt zur Betrachtung die Erkenntnis (2.2), womit die Lebensweise der Philosophen untersucht werden wird. Mit der Unterscheidung von Polis und Erkenntnis sind zugleich die Bereiche benannt, in denen Rhetoren und Philosophen ihr geistiges Leben führen. Der Abschnitt Metaphysik (2.3) wird zeigen, daß Platon den Gegensatz von Tat- und Geistesleben theologisch fundiert, wodurch der jegliche Relativität verliert. Im letzten Abschnitt Ethik (2.4) soll das bis dorthin Erarbeitete in die Frage nach dem guten Leben münden, sich also zeigen, wie der Verfasser der Digression das Rechtsverhältnis beider von ihm beschrieben Lebensweisen denkt.

2.1 Polis

Zunächst scheint, als wolle Sokrates mit seiner Dichotomie einmal mehr auf die bekannte Entgegensetzung von Dialektik und Rhetorik bzw. Philosophie und Sophistik hinaus.[29] Das scheint um so mehr plausibel, als die Digression im Kontext der Kritik gegen Protagoras steht. Sokrates wählt folglich auch das Treiben in den Dikasterien aus, um seine Kritik der praktischen Lebensweise zu eröffnen (172c). Der weitere Verlauf der Digression indes zeigt, daß es Sokrates um das Treiben der Polis insgesamt geht, doch zugleich, daß diese Erweiterung an dem Verhältnis nichts wesentlich ändert. Das Gerichtswesen ist exemplarisch für das Polisleben überhaupt. Das Maß, an dem Rhetoren und Philosophen ihre Unterscheidung haben, ist die Freiheit. Die Rhetoren, sagt Sokrates, sind Sklaven der Umstände, in denen sie sich befinden. Sie unterliegen Zwängen, durch die sie eingeschränkt werden. Die Veranschaulichung dieser Zwänge macht deutlich, daß Sokrates genauer äußerliche Zwänge meint. Auch der Philosoph schließlich redet nicht willkürlich, sollte z.B. vermeiden, Schlüsse zu ziehen, die sich vermittels der Logik nicht ziehen lassen. Aber diese Art Zwang ist eine innere Notwendigkeit, die sich mithin aus der Natur der Untersuchung selbst herleitet. Die Zwänge des Gerichtsredners dagegen kommen nicht aus dem Gegenstand, den er behandelt, oder gar aus seinen eigenen Überzeugungen, sondern aus den formalen Vorgaben des Gerichtsverfahrens und den Bedingungen des Gefechts, in dem er sich befindet (172d–173b). So zwingt ihn die kontingentierte Redezeit[30] dazu, sich thematisch und gedanklich einzuschränken, bindet ihn ferner die sogenannte Antomosie[31], so daß er nicht die Möglichkeit hat, seine Rede ad hoc zu erweitern, wenn es der verhandelte Sachverhalt nötig macht. Die Unfreiheit des Rhetoren zeigt sich zugleich darin, daß er sich dem Urteil eines Anderen unterwerfen muß. Im philosophischen Gespräch ist es der Sprechende selbst, der das Urteil fällt, und ein Anderer kann ihm im bestenfalls widersprechen. Im Gerichtsprozeß liegt die Entscheidung gänzlich bei dem Anderen, dem Richter nämlich; der Rhetor kann mit aller Brillanz reden und ist doch davon abhängig, ob der Herr, dem er vorträgt, ihn versteht. Daß im Athener Gerichtswesen des 4. und 5. Jahrhunderts die Richter Laien waren[32], verschärft das Verhältnis zusätzlich. Professionelle Richter, die mit Scharfsinn und Kenntnissen einen Prozeß führen, wären durch eine sachgemäße Darstellung vielleicht noch zu überzeugen, aber die große Zahl der Richter zum einen und ihr Laienstatus zum anderen zwingt den Redner geradewegs zum Populismus, dazu, die Rede gefällig zu machen und nicht komplizierter als unbedingt nötig. Zugleich ermöglicht es ihm die bewußte Irreführung, die bei professionellen Richtern vermutlich schwerer fiele. Unfrei auch macht ihn schließlich die agonale Situation, in der er sich vor Gericht befindet. Ein juristischer Prozeß ist ein Wettkampf, und das wirkt sich auch auf die Rede aus. Ziel ist der Sieg um jeden Preis; der Redner folglich wählt die erfolgreichsten Mittel und somit – eingedenk seiner Zuhörer – in der Regel nicht die erkenntnisträchtigsten. Dadurch, daß der Sieg das einzige und unabdingbare Ziel des Agons ist, hat er nicht die Freiheit, seinen Standpunkt aufzugeben, auch wenn er erkennt, daß seine Argumente den Gegenstand nicht treffen. In den Platonischen Dialogen sieht man häufig Gesprächspartner von ihren Auffassungen abrücken, wodurch allein möglich wird, daß man im gemeinsamen Gang der Erörterung voran und der Erkenntnis näherkommt. Im Agon vor Gericht ist das nicht möglich, da der Redende nichts davon hat, Erkenntnisse zu gewinnen, wenn das zugleich seine Niederlage im Prozeß bedeutet. Subjektivität ist also nicht nur statthaft, sondern geradezu Erfordernis im Prozeßwesen. In seinen Reden, sagt Sokrates vom Rhetor, ist er stets bezogen auf die Mitknechte (ἀεὶ περὶ ὁμοδούλου, 172e5), womit zum einen jene Dynamik des Prozesses ausgedrückt wird, die die Involvierten aneinander statt an den verhandelten Gegenstand bindet, die Abfolge von Aktion und Reaktion wichtiger sein läßt als die Darlegung einer in sich stimmigen Position, und wodurch zum anderen jener Relativismus erkennbar wird, der im Homo-mensura-Satz seine philosophische Form erhalten hat und dessen praktische Ausformung in der Überzeugung besteht, Recht sei, was einem selbst frommt. Aus dem Relativismus folgt die partikulare Rechtsauffassung, das Pflegen von Sonderinteressen[33] also, womit die anderen beiden Seiten, von denen aus man den Komplex betrachten kann, genannt sind. Es ist eine der Botschaften, die die Digression mitteilt, daß geistige Unfreiheit, rechtliche Partikularität und rezeptionsbedingter Relativismus Ausprägungen derselben Haltung sind.

All diese Einschränkungen indes müssen dem Philosophen schier lächerlich scheinen, so daß er, sie natürlich mißachtend, sich selbst der Lächerlichkeit preisgibt, wenn er denn vor Gericht aufzutreten gezwungen ist. Indem er sich den äußerlichen Zwängen nicht unterwirft, macht er sich aber nicht nur lächerlich, sondern erregt schließlich großen Ärger, da er, anders als der Rhetor, seine Rede den Rezeptionsbedingungen nicht unterwirft und vielmehr genau das sagt, was ihm wahr, gut und schön scheint, sowie sich jeglicher Schmeichelei enthält. Man kennt dieses Verhältnis bereits aus dem Streitgespräch, das Sokrates mit Kallikles im »Gorgias« führt. Auch dort macht sich der Philosoph bei Gericht lächerlich (Gor 484c–e, vgl. auch Pol 517d), auch dort erregt er Ärger, weil er das Gute an die Stelle des Angenehmen setzt (Gor 521e–522b).

Eine kleine Digression zum Verhältnis des bisher Gesagten mit dem »Gorgias« soll sich als sinnvoll erweisen, wobei die Freiheit, die Sokrates mit Zeit bezahlt, hier mit Raum und Zeit vergolten werden muss. Der »Gorgias« eröffnet mit einer Diskussion um den Begriff der Rhetorik, läßt aber bald erkennen, daß sein eigentliches Thema die Differenz des Guten und des Angenehmen ist. Die Rhetorik war nur der exemplarische Gegenstand, von dem auf dieses Thema zu kommen war, und bereits das Polos-Gespräch, in dem Sokrates seine Analogie des Verhältnisses von fachgerechter Behandlung (τέχνη) und Schmeichelei (κολακεία) in den Bereichen Seele und Körper durchspielt (Gor 462d–465e), ist unverkennbar vom Verhältnis des Nützlichen mit dem Angenehmen geprägt. Weil die Rhetorik auf das Angenehme zielt, kann sie das Gute nicht bewirken. Wie im Bereich des Körpers die Kochkunst (im Gegensatz zur Medizin) und die Kosmetik (im Gegensatz zur Athletik) angenehm, aber zerstörerisch wirken, so richtet die Rhetorik im Bereich der Seele Schaden an, indem sie nicht auf Besserung gerichtet ist, sondern darauf, dem menschlichen Gemüt zu schmeicheln. Dieses Verhältnis vom Angenehmen und Nützlichen liegt auch der Digression zugrunde, mit dem Unterschied, daß im »Gorgias« der Gesetzgebung (νομοθετική, Gor 464b) zukommt, das Nützliche zu erhalten, was laut der Digression allein die Philosophie bewirken kann. Diese arbeitet nicht mit Schmeichelei, sondern genau mit dem, was sie ist: Sie muß ihren eigenen Gesetzen folgen und darf sich nicht darum bekümmern, ob, was sie herausbringt, gern gehört wird. Auf diesem Weg gelangt sie zur wahren Gerechtigkeit, und darin, daß die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη, Gor 464c) die eigentliche Urheberin des Nützlichen ist, herrscht wiederum Einigkeit zwischen dem »Gorgias« und der Digression. Im Angesicht solch hoher Ähnlichkeiten überrascht es nicht, daß man im »Gorgias« und in der Digression auch semantisch viele Entsprechungen findet. So redet Sokrates bereits unmittelbar vor Beginn der Digression vom Gesunden und Ungesunden (τὰ ὑγιεινὰ καὶ νοσώδη, 171e4f.), an anderer Stelle vom Schmeicheln mit Worten (λόγῳ θωπεῦσαι, 173a2), um schließlich nochmals die Kochkunst und die Schmeichelei (175e4) zu erinnern. Am Schluß der Digression spricht er davon, daß den Rhetoren, sobald sie einer Prüfung durch den Philosophen unterzogen werden, nichts bleibt als unmännlich zu fliehen (ἀνάνδρως φυγεῖν, 177b4). Kallikles benutzt dasselbe Vokabular in Bezug auf Philosophen, die mit der Polis konfrontiert werden (Gor 485d). Zum anderen ist in der Analogie des Polos-Gesprächs davon die Rede, daß die Rhetorik ein Schattenbild (εἴδωλον, Gor 463d) sei, was an das Thema der Wahrnehmung erinnert, das, wie wir sahen, in dem Zusammenhang, worin die Digression eingebettet ist, eine wichtige Rolle spielt, und gleichfalls, wie wir noch sehen werden, in der Digression selbst. Sechs Anläufe benötigt Gorigas, um die Rhetorik zu definieren (Gor 449d–455a); das Ergebnis schließlich erinnert in jedem Punkt Bekanntes aus der Digression: Die Rhetorik bezieht sich auf Reden mit politischen oder juristischen Gegenständen, will das Gerechte bewirken und wirkt durch Überredung, nicht durch Belehrung. Wir hätten also die Bereiche, die den Rhetoren in der Digression zugeschrieben werden, ihren Anspruch auf Gerechtigkeit, der im »Gorgias« ebenso widerlegt wie in der Digression abgestritten wird, und endlich das Zugeständnis, daß es auf den Erfolg der Rede (Überredung) und nicht auf ihren eigentlichen Wert (Belehrung) ankommt. Auch den Begriff der Muße (σχολή, 172c2) treffen wir im »Gorgias« wieder, wenn Sokrates suggeriert, der Rhetor könne nur glauben machen, nicht aber überzeugen, weil ihm vor Gericht oder anderen Versammlungen die Zeit fehlt (Gor 455a). Wie in der Digression liegt die Begrenztheit des Rhetors genau darin, daß er nicht erkennt, wo seine Grenzen sind.[34] Von den Fehlern, die Gorgias in der Diskussion mit Sokrates (Gor 449a–461b) begeht, ist der folgenreichste der, daß er den Anspruch hat, die Rhetorik als eine Königsdisziplin zu etablieren. Das hindert ihn zuzugeben, was evident ist, daß nämlich die Rhetorik sich auf die Form der Rede bezieht und nicht auf ihren Inhalt. Gäbe er das zu, müßte er auch zugeben, daß man weiterer Künste bedarf, um erfolgreich zu sein. Eben in der Überzeugung, daß das nicht der Fall ist, liegt aber der Ansatz der Sophisten, und vielleicht erklärt sich dadurch bereits die ganze, gleichwohl tiefe und unversöhnliche Feindschaft der philosophischen Hegemonialmacht Platon gegen Gestalten wie Protagoras, Gorgias, Antiphon, Thrasymachos und Kallikles. Daß all diese Redelehrer oder Politiker Fragen von wahrhaft sittlichem Gehalt auf bloße Machtpolitik reduzierten, in der es nur noch darum geht, wie man Konkurrenten ausschaltet, persönlichen Vorteil erlangt und die Menge auf seine Seite bringt, mußte von Platon als große Gefahr gesehen werden, und er hatte ja tatsächlich – was immer man von dessen Stoßrichtung halten mag – ein sittliches Anliegen. So wirkt es wie eine schwarze Pointe, wenn er im »Gorgias« der Rhetorik den Status einer technischen Disziplin (τέχνη) überhaupt abspricht und sie eine ἐμπειρία (Gor 462c) nennt, eine allein durch Routine sich konstituierende Tätigkeit, die nicht auf Wissen beruht und keines hervorbingt. Eine Pointe allerdings, die in der Digression offensicht wiederholt wird, denn das Treiben der Rhetoren, wie es dort beschrieben und im »Gorgias« anschaulich gemacht ist, scheint in diesem Begriff der ἐμπειρία ganz aufzugehen und kaum zufällig der philosophischen Erkenntnis entgegengesetzt zu sein.

Die anhaltende Tätigkeit nämlich bleibt nicht ohne Wirkung auf das Subjekt. Gemäß der antiken Ethik, die allgemein nicht auf die einzelne Handlung (und ihr Verhältnis zu vorausgesetzten Regeln) gerichtet ist, sondern nach der Haltung fragt, die sich aus den Handlungen eines Menschen ablesen läßt, arbeitet auch Platon mit jenem Theorem, das Aristoteles im zweiten Buch der »Nikomachischen Ethik« mehr zusammengefaßt als eigentümlich hervorgebracht hat[35], demzufolge anhaltendes Handeln in einer bestimmten Weise zur Ausprägung entsprechender Haltungen führt. Folglich läßt Platon Sokrates sagen, daß die Rhetoren durch ihr Treiben eine Deformation in der Seele erleiden, daß sie ungerade und kleinlich werden, wie ihre Reden es sind.[36] Die Fähigkeiten der Rhetoren entsprechen den Anforderungen der Bereiche, in denen sie sich aufhalten: Gericht, Agora, Volksversammlung etc. Dieser speziell entwickelten Fähigkeiten wegen können sie sich in dieser Umgebung durchsetzen, doch sie bezahlen das mit einem Tod vor dem Tod (176df.), und es dürfte nicht zu viel vermutet sein, daß Platon auch jene seelische Deformation als Verlust des freien Lebens verstanden haben wollte, von der er ja glaubt, daß sie – wie das Attribut ungerade (οὐκ ὀρθοί) andeutet – der Natur des Menschen entgegensteht.

Liegt nun die Freiheit des Philosophen demgegenüber darin, sich aller dieser Dinge zu enthalten? Kann folglich nur, wer nichts tut, frei sein? – Es ist möglich, die Digression so zu verstehen, doch wahrscheinlicher wäre, mit Rücksicht auf logischen Beziehungen, mit Rücksicht zudem auf die Biographie ihres Autors, nicht in Passivität allein das Ideal der Passage erfüllt zu sehen. Nicht nicht zu handeln ist der Schlüssel zur Freiheit, sondern die Wahl dessen, was man tut und was man läßt. Die Freiheit des Philosophen besteht darin, daß er keinem anderen Zwang unterliegt als dem, den er sich selbst auferlegt. Er entscheidet, was der Verfolgung wert ist, und einmal entschieden, vermag er den gewählten Weg zu gehen, ohne sich um äußerliche Beschränkungen sorgen zu müssen. Gewiss kann er das nur, weil die Dinge, die er wählt – die Erforschung der Natur, der großen ontischen Zusammenhänge, der menschlichen Erkenntnis, der Gerechtigkeit usf. – von keinem anderen abhängen als von ihm. Allein darauf kommt es ihm an, ob er das Wahre trifft; wie lang einer redet, ist ihm naturgemäß gleich.[37] Die Reden sind folglich die Knechte der Philosophen, während die Rhetoren die Knechte ihrer Reden sind (173c).

Der in der Digression vermittelte Freiheitsbegriff will somit beachtet sein. Zwei Lesarten bieten sich hierbei an. Entweder: Lösgelöstheit von persönlichen Interessen ist auch eine Form der Freiheit. Für den Philosophen besteht Unfreiheit nicht nur in äußerlichem Zwang, sondern auch in innerlichem. Nur dort, wo das eigene Interesse nicht im Spiel ist, besteht die Möglichkeit, darüberzustehen und objektiv zu urteilen, die Möglichkeit also, den absoluten Relativismus zu brechen. Oder: Das Verfolgen jener Objektivität ist nicht Gelöstheit von den eigenen Interessen des Philosophen, sondern Ausdruck seines ureigenen Interesses. Der Philosoph unterscheidet sich vom Rhetor nicht dadurch, daß er seine persönlichen Interessen zurückstellt, sondern darin, daß seine persönlichen Interessen nicht partikular sind und Objektivität ermöglichen, weil er die Gabe und den Willen besitzt, das Wahre zu treffen.[38] Verhält sich der Philosoph, wie er sich verhält, weil er beherrscht ist, oder, weil er gerade so ist, wie er sich verhält? Man kann darüber streiten, welche Lesart besser begründet ist[39], aber man sollte es vielleicht nicht, weil sie beide denselben Gedankengang bedeuten, nur vom je anderen Ende her begonnen, und sich zwischen beiden zu entscheiden käme dem Versuch gleich, eine Schallplatte ohne B-Seite herzustellen. Die Haltung des Darüberstehens ist von allen Arten, sich in der Gesellschaft zu verhalten, diejenige, die am schwierigsten einzunehmen ist und das höchste Maß an Selbstbeherrschung erfordert. Zugleich verliert die Selbstbeherrschtheit, wo sie zur Haltung geworden ist, einen Großteil ihrer Schwierigkeit. Wo Verhalten in Haltung übergeht, wird es schwer, zwischen Gewohnheit und bewußt eingenommener Haltung zu unterscheiden. Die Freiheit, seiner eigenen Seelenlage zu folgen, und der selbst auferlegte Zwang, den diese Seelenlage zum Inhalt hat, fallen hier in eins, und auch Beherrschtheit läßt sich als Charaktereigenschaft verstehen, die durch Gewohnheit ausgebildet wird. Beide Lesarten verstehen die Freiheit also weniger als Freiheit von einem Zwang, sondern vielmehr als Möglichkeit, die in einer Haltung steckt. Die Haltung ist die souveräne, nicht eigennützige, nicht willkürliche Haltung des reinen Theoretisierens, in dem allein das Ganze erkannt werden kann und die Chappell in der Formel “the liberty to pursue the truth” (Chappell 2004, 121) auf den Begriff bringt. Damit ist zugleich gesagt, daß jene Muße, die die Digression rechtfertigt, nicht bloße Willkür ist.[40] Der Philosoph kann machen, was er will. Aber wenn er groß ist (λέγωμεν δή, ὡς ἔοικεν, ἐπεὶ σοί γε δοκεῖ, περὶ τῶν κορυφαίων, 173c7f.), wird er die Freiheit gut nutzen. Er wird sie nicht mißbrauchen, sich nicht bloßen Launen hingeben. Seine Freiheit ist also nicht Bequemlichkeit, seine Muße nicht Müßiggang. Sie besteht einerseits in der Abwesenheit äußerlicher Zwänge, andererseits in der Möglichkeit, die Wahrheit zu erlangen. Beides ist dem Rhetor verstellt.

2.2 Erkenntnis

In der Frage der Erkenntnis, dem Weg zu jener Wahrheit, läßt Sokrates keine Kompromisse zu. Auch hier ist die Digression dualistisch bis zum äußersten. Die Gegenüberstellung der partikularen und der aufs Ganze gerichteten Bewußtseinslage bestimmt die in der Digression vermittelte Epistemologie. Vor Gericht, sagt Sokrates, gehe es stets nur darum, ob ich dir Unrecht tue oder du mir (τί ἐγὼ σὲ ἀδικῶ ἢ σὺ ἐμέ, 175c1f.), während der philosophische Weg in der Hinwendung zur Gerechtigkeit als solcher (εἰς σκέψιν αὐτῆς δικαιοσύνης, ebd.) besteht. Wir werden später noch Gelegenheit haben, dieses Verhältnis von Recht und Rechtpraxis dahingehend zu betrachten, was es für den Begriff der Gerechtigkeit bedeutet. Zunächst konzentrieren wir uns auf seine Bedeutung für die menschliche Erkenntnis. Im τί ἐγὼ σὲ ἀδικῶ ἢ σὺ ἐμέ ist jener Relativismus ausgedrückt, gegen den Sokrates sich im ersten Teil richtet. Es geht dort nie um die Sache, sondern immer nur um einen selbst (ἀεὶ τὴν περὶ αὐτοῦ, 172e7). Der Relativismus erscheint bei Gericht in praktischer Form, aber auch die Dinge, die man praktisch tut, drücken ein Dafürhalten aus, teilen mit, was der Mensch, indem er sie tut, von der Welt denkt. Die ständige Bezogenheit des Rhetors auf die Gegenseite macht ihn unfrei und befangen. Freiheit, so muß man Sokrates hier verstehen, ist die Voraussetzung für wahrhafte Erkenntnis, und das meint genauer: seinen Geist freizumachen von hinderlichen und nichtigen Dingen. Das ist nur möglich in einer Haltung des Darüberstehens, denn wahres Wissen ist Wissen des Ganzen. Daß Wissen umfassendes Wissen sein muß, ist eine These, die im gesamten »Theaitet« präsent zu sein scheint. So ist offenbar im Diskurs über die falsche Meinung ein ausschließlich in der Vollständigkeit als realisiert gedachter Begriff von Wissen zugrundegelegt (187a–190e), während auf der anderen Seite nirgends im Dialog ein Hinweis placiert ist, der darauf schließen ließe, Platon akzeptiere auch ein unvollständiges Wissen als Wissen. Über den einzelnen Dialog hinaus wird der Zusammenhang noch deutlicher. Lassen wir die Frage, inwieweit die Ideentheorie als Hintergrund des »Theaitet« angenommen werden darf, zunächst noch beiseite und beachten, daß auch die Ideenlehre einen Wissensbegriff behauptet, der mit dem der Digression verglichen werden kann. Der Gegenstand des Wissens, das heißt: das Wahre, das gewußt werden kann, liegt bei Platon nicht in der sinnlichen Wahrnehmung und nicht im Einzelnen (Phd 65d–67a; 79a). Die Reden von der ewigen (wahren) Welt werden verläßlicher sein, die Reden von der abgebildeten (sinnlichen) Welt weniger verläßlich, denn wie das Sein sich zum Werden verhält, so die Wahrheit zum Glauben.[41] Das Wahre setzt sich dem Körperlichen entgegen und ist der Inbegriff des Göttlichen (Pol 500b–d). Dieser Wissensbegriff beleuchtet den Streit zwischen Philosophie und Rhetorik von einer neuen Seite. Beide erheben den Anspruch, über alle nur denkbaren Gegenstände handeln zu können; das macht ihre besondere Konkurrenz aus. Sie unterscheiden sich aber in der Art, wie sie dieselben Gegenstände angehen. Sinneswelt bedeutet bei Platon eben auch: Symposien, Hetairie, Agora, Volksversammlung, Gerichtshöfe, Verwaltung, Areopag, Alltag, kurzum: das Leben zwischen den Nächsten und Nachbarn (174b). Der Rhetor bleibt im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und des Alltags.[42] Der Philosoph, das Allgemeine suchend, flieht das Besondere.[43]

Natürlich muß man die Frage stellen, wie es zugehen soll, daß einer das Allgemeine kennt, ohne vom Besonderen Notiz zu nehmen. Hierauf gibt die Digression nur mittelbar Antwort. Sokrates bringt zur Erklärung der eben zitierten Stelle ein Pindar-Wort mit einer Anekdote über Thales in Verbindung. Die Pindar-Stelle wird von Sokrates ins Spiel gebracht, um die Verachtung der naheliegenden Dinge (τὰ ἐγγύς) durch den Philosophen auszudrücken: Sein Denken aber, all dies für klein und nichtig haltend, fliegt verächtlich überall umher, wie Pindar sagt, »das in den Tiefen der Erde« und das auf ihr messend, und »über dem Himmel« die Sterne betrachtend.[44] Von Pindar stammen die Formeln »in den Tiefen der Erde« (τά τε γᾶς ὑπένερθε) und »über dem Himmel« (οὐρανοῦ θ᾿ ὕπερ).[45] Die Zusätze von Sokrates verändern ein wenig den Sinn der Stelle. Bereits ohne Hinzufügung entspräche sie dem Kontext, in dem sie in der Digression zur Erwähnung kommt: Sowohl der Gang unter die Erde als auch die Schau über den Himmel rückt den Blick weg von der unmittelbaren Erfahrungswelt in das Geschäftsgebiet des Philosophen. Ausgeschlossen sind in dieser zweifachen Ortsbestimmung τὰ ἐγγύς, die naheliegenden Dinge, worunter alles fällt, was auf der Erde ist. Die »Tiefen der Erde« sind der sinnlichen Welt ebenso fern wie das, was »über dem Himmel« ist. Sokrates’ Zusatz verändert den Sinn also insofern, als er die Transzendenz wieder abschwächt. Die Erforschung des Unterirdischen ergänzt er durch καὶ τὰ ἐπίπεδα γεωμετροῦσα, durch Landvermessung also, und die Verortung »über dem Himmel« erfährt eine Präzisierung durch ἀστρονομοῦσα, Astronomie. Die Landvermessung findet nun nicht in den Tiefen der Erde statt, sondern auf der Erde. Sie rückt die Tätigkeit damit wieder näher an die alltäglichen, vor Augen liegenden Dinge. Gleichfalls geht der Blick nach oben bei Pindar über den Himmel hinaus, aber wenn Sokrates daraus eine Astronomie macht, rückt er auch diese Tätigkeit wieder näher an die sinnliche Welt. Es ist vielleicht bemerkenswert, daß Sokrates’ Gesprächspartner Theodoros Mathematiker ist und zu den Tätigkeiten der Mathematiker in der Antike auch Astronomie und Landvermessung gehörten. Man kann diese Zusätze also als kontextbedingte Zugeständnisse an Theodoros verstehen. Wie diese Stelle platonisch zu verstehen ist, hat David Sedley, seinem “two-level reading”[46] entsprechend, erschlossen. In der sokratischen Lesart bedeute der Passus, daß der Philosoph versucht, die Dinge so umfassend wie möglich in den Blick zu nehmen. In der platonischen Lesart sei die Ortsangabe »über dem Himmel« (οὐρανοῦ θ᾿ ὕπερ) als Hinweis auf die transzendente Ideenwelt zu sehen, was Sedley überzeugend mit einem Verweis auf den Seelenmythos im »Phaidros« (Phdr 247c) begründet, in dem die Seelen ebenfalls an den Rand des Himmels (τὰ ἔξω τοῦ οὐρανοῦ) gelangen, um die Ideen zu schauen (Sedley 2004, 69–72). Die zweifache Ortsbestimmung weise aber, in der platonischen Lesung, auf die beiden Haupthälften des Platonischen Systems hin, wie es im »Timaios« präsentiert ist (Tim 29b–c): auf die unveränderliche Ideenwelt, zu der die Astronomie den besten Zugang bietet (Tim 47a–b, 90a–d), und auf die instabile Sinneswelt (Sedley 2004, 72). Sedley zufolge stehen also die Tiefen der Erde für die sinnliche Welt, und die Welt oberhalb der Sterne für die Ideenwelt. Was die eine Hälfte angeht, die den Himmel betreffende, ist Sedleys Interpretation überzeugend. Wenn er aber die Tiefen der Erde mit der Sinneswelt identifiziert, scheint er die Pindar-Stelle mit einem zu stark vom Höhlengleichnis der »Politeia« vorgefaßtem Verständnis zu lesen. Zwar gibt es zwischen dem Höhlengleichnis und der Digression, wie noch mehrfach erinnert werden wird, einige Analogien, aber im Fall der zitierten Pindar-Passage scheint Sokrates auf etwas anderes hinauszuwollen. Die Tiefen der Erde aus der Digression mit denen der Höhle gleichzusetzen ist naheliegend, mißachtet aber, daß beide Metaphern ihre eigene Konstruktion besitzen und nicht – wie z.B. Linien- und Höhlengleichnis in der »Politeia« – aufeinander abgestimmt sind. Die Höhle in der »Politeia« entspricht nicht den Tiefen der Erde, sondern den naheliegenden Dingen, und die liegen in der Digression nicht unter der Erde, sondern darauf. Stünde das Unterirdische für die Sinneswelt, so müßte der Philosoph gerade nicht dort hinabsteigen, sondern von dort heraufsteigen. Er verachtet all das Treiben an der Tageswelt und richtet seinen Blick von dort weg nach unten oder nach oben. Beide Blicke haben gemein, daß sie von den naheliegenden Dingen wegführen, und genau diese Eigenschaft sollte es wohl sein, deretwegen Sokrates sie gerade dort zur Erwähnung bringt, wo es darum geht, daß die Beschäftigung des Philosophen von der sinnlichen, der Poliswelt sich entfernt. Für diese Lesart spricht im übrigen auch das Höhlengleichnis selbst, sofern man es nicht eins zu eins auf die Digression überträgt, sondern nach den übertragbaren Elementen schaut. Die Mathematik ist hier der Schatten der Philosophie: Wenn man das Höhlengleichnis mit dem Liniengleichnis in Verbindung bringt, was man, wie Sokrates empfiehlt (Pol 517af.), tun sollte, steht der Schatten in der Höhle für die bloße Wahrnehmung der sinnlichen Welt, während die Gegenstände in der Höhle für die gebildeten Meinungen über die sinnliche Welt stehen, und entsprechend gibt es auch am Tageslicht eine Ordnung: Es gibt Schatten (Mathematik, Astronomie etc.) und wahre Dinge (Ideen). Die Mathematik, Astronomie etc. stehen also für die Erfahrungen mit der Geisteswelt, die Ideen stehen für die Wahrheit der Geisteswelt. Die Ideen sind primär: voraussetzungslos und von allem der Anfang (Pol 511b). Der Mensch nähert sich den Ideen vermittels Mathematik (Pol 521cff.). Ontologie und Epistemologie sind also gegenläufig. Der Weg der Wahrheit verläuft vom Urbild zum Abbild; der Weg der Erkenntnis beginnt beim Abbild und kommt, sofern es sich um Erkenntnis handelt, zum Urbild. In diesem Sinne scheinen die Phrasen, die Sokrates dem Pindar-Passus hinzugefügt hat, sinnvoll, denn sowohl die Mathematik und Geometrie als auch die Astronomie sind Etappen auf dem Weg zu dem, was über dem Himmel ist.

Die von Sokrates unmittelbar mit der Pindar-Stelle verknüpfte Anekdote handelt von Thales, der, seinen Blick zum Himmel gerichtet, um Astronomie zu treiben, in einen Brunnen fällt und von einer thrakischen Magd verspottet wird (174af.). Es dürfte sinnvoll sein, diese Anekdote mit Rücksicht auf dieselbe Leitidee zu betrachten, die auch die Pindar-Stelle regiert und die von Sokrates selbst benannt wird: daß der Philosoph sich nämlich nicht mit den Dingen, die in der Nähe sind, einläßt (εἰς τῶν ἐγγὺς οὐδὲν αὑτὴν συγκαθιεῖσα, 174a1f.). Auffällig ist, daß die Thales-Anekdote dieselbe Raumstruktur besitzt wie die Pindar-Stelle: Hier wie dort gibt es einen Bereich des Naheliegenden, der von einem Darunter und einem Darüber abgegrenzt wird. Pindar-Stelle und Thales-Anekdote scheinen mit Bedacht ausgewählt und nebeneinander gestellt, so wie das Linien- und das Höhlengleichnis in der »Politeia«, mit dem Unterschied, daß Platon letztere beiden nicht erst in der Überlieferung suchen mußte, sondern ad hoc modellieren konnte. Auch Thales richtet seinen Blick nach oben, wenn auch nur auf die Sterne, nicht darüber. Auch er geht unter die Erde, wenngleich nicht ganz freiwillig. Die Magd spottet, als sie Thales in den Brunnen fallen sieht: Was am Himmel ist, strebe der Philosoph zu erfahren, was vor ihm liegt, bleibe ihm verborgen.[47] Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Interpretation der Anekdote durch Friedemann Buddensiek, der Wert darauf legt, daß die Geschichte mehr als den Thales die Magd charakterisiere. Zum Zwecke des besseren Verständnisses der Intention, die Platon bei der Gegenüberstellung beider Lebensweisen gehabt habe, schlägt er schließlich eine alternative Deutung der Anekdote vor. Er weist hierzu auf antike Praktiken der Astronomie hin, nach denen der Astronom in tiefe (nämlich dunkle) Orte, z.B. Brunnen, hinabzusteigen pflegte. Es wäre demnach denkbar, daß Thales zu einem solchen Zweck absichtlich in einen Brunnen gestiegen sei und die ungebildete Magd, als sie ihn im Brunnen sah, keine andere Erklärung erlangen konnte, als daß er eben aus Versehen dort hineingefallen sei (Buddensiek 2001, 15ff.). Es ließe sich darüber streiten, ob diese Deutung nicht vielleicht zu sophisticated ist, um sie als vom Autor intendiert zu akzeptieren. Die Rezeptionssituation sollte beachtet sein, was ja bei einem überwiegend kundigen Lesepublikum noch vorstellbar wäre, aber es fehlt im Text selbst der kleinste Hinweis dafür, daß die Anekdote derart hintergründig zu lesen sei. Ausdrücklich heißt es dort, Thales sei in den Brunnen gefallen (πεσόντα εἰς φρέαρ, 174a5). Buddensieks Pointe ist so gut, daß man sie ungern fahren lassen möchte. Dennoch leistet sie für die Deutung der Anekdote nicht mehr als die Anekdote bereits selbst. Der Spott der Magd gründet auf der Annahme, daß über das Große (die Sterne) nur urteilen könne, wer auch das Wissen vom Kleinen (der Erde mitsamt ihren Brunnen und sonstigen Stolperfallen) besitze. Schon hieran wird deutlich, daß die Geschichte mindestens ebenso sehr von der Magd handelt wie von Thales[48] und daß sich im Spott über die Ungeschicklichkeit des Philosophen die Begriffsstutzigkeit des Spottenden zu erkennen gibt. Natürlich steht die Kenntnis des Bodens, auf dem der Astronom wandelt, in keinem Zusammenhang mit seiner Sternenschau. Er sollte vielleicht nicht in Brunnen fallen, weil das beim Sternegucken hinderlich ist, aber stets auf den Boden zu achten hinderte den Astronom noch weit mehr und lenkte seine Aufmerksamkeit auf Gegenstände, die für ihn ganz unwichtig sind. Die Unkenntnis der kleinen Dinge ist demnach weniger Voraussetzung als vielmehr Folge der Beschäftigung mit den großen.[49]

Die Thales-Anekdote und die Pindar-Stelle vermitteln gemeinsam eine doppelte Einsicht: Wahre Erkenntnis hat nur, wer Abstand zu den einzelnen Dingen hält. Aber diesen Abstand besitzt man nicht, man muß ihn erlangen. Der Philosoph sucht die Entfernung, zunächst von den gesellschaftlichen Dingen und schließlich auch vom Studium der Natur, das nicht das eigentliche Ziel seiner Tätigkeit, sondern eine notwendig zu durchlaufende Phase vorstellt. Damit ist die Frage beantwortet, die am Anfang dieses Abschnitts gestellt wurde. Der Philosoph kann das Allgemeine kennen, ohne vom Besonderen Notiz nehmen zu müssen, weil er nicht so geboren wird, wie er schließlich ist. Auch er beginnt, biographisch gesehen, bei den naheliegenden Dingen. Der Abstand und die geistige Höhe sind erarbeitet. Man sollte dem Sokrates nicht so ganz auf seine bewußt im naiven Gestus vorgetragenen Reden über das Leben des Philosophen hereinfallen. Sie spiegeln zum einen, wie oben bereits erwähnt, die Aussagen über die Lebensweise der Rhetoren, und zum anderen bleibt Sokrates in der Digression nicht bei seiner anfänglichen Darstellung stehen. Ab 175bff. erfahren wir, daß hinter diesem Zustand durchaus ein Prozeß der Bildung steht, daß Gewöhnung und Arbeit nötig sind, um ihn zu erreichen. Die Digression beschreibt den Philosophen, wie er ist, und zwar im Platonischen Sinne des Seins: wie er also idealerweise und nach Vollzug seiner lebenslangen Entwicklung ist; der Philosoph der Digression ist ein Ideal. Jener Bildungsprozeß ist in den Werken Platons mehrfach und in unterschiedlicher Form beschrieben worden. In der Theorie der Anamnesis (Men 81aff. u.a.) ebenso wie im Höhlengleichnis. Hier wie dort ist das Ziel der Erkenntnis eine transzendente, von der Sinneswelt gelöste Wahrheit, die nur durch spekulatives Philosophieren erreicht werden kann. Hier wie dort ist aber der Ausgangspunkt der menschlichen Erkenntnis die Sinneswelt. Hier wie dort wird nichts anderes beschrieben als der Prozeß des Philosophen hin zu jenem Idealzustand, wie wir ihn in der Digression finden. Wenn die Digression den Philosophen zeigt, wie er ist, zeigen Anamnesis und Höhlengleichnis ihn, wie er wird.[50]

Dieses Werden wird in der Digression nicht anatomisch beschrieben, doch immerhin wird es behauptet. Die Andeutungen der Passage sind unverkennbar auf das Höhlengleichnis bezogen. Das Hinaufziehen (ἑλκύσῃ ἄνω, 175b8) der Menschen in die Höhe erinnert an den Gang aus der Höhle hinauf ans Tageslicht (Pol 515c–516e). Wie dort wird auch in der Digression dem Aufsteigenden schwindlig (εἰλιγγιῶν τε ἀπὸ ὑψηλοῦ κρεμασθεὶς, 175d2f.)[51], fordert der Aufenthalt in der Höhe Gewöhnung. Wie dort ist Erkenntnis ein aktiver Prozeß, den jeder Einzelne selbst vollziehen muß. Wird einer bloß in die Höhe genötigt (175b–d) – wie ein Gorgias oder Thrasymachos, wenn sie sich im philosophischen Gespräch rechtfertigen müssen –, wird er nichts verstehen und bleibt ihm nur die Wahl zwischen Lächerlichkeit und Flucht (176d–177b). Wie nämlich auch die Rückkehr in die Höhle erneut Gewöhnung erfordert, vertauschen sich die Rollen, wenn in der Digression einer der Irdischen in die Höhe gezogen wird (175b). Beide – Digression und Höhlengleichnis – behaupten, daß die Perspektiven der beiden Lebensweisen einander ausschließen. Wer das Nahe betrachtet, kann das Ganze nicht sehen, wer das Ganze sieht, muß für das Nahe blind sein.

Die Unterscheidung zwischen dem Wissen des Besonderen und dem Wissen des Ganzen taucht auch in einem anderen Werk Platons auf, interessanterweise wieder in Verbindung mit der Rhetorik und der Philosophie. Die Rede ist vom letzten Teil des »Phaidros«. Auch hier, wenngleich vorderhand der polemische Zusammenhang fehlt, ist es die philosophische Rede, die auf das Ganze gerichtet ist, und auch hier ist die rhetorische Rede mit den naheliegenden Dingen befaßt. Diese, haben wir gesehen, bewegt sich in der Sphäre der sinnlichen Wahrnehmung, gedanklich ohnehin, aber auch, was die Gründe betrifft, aus denen sie gehalten wird. Im »Phaidros« wird der Rhetorik als Methode ein gewisser Status eingeräumt: Synagoge nämlich, das Zusammenführen von Einzelheiten. Als Prinzip beschreibt sie den Vorgang vom Konkreten auf das Abstrakte, den man Induktion oder Empirik nennt. Für alle Vorgänge dieser Art ist die Rhetorik geeignet. Die Philosophie hingegen, die dialektisch arbeitet, hat als Verfahren das Prinzip der Dihairesis, des Unterteilens und Ausdifferenzierens einer Hauptidee in ihre Bestandteile, des Gelangens also vom Abstrakten zum Konkreten, welchem Ziel die Form des Dialogs entspricht.[52] Obgleich aber diese Integration der Rhetorik in den Prozeß der Seelenführung (ψυχαγογή, Phdr 217c) im Kontrast zum pejorativen Begriff der Rhetorik im »Gorgias« und der Digression steht[53], gibt es dennoch eine wesentliche Entsprechung: Der Vorgang der Synagoge ist an die Wahrnehmung gebunden. Es ist das Begreifen der naheliegenden, sinnlich erfaßbaren Dinge. Dieselbe Zuordnung nimmt, wie wir sahen, auch die Digression vor. Der Unterschied zum »Phaidros« ist der, daß in der Digression der Vorgang der Synagoge mit seinem Mißbrauch durch populistische Redner identifiziert wird. Er ist als solches schlecht. Im »Phaidros« ist er im günstigsten Fall minderwertig und erhält, wenn er mit Bedacht gebraucht wird, seine Berechtigung. Man kann aus diesem Verhältnis spekulativer und empirischer Bewegung des Denkens den Schluß ziehen, daß dadurch auch eine Rangordnung ausgedrückt ist. Das Recht, diesen Schluß zu ziehen, vergrößert sich noch, wenn man bedenkt, daß wir hier von der Philosophie Platons reden. Im Höhlengleichnis findet der Aufstieg über alle Wissensformen statt. Der Synagoge entspricht dort die Wendung von der Höhlenwand weg hin zum Feuer, das Erkennen der wahren Gegenstände innerhalb der Höhle. Die Synagoge, wenn sie richtig verwendet wird, ist ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur höchsten Erkenntnis, wie später die Mathematik oder Astronomie. Der Philosoph der Digression repräsentiert dann den Denker, der Synagoge ebenso wie Astronomie bereits hinter sich gelassen hat und auf der höchsten Ebene der Erkenntnis seine Tätigkeit vollzieht. Aber auch er ist noch nicht vollkommen, sondern in einer steten Bewegung hin zum Ideal, das in der Digression postuliert wird. Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn man sich das theologische Element der Digression vergegenwärtigt.

2.3 Metaphysik

Dieses Element tritt, obgleich es thematisch durchaus mit anderen Elementen der Digression (Gerechtigkeit, das Gute, Erkenntnis) verknüpft ist, in der Rede unvermittelt auf, und es entsteht zunächst der Eindruck eines gedanklichen Bruchs. Erst im weiteren Verlauf des Arguments werden die herumliegenden Fäden aufgenommen und verknüpft, so daß der Zusammenhang der theologischen Überlegungen mit den vorausgegangenen Darlegungen offenbar wird. Nachdem Sokrates über die Erkenntniswege und anschließend noch einmal über das Gegeneinander beider Lebensweisen geredet hat (175c–176a), gibt Theodoros der Hoffnung Ausdruck, daß solche Überlegungen auch alle anderen Menschen überzeugen, damit das Schlechte (τὰ κακά, 176a5) aus der Welt verschwinde. Doch Sokrates wendet daraufhin ein, das Schlechte werde es bei den Menschen immer geben. Damit eröffnet er jene Passage (176a–177a), die sich mit dem Verhältnis des Guten und Schlechten beschäftigt und die unter dem Kennwort ihrer zentralen Stelle bekannt geworden ist: der Homoiosis theo (ὁμοίωσις θεῷ, 176b1)[54], der Verähnlichung mit Gott also. Sokrates vollzieht das Argument, das zur Homoiosis theo führt (176a5–176c1), in vier gedanklichen Schritten: (1) Es muß immer etwas geben, das dem Guten entgegengesetzt ist, weswegen das Schlechte nie beseitigt werden kann. (2) Die Existenz des Schlechten ist aber durch das Menschliche gegeben, während bei den Göttern ausschließlich das Gute wohnt. (3) Der Weg der Vervollkommnung des Menschen ist die Verähnlichung mit Gott, soweit dem Menschen möglich. (4) Da Gott niemals ungerecht, sondern vollkommen gerecht ist, kann die Verähnlichung mit Gott für den Menschen dadurch erreicht werden, daß er gerecht zu sein anstrebt. Gerecht wird der Mensch aber durch Einsicht.

Erst der vierte gedankliche Schritt läßt den Zusammenhang erkennen, in dem die Homoiosis-theo-Passage mit dem ihr vorausgegangenen Teil der Digression steht. Mit ihm werden besagte Fäden zusammengeführt, wird beleuchtet, was Göttlichkeit mit Gerechtigkeit und Gerechtigkeit mit Erkenntnis zu tun hat. Es erhellt der Zusammenhang zwischen Ethik, Erkenntnistheorie und Metaphysik bei Platon. Doch das Postulat der Homoiosis theo ist schon für sich interessant. Durch sie wird die Digression unversehens mit Platonismus aufgeladen, dessen vordergründiges Fehlen das Merkmal des »Theaitet« ist.[55] Ihr Erscheinen muß dem mit Platon vertrauten Leser vorkommen, als wäre ihm die Seiten zuvor ein Maskenspiel aufgeführt worden, dessen Personage sich erst jetzt zu erkennen gibt. Die Passage zwischen 176a und 177a widerspiegelt den Gegensatz der praktischen und theoretischen Lebensweise, den Sokrates im ersten Teil der Digression konkret-gesellschaftlich veranschaulicht hatte, auf der metaphysisch-theologischen Ebene. Wir begegnen demselben Verhältnis, nur daß es sich jetzt, da es die engen Grenzen der Polis hinter sich gelassen hat und, in seiner Idealität erfaßt, ganz bei sich ist, in einem Bereich bewegt, der nicht mehr der natürliche Raum der praktischen Lebensweise ist, sondern der theoretischen ganz angemessen.

Es lohnt, die vier Schritte in der Reihenfolge ihres Auftretens zu betrachten. Der erste Schritt scheint ein logisches Argument anzudeuten. Das Gute als Bestimmung setzt das Schlechte als Bestimmung voraus.[56] Dieses Argument stimmt bereits, wenn man allgemein die Kategorie der Relation als zugrundeliegend annimmt. Es ist nicht möglich, Eines zu bestimmen, ohne Anderes von ihm zu unterscheiden. Gäbe es kein Nicht-Gutes, ließe sich das Gute als Gutes nicht erkennen. Durch die Relation ist die Negation bereits gesetzt, aber es fragt sich, welche Art von Negation zwischen dem Guten und dem Schlechten besteht. Geht man über die bloße Kontradiktion hinaus, die das Entgegengesetzte stets unbestimmt läßt, und bestimmt den Widerspruch als konträren, indem man etwa dem Guten das Böse entgegensetzt, wäre das nur möglich, wenn auch ein Drittes gegeben ist. Der weitere Verlauf der Rede zeigt jedoch, daß Sokrates sich kein Drittes als gegeben vorstellt. Das schließt sich durch seine Wahl der Begriffe aus. Er gebraucht den Ausdruck τὰ κακά, der von einigen Übersetzern mit »das Böse« übertragen wird[57], besser aber mit »das Schlechte« wiederzugeben ist. Im Deutschen trägt der Begriff des Bösen die Bedeutung eines zumindest intrinsisch, oft auch willentlich verderblichen Prinzips. Damit wäre ein Drittes bestimmbar als Mitte zwischen Gut und Böse: das Indifferente, Neutrale oder wie man es sonst nennen will. Das griechische κακόν ist aber zunächst in Relation zum ἀγαθόν zu denken, und damit wird deutlich, daß der Widerspruch, den Sokrates skizziert, der zwischen Gut und Schlecht, weder kontradiktorisch noch konträr zu denken ist, sondern als Privationsverhältnis. Das κακόν ist, aristotelisch gesprochen, die στέρησις des ἀγαθόν, die Abwesenheit von Vortrefflichkeit also. Schlecht wird genannt, was mangelhaft ist, und zwar in Bezug auf den Zweck, den es eigentlich zu erfüllen hat.[58]

Der zweite Schritt besteht in der Verbindung eines tautologischen mit einem evidenten Argument: Das Göttliche ist vollkommen, das Menschliche unvollkommen.[59] Sokrates führt für diese Behauptungen keine Beweise an; der Leser muß gewillt sein, ihm zuzustimmen. Es ist allerdings nicht schwer, Begründungen zu finden. Eine Tautologie hat ja, auch wenn sie als hinzugezogene Begründung nichts taugt, einen positiven Wahrheitswert. Die Aussage, daß Gott göttlich sei, ist unter allen Umständen wahr. Die Vollkommenheit liegt im Begriff des Göttlichen selbst[60], denn es wäre ganz sinnlos, einen Begriff zu prägen, der nicht aus der unmittelbaren Wahrnehmung entspringt, sondern vielmehr das Bedürfnis des spekulativen Denkens nach einer höheren Einheit der seienden Dinge befriedigen soll, wenn dieser Begriff dann nicht Idealität besäße. Ebenso sinnlos wie die Bildung von Universalien, wenn diese das, was sie zu bedeuten haben, nicht in reiner Weise bedeuten. Vollkommenheit schließt Schlechtes per definitionem aus, und es wäre aber – wie im vorigen Absatz dargelegt – unmöglich, Vollkommenheit als Begriff zu prägen, gäbe es kein Unvollkommenes. So notwendig also die Vollkommenheit für den Gottesbegriff ist, so zwingend hat dieser Begriff die Unvollkommenheit der irdischen Welt zur Voraussetzung, was auch dann gilt, wenn man ihn nicht allein als Ausdruck eines philosophischen Bedürfnisses und somit als ein notwendiges, aber rein gedankliches Wesen betrachtet, sondern die tatsächliche Existenz eines Göttlichen annimmt. Das andere Argument betrifft die Menschen. Das Menschliche ist beides: gut und schlecht; es ist träge von Natur, doch kraft seines Geistes ermöglichen sich Ziele, durch deren Verfolgung es besser werden kann. Auch dieses Argument läßt sich nicht aus einer feststehenden Prämisse ableiten; seine Beweiskraft liegt in seiner Evidenz. Daß Unvollkommenheit zu den genuinen Eigenschaften der Menschheit gehört und daß die menschliche Bewegung zum Besseren in der Annäherung an die Ideale (Weisheit, Gerechtigkeit, Mut, Besonnenheit etc.) besteht, die aber nur in den äußersten Fällen – und auch dann wohl nie ganz – erreichbar sind, läßt sich nur leugnen, wenn man von der Menschheit absieht. Das Potential der Menschheit ist ebenso evident wie der Umstand, daß es nicht immer und selten voll ausgeschöpft wird. Die Übersetzung dieses Sachverhalts ins Platonische lautet: Die Unvollkommenheit kann in der sinnlichen Welt nie ganz ausgeschlossen werden, doch aus der Welt der Ideen und Formen ist sie ausgeschlossen.

Der dritte Schritt behauptet, daß es innerhalb der sinnlichen Welt Möglichkeiten gibt, dem Ideal nahezukommen, wobei noch unklar bleibt, wie dieser Weg konkret aussieht. Sokrates gibt an, daß der Mensch die irdischen Dinge meiden müsse und daß darin eine Verähnlichung mit Gott liegt, soweit es möglich ist.[61] Der Zusatz »soweit es möglich ist« (κατὰ τὸ δυνατόν, 176b1) ist hier beinahe noch wichtiger als die Homoiosis selbst. Er faßt die Göttlichkeit auf Erden als eine Bewegung hin zu dieser Göttlichkeit. Die irdische Göttlichkeit hat ihren Zweck außer sich und trägt ihre Vollendung in sich, indem sie dem (nie ganz erreichbaren) Paradeigma des Göttlichen gerecht zu werden strebt. Der kontinuierliche Vollzug dieser Bewegung ist die Wirklichkeit, das Göttliche selbst die Möglichkeit der Homoiosis theo. Es mag verblüffen, aber es ist nicht zu leugnen, daß Platon mit diesem Gedanken so etwas wie einen realistischen Utopiebegriff besitzt. Im κατὰ τὸ δυνατόν liegt demnach einer der raren positiven Bezüge Platons zum Begriff des Werdens, der ja für diesen Philosophen dezidiert der Sphäre der sinnlichen Welt angehört und folglich als minderwertig gedacht ist. Das Werdende ist Trug, und wahre Erkenntnis kann sich folglich nur auf wahrhaft seiende, unveränderliche Gegenstände beziehen.[62] Deshalb schickt Sokrates der Homoiosis theo unmittelbar den Gedanken voraus, der Weg zur Vollkommenheit bestehe darin, die irdischen Dinge zu fliehen.[63] Man kann, wenn man will, diese Flucht aus dem Leben als einen Bezug zum Jenseits verstehen, und in der Tat enthält auch der »Theaitet« einen indirekten Verweis auf den Tod des Sokrates, der nämlich den Dialog mit den Worten beschließt, er müsse nun zur Königshalle wegen des Prozesses, den Meletos gegen ihn anstrenge (210d). Dennoch sollte man wohl diese biographische Note nicht als Angelpunkt der Digression verstehen. Es ist das κατὰ τὸ δυνατόν, das deutlich macht, daß der Autor die Flucht aus der irdischen Sphäre nicht als Tod verstanden wissen will. Sie drückt nichts anderes aus als das Prinzip Abstand, das im Abschnitt 2.2 als notwendige Bedingung der wahren Erkenntnis behandelt wurde. Der Philosoph muß auf den Tod nicht warten, er kann im Leben schon sich Gott verähnlichen. Diesem bereits auf Erden verwirklichten Elysion entspricht auch – sauber gespiegelt – der auf Erden bereits verwirklichte Tartaros, den die Rhetoren ihr Leben nennen. Diese werden, sagt Sokrates, ungerade und kleinlich in der Seele (173a) und sind schon durch das Leben, das sie derart führen müssen, gestraft (177a). Die Frage, was nach dem Tod passiert, wird angesichts dieser prononcierten Urteile über die beiden Lebensweisen beinahe unwichtig, und es ist natürlich nicht verwunderlich, daß es die Philosophen sind, die hinsichtlich dieser Verhältnisse Bewußtheit besitzen, während die Rhetoren ihrem Treiben im Unbewußten nachgehen. Sie fürchten Schläge und den Tod (πληγαί τε καὶ θάνατοι, 176d8) und wissen aber nicht, daß ihr Leben selbst schon die Strafe ist, da ihre Seelen dabei Schaden nehmen. Der Philosoph hingegen schützt seine Seele, auch wenn sein Leben – und hier erhält der Bezug auf den Prozeß des Sokrates seinen eigentlichen Sinn – dabei Schaden nimmt.[64]

Der vierte Schritt besteht in der begrifflichen Verknüpfung der Eigenschaften göttlich, gerecht und weise: Weil Gott stets gerecht ist, ist die Erlangung von Gerechtigkeit eine Verähnlichung mit Gott. Gerecht aber ist, wer weise ist. Der erste Teil der Digression hat die Bedingungen beschrieben, unter denen ein Mensch Erkenntnis gewinnen kann, und zum Abschluß (175c) mitgeteilt, daß dieser Weg der Erkenntnis wahre Gerechtigkeit hervorbringt. Nun erfährt man, daß Gerechtigkeit die Eigenschaft des Gottes ist. Die Schlußfolgerung ist zwingend die, daß der Philosoph, wie er in der Digression beschrieben ist, eine Verähnlichung mit dem Göttlichen erfährt.[65] Vollendet wird der Gedanke eine Stephanusseite später, indem Sokrates davon spricht, daß in der Welt zwei Paradeigmata aufgestellt seien: das Göttliche, das das größte Glück (εὐδαιμονεστάτου) ist, und das Ungöttliche, das das größte Unglück (ἀθλιωτάτου) bedeutet.[66] Damit erhält die Folgebeziehung aus Erkenntnis, Gerechtigkeit und Göttlichkeit ihr viertes und abschließendes Glied: das Glück bzw. das gute Leben.

Soweit in der Verflechtung der Platonischen Elemente fortgeschritten, drängt sich die Frage auf, wie sich die in der Digression angedeutete, theologisch ausgedrückte Metaphysik zu demjenigen Teil des Platonismus verhält, das nicht nur Element, sondern durchaus Inbegriff desselben ist: der Ideenlehre. Es wurde gezeigt, daß die Digression in betreff der Politik und Rhetorik viele Ähnlichkeiten mit dem »Gorgias« aufweist und daß sich bezüglich der Erkenntnis viele Parallelen zum Höhlen- und Liniengleichnis der »Politeia« finden lassen. Was die Metaphysik betrifft, so ist eine engere Verbindung zum Seelenmythos des »Phaidros« (Phdr 245c–249d) feststellbar, die sich aus den eben herausgearbeiteten Argumenten ergibt. Diese Verbindung erhellt zugleich auch die Frage nach den Ideen im »Theaitet«. Das Göttliche, haben wir gesehen, ist vollkommen, glücklich, weise und gerecht. Das Ungöttliche jeweils das Gegenteil. Das Göttliche, wie ebenfalls gezeigt wurde, ist dem Körperlichen (Sinnlichen) entgegengesetzt. Die zwei Paradeigmata, die, auf die Formel gebracht, jene metaphysische Widerspiegelung der beiden Lebensweisen ausdrücken, von der eingangs dieses Abschnitts gesprochen wurde, vertreten, da sie als göttlich und nichtgöttlich bestimmt sind, auch das Gegeneinander all jener mit dem Göttlichen bzw. Nichtgöttlichen in Verbindung gebrachten Eigenschaften. Da sie Paradeigmata des guten oder schlechten Lebens sind, besitzen sie, obgleich selbst Begriffe metaphysischer Natur, eine anthropologische Ausrichtung. Der Seelenmythos des »Phaidros« weist eine ganz ähnliche Struktur auf. Bereits im einleitenden Gespräch äußert Sokrates einen Gedanken von auffallender Parallelität zur hier behandelten Theologie: Eros sei ein Gott, und ein Gott könne nichts Schlechtes an sich haben (Phdr 242e). Von besonderer Bedeutung sowohl für den Seelenmythos selbst als auch für die Verbindung zur Theologie der Digression ist das Verhältnis von Körper und Seele. Das Körperliche spielt in der Digression auch jenseits der metaphysischen Passage eine wichtige Rolle, etwa im Fall der Pindar-Stelle, zu deren Erklärung oben der Seelenmythos des »Phaidros« bereits herangezogen wurde, und jenem Diktum, demzufolge der Philosoph nur körperlich im Staat wohne (173e). Die Philosophie ist dem Leiblichen/Stofflichen entrückt, was nicht nur Sokrates’ Souveränität anzeigt, am Vorabend des Prozesses gegen ihn die Frage der menschlichen Erkenntnis zu erörtern, sondern auch die Thales-Anekdote, in der der Sternengucker körperlichen Schaden nimmt, weil er auf die irdischen Dinge nicht achtet. Die Rhetorik ist dagegen dem körperlichen Wohl zuträglich – so zuträglich es eben ist, sich vor Gericht und in den Dingen des Alltags mittels geschickter Redeführung seinen Vorteil zu sichern bzw. persönlichen Nachteil abzuwehren. Was durch die Rhetorik Schaden nimmt, ist nicht der Körper, sondern die Seele. Und die Seele, weiß der Platoniker ebenso wie der Sokratiker, ist das Eigentliche und das eigentlich Wertvolle am Menschen.[67]

Der Seelenmythos des »Phaidros« beschreibt, wie die menschlichen Seelen, deren eigentlicher und reiner Zustand der körperlose ist, in elf Scharen, die den olympischen Göttern folgen[68], am Himmel fahren, jeweils mit einem Wagen, der von zwei Rossen gezogen wird. Die Götter führen ein Gespann mit zwei guten Rossen (Phdr 246af.), und sie fliegen daher hoch oben und schauen, was jenseits des Himmels ist (Phdr 247bf.). Die menschlichen Seelen, die ihnen folgen, halten Gespanne mit einem guten und einem schlechten Roß. Man erkennt hier das Muster aus der Digression wieder: Das Göttliche ist durchweg gut, das Menschliche gut und schlecht. Die beiden Rosse sind nichts anderes als die zwei Paradeigmata, nur eben in die Struktur der eschatologischen Metapher übertragen.[69] Und ebenso wie das κατὰ τὸ δυνατόν ist der Seelenmythos im »Phaidros« das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit auszudrücken fähig. Das Bild von den zwei Rossen, dem schlechten und dem guten, vermittelt, was die menschliche Natur ist: zugleich träge und anspruchsvoll. Die Trägheit ist durch den Stoff (causa materialis) gegeben, und die Aktivität durch den Geist (causa formalis). Der Mensch ist immer beides: gut und schlecht, anspruchsvoll und unvollkommen, aktiv und träge. Vom bloß Materiellen – Gesteinen etwa oder Fußbällen – unterscheidet ihn, daß er ein Streben hat, wobei er das eine Lebewesen ist, das dieses Streben nicht nur als natürlichen Trieb, sondern auch als Geist besitzt. Der Mensch kann etwas, das kein anderes Lebewesen vermag: die Welt nicht nur sehen, wie sie ist (oder besser: ihm erscheint), sondern so, wie sie sein soll. Aber er besitzt einen Körper, der ihn hindert bzw. es ihm schwermacht, sein Streben umzusetzen. Ein Körper kann erschöpfen, ist sterblich, hat Bedürfnisse, die nicht dem Geist entspringen usf. Das größte Hindernis bei der Bewegung ist der Körper.[70] Das schlechte Roß, heißt es im »Phaidros«, hindert den Wagen – auch das ein narratives Element, das aus der Digression bekannt ist (173e, 175bf.) – am Flug nach oben, wenn es nicht gut erzogen ist (Phdr 247b). Diese Erziehung besteht darin, dem Ideal gerecht zu werden und die Trägheit des Körperlichen zu überwinden. Wenn nun dergestalt eine Seele in der Schar eines Gottes diesem Gott folgt, was sonst wäre das, wenn nicht eine Verähnlichung mit Gott, soweit ihr möglich?

Die im Abgleich mit dem Seelenmythos des »Phaidros« noch stärker hervortretende dualistische Struktur der Digression ermöglicht nun auch die Überlegung, wieweit die Ideentheorie Platons im »Theaitet« als Hintergrund gedacht werden kann. Der Umstand, daß der »Theaitet« zu den Dialogen der mittleren Periode gezählt wird, als deren allgemeines Kennzeichen das deutliche Herausstellen dessen gilt, was man die Platonische Ideenlehre nennt, ist insofern zum Problem der Forschung geworden[71], als die Ideen im »Theaitet« weder expressis verbis noch irgendwie strukturell auftauchen. Es gibt vorderhand keine Erklärung, warum Platon ausgerechnet bei der wesentlichen Frage, was Erkenntnis sei, auf den Einsatz seines zentralen Theorems verzichtet hat, das gerade auch zur Lösung erkenntnistheoretischer Fragen einsetzbar ist. Dieser Umstand kann, wir hatten das, verschieden gedeutet werden. Der »Theaitet« könnte als Ausdruck eines Zweifels an der Ideenlehre verstanden werden, wofür – wenn man chronologische Bestimmungen als Forschungsgrundlage akzeptiert – die Entschärfung der Ideenlehre im Spätwerk und die frühere Datierung des ideenkritischen »Parmenides« spricht, oder als eine Art Propädeutikum, dessen Pointe gerade darin bestünde, daß man ohne das geeignete philosophische Modell – die Ideenlehre nämlich – die Frage nach der menschlichen Erkenntnis nicht lösen kann. Für letztere Lesart spricht der aporetische Ausgang des »Theaitet«, seine dramatische Verknüpfung mit dem »Sophistes« und der Umstand, daß die Ideen in ihm nicht angezweifelt, sondern überhaupt nicht erwähnt werden, was, wenn der »Theaitet« die Einleitung einer ideenkritischen Phase wäre, wohl hätte geschehen müssen. Die Streitfrage um die Ideen und den »Theaitet« kann hier nicht entschieden werden; gleichwohl läßt sich eine Entscheidung für eine Lesart treffen. Nicht auf die Worte muß geachtet werden[72], sondern auf die gedankliche Struktur, und wenn die Ideen zwar auch in der Digression nicht namentlich erwähnt werden, so ist diese (zentral placierte) Passage doch derjenige Teil des »Theaitet«, der unmißverständlich an die Ideenlehre erinnert.

Platon vermittelt nicht. Weder den Gegensatz zwischen Stoff und Form noch den zwischen Körper und Seele noch den zwischen der praktischen und theoretischen Lebensweise. Die Digression erinnert deswegen so sehr viel mehr an den Platonismus als der Rest des »Theaitet«, weil ihre ideelle Struktur dualistisch ist. Es ist eine Eigenheit der Platonischen Philosophie, Wesen und Erscheinung voneinander zu trennen, indem das Allgemeine in ein selbständiges Einzelwesen verwandelt und so der Erscheinung entgegengesetzt wird. Das Bild der zwei Rosse, deren eines immer am Stoff klebt und die Seele nach unten zieht, während das andere, ideale, nach oben strebt, könnte gut auch für die Platonische Philosophie insgesamt stehen.[73] Wenn in der Digression wiederum behauptet wird, daß die Wahrheit der Dinge durch die Entfernung von ihnen erkannt wird, liegt dasselbe Prinzip zugrunde. Die einzige Art der Vermittlung, die Platon zwischen dem Stoff und der Idee überhaupt zuläßt, liegt in der Annährung an das Ideal, dem Gang in die Höhe, der im Seelenmythos des »Phaidros«, dem Höhlengleichnis der »Politeia« und der Digression des »Theaitet« gleichermaßen zu finden ist. So ist zum einen, ontologisch, der transzendente Raum der Ideen gesetzt, zum anderen aber, epistemologisch, der Übergang in diesen Raum vermittelbar. Es ist ganz offenkundig der Begriff des Göttlichen, der in der Digression für die Idee steht, denn nicht nur der Weg der Verähnlichung mit Gott erinnert an den Aufstieg ins Reich der Ideen, sondern auch das Göttliche selbst besitzt alle Eigenschaften, die die Idee hat: Absolutheit, Unveränderlichkeit, Ewigkeit, Transzendenz, Stofflosigkeit.[74]

2.4 Ethik

Um von der philosophischen Lebensweise auf das Göttliche zu kommen, hätte Platon keines weiteren Begriffs bedurft, denn Weisheit ist eine Eigenschaft des Göttlichen. Wer auf Erden weiser wird, verähnlicht sich Gott. Platon aber schaltet zwischen die Erkenntnis und das Göttliche den Begriff der Gerechtigkeit und macht an diesem Begriff die Verähnlichung explizit.[75] Schon früh in der Digression werden das Wahre und die Gerechtigkeit miteinander verknüpft, denn die Abirrung der Gerichtsredner, sagt Sokrates, habe zugleich einen Verlust von Wahrheit und Gerechtigkeit zur Folge (173a). Die Digression teilt mit, daß der philosophische Weg nicht nur in theoretischer Hinsicht der bessere sei, sondern auch in praktischer, daß er nicht nur weiser mache, sondern auch gerechter. Dieses Postulat deckt sich mit dem Zusammenhang von Erkenntnis und Gerechtigkeit im Platonischen Denken insgesamt. Das im Schein verhaftete Leben der uneinsichtigen Polismenschen, das im Paradeigma des Ungöttlichen gefaßt wird, ist auch deswegen das schlechteste (ἀθλιωτάτον), weil sich bei Platon das ethisch Richtige aus dem theoretisch Richtigen ergibt. Wissen ist dort die Grundlage für die Tugend und das gute Leben. Man spricht daher von einem ethischen Intellektualismus und bezieht sich auf eine Vielzahl von Stellen im Werk, die alle mehr oder weniger auf einen gemeinsamen theoretischen Hintergrund zu verweisen scheinen. Man erfährt, daß Tugend erlernbar (Men 87bf.) und daß praktische Erkenntnis die unabdingbare Voraussetzung für gutes Handeln (Charm 174b–d) sei, daß niemand aus freien Stücken Schlechtes wolle, das Schlechte also allein durch Unwissen zustande komme (Men 78af., Phil 48c) und daß Unwissen überhaupt das einzige sei, das als solches schlecht ist, während Reichtum, Macht, Mut usf. ihrer Natur nach neutral sind und erst dadurch, daß man sie mit Weisheit gebraucht, gut werden (Euth 281b–e; Men 87e–88e). Die Art, wie Tugend erlangt wird, ist in der Platonischen Vorstellung keine Nebensache. Während Aristoteles später zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden unterscheiden und die Bildung der ethischen Tugenden wesentlich durch Gewöhnung erklären wird[76], sind für Platon auch im ethischen Bereich ausgebildete Tugenden nur dann im vollen Sinne Tugenden, wenn sie auf Einsicht und Wissen beruhen. Durch Gewohnheit oder Übung gebildete Tugenden nennt er politische Tugenden (πολιτικαὶ ἀρεταί)[77], die er von menschlichen Tugenden unterscheidet (Apol 20b) und die, ganz ähnlich wie die Schatten in der Höhle oder die Abbilder im »Timaios«, dem wirklichen Gegenstand ähneln, aber von minderem Wert sind. So gibt es ebenso wie die wahre Besonnenheit und die wahre Gerechtigkeit politische Tugenden, die Besonnenheit und Gerechtigkeit genannt werden (Phd 82af.), es aber im vollen Sinne nicht sind, und das Ziel des menschlichen Strebens sollte sein, von der bloßen Gewohnheit eines vermeintlich richtigen Handelns zum Verständnis desselben und damit zum wahrhaft richtigen Handeln überzugehen (Pol 500d, Nom 968a).

In diesem Verhältnis liegt der Schlüssel zum Verständnis jener Entgegensetzung von Gerechtigkeit und Rechtspraxis, die in der Digression so unversöhnlich ausgeführt ist. Die Gerechtigkeit selbst ist unvereinbar mit dem Ob ich dir Unrecht tue oder du mir (τί ἐγὼ σὲ ἀδικῶ ἢ σὺ ἐμέ, 175c1f.) des praktizierten Rechts, das im wiederholten gegenseitigen Unrechttun (τὸ ἀλλήλους ἀνταδικεῖν, 173a8f.) besteht. Platon unterscheidet nicht zwischen guter und schlechter Rechtspraxis, sondern praktiziertes Recht ist bei ihm stets die Verkörperung der Ungerechtigkeit. Die Rechtspraxis scheint in diesem Verständnis nichts anderes zu sein als die politische Tugend, die man Gerechtigkeit nennt, die aber bestenfalls ein Abbild der wahren Tugend Gerechtigkeit ist. Sie beruht nicht auf Einsicht, ist von partikularer Natur, ein Schatten folglich der Gerechtigkeit.[78] Dadurch, daß die Rechtspraxis immer im Interesse eines Einzelnen gegen das Interesse eines anderen ausgeübt wird, ist sie nicht nur (siehe Abschnitt 2.1) stets unfrei und (siehe Abschnitt 2.2) am Erkennen der Wahrheit gehindert, sondern auch von praktischer Minderwertigkeit. Es ist ein großer Unterschied, ob einer an die Gerechtigkeit glaubt oder an seine Rechte. Gerechtigkeit ist ein maßvolles Gesamtverhältnis. Was insgesamt das Maß sein soll, kann nur begreifen, wer das Ganze zu sehen gewohnt ist, und nicht kann es begreifen, wer den Abstand zur Sache nicht hat. Nur wer die Freiheit hat, nicht parteilich sein zu müssen, besitzt die Möglichkeit zur Gerechtigkeit. Dasselbe gilt, wie der Fortgang der Digression zeigt, auch von der Staatspolitik, bezüglich der Sokrates zwischen Begriff und Praxis in gleicher Weise unterscheidet. In Analogie zum Verhältnis von Gerechtigkeit und Rechtspraxis wird der Frage nach dem Geschick des einzelnen Königs (βασιλεύς) die Frage nach dem Königtum (βασιλεία) gegenübergestellt (175c). Wieviel Gold ein König besitze, sei ganz unerheblich, wodurch nicht nur das Hirtenbeispiel erinnert wird, demzufolge dem Philosophen die Lobpreisung eines Königs vorkomme, als lobe man einen Kuhhirten für seine Herde und den Ertrag beim Melken (174df.), sondern auch jenes oben erwähnte Element der Platonischen Ethik anklingt, daß Reichtum selbst noch kein Gut sei, sondern, um es zu werden, eines weisen Gebrauchs bedürfe. Ebenso wie in der Politik und in der Frage des Rechts zeigt sich das nämliche Verhältnis schließlich noch im Glauben. Das Gerechte (δίκαια) und das Gottesfürchtige (ὅσια) werden bereits zu Beginn der Digression nebeneinander gestellt (172a2; 172b3), doch während die Gerechtigkeit auch in der Digression fast durchweg präsent ist, taucht die Erfurcht, und erneut in Verbindung mit der Gerechtigkeit, erst gegen Ende wieder auf (176b1f.). David Sedley vermutet, daß der engere Zusammenhang, in dem Ehrfurcht und Gerechtigkeit in den Werken Platons stehen, der Grund für diese Verbindung beider Begriffe in der Digression ist.[79] Tatsächlich sind sich Ehrfurcht und Gerechtigkeit ähnlich. Gerechtigkeit, kann man sagen, ist der angemessene Umgang mit Menschen, Ehrfurcht der angemessene Umgang mit Göttern. Sedley argumentiert daher überzeugend, daß Sokrates’ Art des praktizierten Glaubens vielmehr darin bestehe, die institutionalisierte Ausübung der Religion meidend, ein gutes – also gerechtes und ehrfürchtiges – Lebens zu führen.[80] In allen drei Bereichen – Recht, Politik und Religion – besteht demnach die wahrhaft gute Tätigkeit darin, sich dem gesellschaftlichen Prozeß und seinen Institionen zu entziehen.

Alle drei Bereiche scheinen im konkreten zu vollziehen, was allgemein auf der philosophischen Ebene durchgespielt wurde. In der ersten Wissensdefinition des »Theaitet« kollidieren ein Protagoreischer Relativismus und ein Platonischer Objektivismus; das Ding für ein anderes ficht mit dem Ding an sich. Der Objektivismus scheint dem philosophischen Verfahren angemessen, der Relativismus wird auf theoretische Art widerlegt. Die Digression behandelt die praktische Form dieses Relativismus, und es ist offenbar ihr Geschäft, diese Form – die praktische Lebensweise der Rhetoren, Politiker und witzigen Mägde – zu widerlegen. Unmittelbar vor Einsetzen der Passage äußert Sokrates, daß so viele Menschen den Satz des Protagoras zwar in der Theorie für falsch halten, sich in praktischen Fragen jedoch ihm gemäß benehmen (172b). Auf die Art wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen Theorie und Praxis, denn Protagoras erscheint darin als der Rhetor, der die Unart seiner Disziplin wie eine Krankheit in die Philosophie eingeschleppt hat. Von der anderen Seite her stellt Protagoras mit seinem Theorem für die »relativistische Justizpraxis der athenischen Demokratie die geistigen Grundlagen« (Szlezák 2004, 122) bereit. Doch gerade die einleitenden Worte des Sokrates weisen darauf hin, daß es Platon eher um die erste Wirkung – die der Rhetorik auf die Philosophie – zu gehen scheint. Der praktische Relativismus hängt nicht so sehr vom theoretischen ab wie der theoretische vom praktischen. Myles Burnyeat bringt diesen Gedanken auf den Punkt: “Relativism about values is independently tempting; it need not be reached by way of a relativist epistemology” (Burnyeat 1990, 33). Politische Korrumpierbarkeit, doppelte moralische Standards, Egoismus und Opportunismus sind als solches verlockend und viel zu konvenient, als dass sie erst einer philosophischen Grundlegung bedürften. Diese Art Verwicklungen in das praktische Leben jedenfalls, die Korruption durch die eigenen Absichten, führt zu der verbreiteten und von Platon bekämpften Meinung, daß das, was Recht oder Unrecht und ehrfürchtig oder gottlos ist, Resultat von Konventionen sei und daß Gesetze und Religion folglich keine von Natur gegebene Bestimmtheit besitzen (172af.). Es ist also bloß positives Recht, das Sokrates zu Beginn der Digression beschreibt, und es überrascht nicht, daß Platon seinen Sprecher im folgenden einige Anstrengungen unternehmen läßt, dieser Auffassung entgegenzuwirken. Der ethische Relativismus der Sophisten steht dem Platonischen Verständnis einer absolut (göttlich) fundierten Gerechtigkeit entgegen, und wenn Platon in der Digression die Gerechtigkeit die Folge der höchsten intellektuellen Einsicht sein läßt, so ist das bereits in nuce eine Gegenthese zum ethischen Relativismus. Wenn die Schau des Absoluten, das Erkennen der Welt in ihrer Totalität, die wahre Gerechtigkeit hervorbringt, dann muß die Gerechtigkeit mehr sein als bloß gesellschaftliche Konvention, dann muß sie naturell fundiert, wenn nicht gar selbst absolut sein. Desgleichen: Wenn Gerechtigkeit eine Eigenschaft Gottes ist, schließt sich der Gedanke aus, Gerechtigkeit könne schlicht eine menschliche Setzung sein. Und die Frage nach dem Königtum selbst (175c) schließlich läßt sich ebenfalls nur dort stellen, wo eine universelle Gesetzmäßigkeit angenommen wird.

Es wird deutlich, daß ein solcher Begriff der Gerechtigkeit die Möglichkeiten eines guten Handelns bereits kategorisch so weit einschränkt, daß nur das Theoretisieren noch als dem wahren Begriff der Gerechtigkeit angemessene Praxis statthaft ist. Gerecht ist, wer erkannt hat, und die Erkenntnis der Gerechtigkeit steigt in dem Maße, in dem sich der Mensch von der Rechtspraxis entfernt. Diese ist dadurch korrumpiert, daß alle Beteiligten in ihre Belange verwickelt sind und Sonderinteressen verschiedener gesellschaftlicher Parteiungen vertreten. Sie ist auch dann korrumpiert, wenn alle Beteiligten das Beste wollen. Der Partikularismus ist die praktische Ausprägung des Relativismus und in der Polis stets gegeben. Man kann, je nach weltanschaulicher Ausrichtung, mit diesem Ansatz Probleme haben oder nicht, doch wenn man ihm entgegenhält, daß er keine Antwort auf die Frage wisse, wie der schlechte Zustand der Polis zu ändern ist[81], hieße das, die Pointe verkennen, daß die Entscheidung für den theoretischen Weg gerade deswegen so entschieden ausfällt, weil die Polis als solche nicht zu bessern ist. Der Vorwurf mangelnder politischer Reichweite läßt sich gegen die Philosophie nur dann erheben, wenn man einen politischen Maßstab zugrunde legt.[82] Genau das tut die Philosophie aber nicht[83], weil sie danach fragt, was der Fall ist, und nicht danach, wie man ändern kann, was der Fall ist. Und dennoch ist selbst die Philosophie nicht ganz ohne Wirkung im Politischen. Sie macht den, der sie betreibt oder in ihr Unterweisung erhält, zum besseren Menschen.[84] Ihre Wirkung ist nicht gewaltig, aber – anders als die des politischen Treibens – wenigstens die richtige. Gerechtigkeit, das sagt die Digression, kann immer nur der Einzelne entwickeln, und der soll jeweils für sich lösen, was die Gemeinschaft als ganze nicht lösen kann.[85]

Das Angebot der Digression bereitet dem common sense, der gewohnt ist, gesellschaftliche Lösungen stets als gemeinschaftliche zu verstehen, Schwierigkeiten, und in der Tat ließe sich gegen diesen Entwurf des guten Lebens einwenden, daß er für die Mehrheit der Menschen nicht geeignet ist. Sokrates vermag nicht viel mehr als der rauhen Menge mit Resignation gegenüberzutreten und ihr mitzuteilen, daß sie dazu verdammt ist, ein schlechtes Leben zu führen. Auch hier drängt sich der Kontrast zu Aristoteles auf. Der wird sich in seiner Ethik gerade dem Problem der allgemeinen Anwendbarkeit des guten Lebens stellen; der sogenannte Bios theoretikos[86], der nichts anderes ist als das, was in der Digression die Lebensweise der Philosophen genannt wird, gilt Aristoteles, ebenso wie Platon, als höchste Form des Glücks, und die meisten Argumente der Digression (Erkenntnis, Vollkommenheit, Göttlichkeit, Freiheit) tauchen bei ihm ebenfalls als Begründung hierfür auf. Dennoch macht Aristoteles sich selbst den Einwand, daß das theoretische Leben nicht jedem Bürger möglich ist. Ein ethischer Entwurf muß ein Angebot für alle Menschen darstellen, weshalb das praktische Leben dem theoretischen nicht entgegensetzt, sondern als sekundäre Form des Glücks denen angeboten wird, für die das theoretische Leben nicht in Frage kommt. Es muß bemerkt werden, daß bei Aristoteles und Platon dieselbe Konfiguration zugrunde liegt: Das praktische Leben ist – weil partikular, unfrei, subjektiv und unvollkommen – die Privation des theoretischen Lebens. Doch Aristoteles löst den Gegensatz vermittelnd auf, während Platon die Welt in ihrer Entzweiung beläßt. Man kann die Überlegung anstellen, daß Aristoteles in günstigeren Verhältnissen lebte, die ihm – eher als die, in denen Platon weilte – Grund zum Vertrauen in die Möglichkeiten von Politik und Gesellschaft gaben. Man kann auch das unterschiedliche philosophische – vielleicht auch: charakterliche – Temperament der beiden Denker als Begründung anführen, obwohl dergleichen stets Vermutung bleiben muß. Nicht kann man hingegen die Überlegungen, die Platon seinen Sokrates vortragen läßt, nicht ernstnehmen. Es ist ganz offenkundig, daß mit der Digression ein in sich logischer, abgeschlossener Gedankengang vorliegt, der sich auf Prämissen gründet, die dem Platonischen System entnommen sind. Wenn man die Auffassung teilt, daß das gute Leben in der äußersten Realisierung von Freiheit, Erkenntnis und Gerechtigkeit besteht, dann ist der Gedanke, daß das theoretische Leben die beste Lebensweise ausmacht, zwingend. Nirgends ist der Mensch freier als in der Betrachtung, wo er keine Kompromisse eingehen muß, keinen äußerlichen Zwängen unterliegt und von keinem anderen Menschen abhängig ist als gerade von sich selbst. Nirgends ist er gerechter und einsichtiger, weil nur dort, wo er sich dem Für und Wider des täglichen Lebens enthält, ein Darüberstehen möglich ist. Im Rückzug von den partikularen Verhältnissen liegt ein Gewinn, der auf keinem anderen Weg zu erlangen wäre. Man kann diesen Ansatz elitär nennen, aber es ist, wie ich meine, nicht möglich, ihn als inkonsistent oder im theoretischen Sinne falsch zu verstehen.

Für das Verständnis der Beziehung, in der beide Lebensweisen miteinander stehen, ist die Einsicht nötig, daß es sich tatsächlich um zwei verschiedene Bezugssysteme handelt, die die Maßstäbe, nach denen sie sich und andere bewerten, jeweils selbst hervorbringen. Erst dieser Gedanke, der die Unvermittelbarkeit beider Ansätze begründet, macht die Überlegung möglich, daß die beiden Maßstäbe nicht gleichwertig sind. Das gestische Hin und Her der Digression zwischen beiden Perspektiven korrespondiert der entschiedenen Neigung zu einer der beiden. Die Unversöhnlichkeit beider Weisen zeigt sich im – wiederum gespiegelten – »Leitmotiv« (Becker 2007, 298) der Lächerlichkeit. Die ganze Digression hindurch wird gelacht. 172c machen sich die Philosophen bei Gericht lächerlich; 174a spottet die Magd über Thales; 174cf. erregt der Philosoph Gelächter beim Volk; 174d und 175b lacht der Philosoph über das Treiben der Polis; 175d verkehren sich die Rollen, infolge dessen der Rhetor sich der Lächerlichkeit preisgibt. Lächerlichkeit entsteht, wo eine Diskrepanz zwischen Methode und Bereich, also zwischen Vorhaben und Ausführung erkannt wird. So muß der Philosoph sich in den kleinlichen Fragen des Gerichtswesens ebenso lächerlich machen wie der Rhetor im philosophischen Gespräch bei der Behandlung der großen Fragen. Daß beide Seiten übereinander lachen, sagt aber noch nichts über ihr Rechtsverhältnis aus. Entscheidend ist die Frage, wobei man sich lächerlich macht. Ein glänzender Rhetor aus Abdera hält einer philosophischen Prüfung nicht stand, ein Naturphilosoph aus Milet müßte sich vor Gericht ähnlich blamieren wie bei seinem Fall in den Brunnen, und eine thrakische Magd weiß genau, wo der Brunnen ist, zöge aber sowohl vor Gericht als auch beim philosophischen Disput das Lachen auf sich. Die Lächerlichkeit des Philosophen vor Gericht und die Lächerlichkeit des Rhetors bei der philosophischen Prüfung sind zwar beide perspektivisch und abhängig vom Zusammenhang, in dem sie stattfinden, aber sie sind nicht gleichwertig.[87] Es geht also nicht darum, daß gelacht wird, sondern um die Frage, weshalb gelacht wird. Die Polismenschen lachen über den Philosophen, weil sie nicht verstehen. Der Philosoph lacht, weil er versteht; die vorgeblichen Beispiele seiner Lächerlichkeit sind in Wahrheit Beispiele für die Lächerlichkeit derer, die über ihn lachen. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die Einführung des Philosophen, in der er als naiver und unbeholfener Mitbürger erscheint (174c–175b), sich selbst als naiv erweist und vom Autor offenbar ganz bewußt gesetzt ist. Die Beispiele, die für das Unvermögen des Philosophen aufgezählt werden – Gerichtsprozeß[88], Reichtum[89], politische Macht[90], Genealogien[91] – sind mehr oder weniger gut maskierte Belege für die Unfähigkeit der Polis, zwischen wesentlich und unwesentlich zu unterscheiden. Der Umstand, daß beide Lebensweisen ihren je eigenen Maßstab mitbringen, erklärt auch die Unbelehrbarkeit der Rhetoren. Den Nachweis, daß sie ein schlechtes Leben führen, nehmen die Gerichtsredner als Lob (176d, 177a). Doch der Nachweis ist objektiv; die Perspektive der Philosophen ist zugleich die universell gültige, weshalb das praktische Leben als das unglücklichste (ἀθλιωτάτον, 176e4) bezeichnet wird. Daß sie ihr Unglück nicht als solches empfinden, ist nach Platonischen Maßgaben kein Widerspruch, wie z.B. das Polos-Gespräch im »Gorgias« zeigt, worin Sokrates seinen Gesprächspartner zuzugeben zwingt, daß zwischen dem, was einer glaubt, daß er will, und dem, was er tatsächlich will, ein Unterschied bestehen kann (Gor 467c–468d). Doch der Philosoph, wenn er den Rhetor nicht zu bessern vermag, kann ihn zum wenigsten auf sein Feld zwingen und im philosophischen Gespräch entzaubern. Der Platonische Dialog erweist sich als der Ort, an dem die Winkelzüge der Advokaten und windigen Staatsmänner nicht wirken. Dort müssen sie die Maßstäbe der Philosophie anerkennen, so daß sie, in Aporien getrieben, sich selbst nicht mehr gefallen, sofern sie es nicht gar vorziehen – wie der Philosoph vor der Polis – zu fliehen (177b).

Da das Verhältnis zwischen beiden Lebensweisen ganz unmißverständlich zugunsten der philosophischen modelliert ist, ist die Frage nach dem Verhältnis, das Sokrates selbst und das von ihm entworfene Bild des Philosophen zueinander besitzen, wenn auch für sich interessant, für die Deutung der Passage weniger ausschlaggebend. Daß Sokrates diesem Bild nicht in jeder Hinsicht entspricht, ist offenkundig[92], aber das bedeutet nicht zwangsläufig, daß dieses Bild eine Karikatur ist.[93] Sokrates kann durchaus eine Lebensweise postuliert haben, ohne ihr selbst im vollen Umfang gerecht zu werden[94], und man sollte nicht leichtfertig voraussetzen, Sokrates halte sich selbst in jeder Hinsicht für das Maß aller Dinge. Dezidiert weist er darauf hin, daß in der Digression von den großen Philosophen, den Koryphäen, die Rede ist.[95] Die Darstellung der Digression läßt wenig Spielraum für freie Ausdeutungen, und es liegt der Verdacht nahe, daß die Verbindung von Erkenntnis und Gerechtigkeit, von der zu Beginn dieses Abschnitts gesprochen wurde, keinen anderen Zweck besitzt als den Eindruck eines möglichen modus vivendi zwischen theoretischer und praktischer Lebensweise konterkarieren zu sollen. So wie der Gegensatz vom Autor konstruiert wird – kontradiktorisch nämlich[96] – ist der Gedanke an einen Mittelweg ausgeschlossen. Die streng durchgeführte Spiegelung beider Lebensweisen allerdings, die sich auch darin zeigt, daß das tatsächlich asymmetrische Verhältnis zwischen Philosoph und Polismensch zunächst als ein gleiches Rechtsverhältnis erscheint, kann zu der Deutung führen, daß der Text darauf abziele, eine seiner eigenen Aussage entgegengesetzte Wirkung zu erreichen. Eine solche Deutung mag dadurch verständlich werden, daß der schwer zu handhabende Dualismus der Digression bei manchem Interpreten den Wunsch nach einem dritten Weg hervorruft.[97] Es ist bereits gezeigt worden, daß eine solche Interpretation nur möglich ist, wenn man den Text vollständig auf den Kopf stellt, und andererseits den Umstand ignoriert, daß sein Verfasser Platon heißt. Wen nicht bereits die Beschreibung des Philosophen (174b–175b) dahin überzeugt hat, daß seine Makel kaum etwas anderes sind als ein spielerisch vorgetragener Lobgesang, der sollte spätestens in der Homoiosis-theo-Passage eingesehen haben, daß der Autor in betreff beider Lebensweisen kein Drittes für gegeben ansieht. Um eine gegenteilige Lesart zu halten, müßte man beinahe alle Elemente der Digression ignorieren oder umdeuten.

Umgekehrt findet sich in der gesamten Passage nur ein Gedanke, der sich als Bekräftigung einer Äquidistanz zu beiden Lebensweisen lesen ließe: Der Philosoph, sagt Sokrates, weiß nicht einmal, daß er die Dinge der Polis nicht weiß.[98] Wenn man diesen Satz sehr stark macht, folgt aus ihm, daß der Philosoph ebenso beschränkt ist wie der Rhetor, und hieraus wieder folgte, daß sämtliche anderen Aussagen, die in der Digression über den Philosophen geäußert werden, nicht ernstgemeint sein können. Man wird wohl im Angesicht der Eindeutigkeit der übrigen Aussagen unternehmen dürfen, den einen Gedanken mit dem Rest in Einklang zu bringen statt umgekehrt. Der Philosoph, so läßt der Satz sich auch verstehen, weiß sein Nichtwissen nicht, weil er die Dinge nicht kennt. Aber natürlich weiß er, daß er viele Dinge in der Polis nicht kennt. Es heißt ja ταῦτα πάντα, womit all jene konkreten Dinge gemeint sind, die Sokrates zuvor aufgezählt hat. Und keine drei Zeilen später folgt die Begründung: Er weiß all das (wieder ταῦτα πάντα nämlich) nicht, weil er diese Dinge für nichtig und gering hält.[99] Man kann nicht etwas für gering und nichtig halten, von dessen Existenz man nichts weiß. Das Nichtwissen des Philosophen bezieht sich nicht auf die Existenz dieser Dinge, sondern auf ihre Beschaffenheit. Ihm ist bewußt, daß es eine Agora gibt, er kennt nur den Weg dorthin nicht. Das sagt, daß das Nichtwissen des Philosophen aus dem fehlenden praktischen Umgang mit den Gegenständen, die seine Ignoranz trifft, herrührt. Ich weiß, daß Mekka existiert, aber ich kenne den Weg dorthin nicht, weil ich noch nie da war und auch nicht dort hin will. Der Philosoph könnte nur wissen, was genau er nicht weiß, wenn er das wüßte, was er gerade nicht weiß. Das Nichtwissen des Philosophen bedeutet einfach, daß ihm vieles von dem, was in der Polis geschieht, entgeht. Und ganz sicher ist er der Meinung, daß ihm in Wahrheit nichts entgeht. In einem weiteren Sinne läßt sich nämlich die Aussage auch so verstehen, daß ihn, was vorgeht, nicht interessiert. Er weiß zwar, daß es Dinge in der Polis gibt, die er nicht weiß, aber Wissen um diese Dinge ist für ihn kein Wissen. Sein Nicht-wissen-des-Nichtwissens bestünde also darin, daß er sein Nichtwissen nicht als Makel empfindet. Das eint ihn mit den Rhetoren, die ihr Nichtwissen ebenfalls nicht als Makel empfinden. Aber sie empfangen das, was sie denken, aus ihrer Umgebung; sie sind außengeleitet und von der Gemeinschaft abhängig. Sie müssen, was sie nicht in sich haben, um sich suchen und sind daher unfrei. Der Philosoph vollzieht sein Nichtwissen als bewußte Entscheidung; er hat sein Leben gewählt aus der Einsicht heraus, daß es kein besseres gibt. Dazu muß er die Einzelheiten des anderen Lebens nicht kennen, ganz so wie die gesittete Welt von heute das Programm von RTL 2 nicht kennen muß, um dasselbe für eine Art Untergang des Abendlandes zu halten. Der Philosoph weiß in der Tat nicht, seine 25 Ahnen aufzuzählen, aber er weiß, wie sinnlos diese Tätigkeit ist, und damit weiß er bereits mehr über Genealogien als diejenigen, denen sie sehr wichtig sind. Dasselbe gilt von den Dikasterien: Man muß darin nicht verwickelt sein, um zu begreifen, daß es vor Gericht nur zwischen Sonderinteressen hin und hergeht.[100]

3. Funktion der Digression im »Theaitet«

3.1 Ansätze

So weit gelangt sollte es möglich sein, das in der Untersuchung des Gehalts Herausgearbeitete in Hinblick auf die Frage nach der Funktion der Passage anzuwenden. Hierbei spielt die Zusammenfassung eine ebenso wichtige Rolle wie die Entdeckung, denn die Forschung hat beachtliche Antworten hervorgebracht, die wie Versatzstücke bereitliegen, um – ergänzt durch eigene Beobachtungen – in eine Ordnung gebracht zu werden.

Es lassen sich innerhalb derjenigen Forschung, die sinnvolle Erklärungen zur Funktion der Digression geleistet hat, zwei Ansätze unterscheiden: integrative und genuine Erklärungen. Integrativ nenne ich diejenigen Erklärungen, die die Digression der Sache nach als Fremdkörper verstehen, sich aber mühen, inhaltliche Zusammenhänge zwischen ihr und dem »Theaitet« herzustellen. Sie zielen in der Hauptsache darauf, die Digression als ein Geflecht ethisch-praktischer Theoreme zu verstehen, das in den erkenntnistheoretischen Diskurs des Dialogs eingebettet wurde und eine Ausweitung desselben darstellt. Genuin nenne ich diejenigen Erklärungen, die im Dialogs selbst Gründe für das Erscheinen der Passage finden, also unternehmen, die Rede des Sokrates aus dem Zusammenhang des Dialogs heraus zu deuten und dabei eine Relevanz des Gesagten für das Thema des »Theaitet« herauszuarbeiten. Wie es sich gehört, sind die meisten Forscher nicht eindeutig einer der beiden Erklärungen zuzuordnen; viele operieren durchaus mit beiden Modellen. Dennoch ist die Tendenz erkennbar, daß mit dem Fortgang der Forschung im 20. Jahrhundert sich der Akzent deutlich von den integrativen zu genuinen Erklärungen verschoben hat. So hält Friedländer noch ausschließlich integrative Deutungen bereit, während Barker bereits genuine Ansätze erkennen läßt. Die Digression ist für Friedländer nur »scheinbar wie ein fremder Körper« (Friedländer 1930, 151). Der Exkurs setze genau an der Stelle ein, wo der Begriff des Gerechten auftaucht (172a), der als von Sokrates eingebrachtes Beispiel Gefahr laufe, »in den Kreis der Relativität und Willkür« (ebd., 154) gezogen zu werden, was der Philosoph Platon nicht akzeptieren könne. Ebenso sieht Cornford die Digression als eine Antwort auf den ethischen Relativismus, die Platon allerdings nur indirekt habe erledigen wollen: “A direct treatment would demand a repetition of the contents of the Republic and arguments supporting the Platonic thesis that the moral Forms, Justice and the rest, do ‘exist by nature with a being of their own’” (Cornford 1935, 83).[101] Diesen Ansatz setzt, verfeinert, Barker fort. Er kritisiert die frühere Forschung dafür, daß sie die Passage als nur für sich interessant wahrgenommen habe und versucht eine Deutung im Kontext des Dialogs. Die Digression ist demnach eine Digression nicht in dem Sinne, daß sie keine direkte Relevanz für den argumentativen Verlauf des Dialogs hätte, sondern weil sie Ideen enthält, die über diesen Verlauf hinausgehen. Sie ziele unmittelbar auf die Protagoras zugeschriebene These (167c, 172af.), “that in matters of ethics the state is its own arbiter” (Barker 1976, 458). Wenn die Staatsverfassung aber bloßes Resultat von Konventionen ist und keine »natürlichen« Grundlagen besitzt, dann gelte, daß “the expert in morals will be the man who understands most fully the laws and customs of his community” (ebd.). Die Digression hätte demnach den Zweck, den Anspruch der Rhetoren zu widerlegen, in Staatsfragen am besten beraten zu sein; ihr Argument sei ein “short way with the Protagoreans” (ebd., 461), das nur funktioniert, wenn es bereits akzeptiert ist, aber es stehe im Einklang mit dem Argument, in das es einbettet ist (die Widerlegung des Relativismus). Barker deutet die Digression also als eine populäre (intuitive), nicht-philosophische Widerlegung des Homo-mensura-Satzes.

Auch zuletzt wurde der integrative Ansatz wieder aufgenommen. So urteilt Chappell: “the Digression shows us what is ethically at stake in the often abstruse debates found elsewhere in the Theaetetus” (Chappell 2004, 127). Man könne sich nicht für einen Begriff von Wissen entscheiden, ohne nicht auch andere Arten von Entscheidungen – solche, die außerhalb der Epistemologie liegen – zu treffen. Szlezák hingegen fällt, anders als Chappell und Barker, auf die rein integrative Erklärung zurück. Zwar besteht er darauf, daß die Digression »kein Heraustreten aus dem weiteren Dialogzusammenhang« (Szlezák 2004, 122) darstellt, begründet das allerdings nur knapp mit der Relevanz des Homo-mensura-Satzes für die »relativistische Justizpraxis«. Daß diese rechtliche Praxis in der Digression dargestellt ist, ist zwar ein Zusammenhang, aber doch vor allem einer, der die Relevanz des »Theaitet« für die Digression zeigt und weniger die der Digression für den »Theaitet«. Damit ist das generelle Problem der integrativen Deutung benannt. Wollte man in dieser Art Erklärung bereits das gesamte Geheimnis der Digression erblicken, so müßte man in ihr zwar durchaus mehr als nur jene Fußnote sehen, von der McDowell spricht, aber dennoch eine Passage, die in Hinblick auf die gedankliche Hauptlinie des Dialogs ein Fremdkörper und somit eine Verzögerung ist.

Demgegenüber machen sich einige Forscher auffällig, die ebenfalls ihren Blick auf die ethische Dimension des »Theaitet« richten, jedoch eine Relevanz für Fragen die Erkenntnistheorie (also den »Theaitet«) festzustellen geneigt sind. So erfährt man bei Burnyeat, daß das zentrale Thema der Digression die Beziehung zwischen Weisheit und Gerechtigkeit ist, welches Verhältnis aber zu groß sei, um es innerhalb der Struktur des »Theaitet« abzuhandeln. Also unterbricht Platon “the argument and launches into rhetoric” (Burnyeat 1990, 34). Dabei lehre die Digression, was zu wissen wert und wichtig sei (ebd., 36). Auch Hardy denkt in dieselbe Richtung: »In dem Exkurs geht es […] darum, welche Dinge aus welchen Gründen eigentlich wissenswert sind« (Hardy 2001, 97).

Für Niehues-Pröbsting ist die Digression eher ein formaler denn ein inhaltlicher Bruch, da sie nicht diskursiv entwickelt wird (Niehues-Pröbsting 1982, 45), was als Urteil etwas verwundert, weil doch der Ausbruch aus der Struktur des Dialogs vor allem am Wechsel des Themas kenntlich – niemand käme auf die Idee, etwa die fingierte Verteidigungsrede des Sokrates (165e–168c) als Bruch zu sehen – und formal gesehen der größere Logos (Monolog) ein häufig wiederkehrendes Element der Platonischen Dialoge ist. »Die Form der Abschweifung« (ebd., 48) drücke aber selbst die philosophische Muße aus, von der in ihr gesprochen wird. Der in der Digression verhandelte Inhalt und ihr eigenes Auftreten im Dialog entsprechen sich demnach, und die Digression steht performativ als ihre eigene Rechtfertigung: Sie selbst soll demonstrieren, daß die Philosophie die Freiheit zum gedanklichen Exkurs besitzt, wann immer es den Teilnehmern des Disputs sinnvoll erscheint. So erwägt auch Becker die Digression als performativen Beleg für die Wichtigkeit der Muße im Philosophieren, läßt diesen Gedanken allerdings zugunsten des Hinweises auf den wohlkalkulierten Konstruktionswillen des Autors zurücktreten (Becker 2007, 296).

Buddensiek stellt die Passage dezidiert in den Zusammenhang der gedanklichen Hauptlinie des Dialogs: »Den Kontext der Digression bildet […] der erste Exkurs. […] Den engeren Kontext der Digression bildet […] die Widerlegung […] des Homomensura-Satzes« (Buddensiek 2001, 11). Die Funktion der Digression sieht er darin, daß es »um bestimmte notwendige Bedingungen [geht], die erfüllt sein müssen, damit Wissen vorliegen kann« (ebd., 18). Wenn also in der Digression tatsächlich Bedingungen beschrieben sind, die Platon als notwendig für die Erlangung von Wissen angesehen hat, wäre genau die Relevanz der Digression für den »Theaitet« nachgewiesen, von der Ryle behauptet hat, daß sie nicht gegeben sei, und die von anderen nicht in erkenntnistheoretischen, sondern in ethischen Zusammenhängen gesucht wurde. Buddensiek arbeitet drei Punkte heraus: zwei notwendige Bedingungen für Wissen und etwas, das er die »Meta-Funktion der Digression« (ebd., 22) nennt. Die erste Bedingung sei eine psychologische, worunter er bestimmte Voraussetzungen in der charakterlichen Disposition versteht: »[J]emand kann Wissen nur dann besitzen […], wenn er charakterlich tugendhaft ist« (ebd., 13f.); und: »Wer Wissen besitzen will, muß in gewisser Hinsicht ›komplett‹ sein« (ebd., 19). Damit konstruiert Buddensiek einen Zusammenhang, der zwar besteht, bei ihm allerdings verkehrt wird. Nicht Tugend ist bei Platon die Voraussetzung für Wissen, sondern Wissen die Voraussetzung für Tugend, und es gibt keinen Hinweis darauf, daß Platon diese Subjunktion auch als Äquivalenz verstanden wissen wollte. Andernfalls müßte man annehmen, daß die ohne Wissen erlangten Tugenden, die politischen nämlich, die Voraussetzung zur Erkenntnis sind, und das liefe den Auffassungen Platons ganz offenkundig zuwider. Die zweite notwendige Bedingung, die Buddensiek nennt, ist die holistische, worunter die Forderung nach begrifflicher Totalität zu verstehen ist: Wissen muß ganzheitlich sein, sonst ist es kein Wissen (ebd., 19). Das deckt sich mit dem »Theaitet« – vor allem mit der Passage 187a–190e –, und überdies wurde dieser Umstand bereits im Abschnitt 2.2 als Element der Digression betrachtet. Der dritte Punkt, jene »Meta-Funktion«, bezieht sich auf das Spiel mit den Erzählebenen. Am Anfang des Dialogs wird über den alten Theaitetos geredet, im Hauptteil des Dialog ist der junge Theaitetos einer der Akteure. Der alte sei das lebendige Beispiel jener philosophischen Lebensweise, die in der Digression beschrieben ist: »Während die Digression im älteren Theätet ihre Bestätigung findet, bietet sie selbst für den jüngeren – der ihr als Zuhörer folgt – einen Leitfaden, an dem er sich orientieren kann und wird. Mit der Vorgabe dieser Perspektive treibt sie zu ernsthafter Reflexion über das, was wert und wichtig zu wissen ist, an« (ebd., 22f.). Man erkennt den – gleichwohl durch die Beobachtung der beiden Zeitebenen bereicherten – Gedanken Burnyeats wieder, der integrativ und genuin zugleich ist.

Für Sedley muß die Digression, die er formal als sokratisches Äquivalent der platonischen Mythen sieht (Sedley 2004, 80), eine wesentliche Rolle bei der Betrachtung des »Theaitet« spielen, denn sie ist der Teil des »Theaitet«, der am deutlichsten an den Platonismus erinnert.[102] Folglich richtet er sich mit besonderem Augenmerk auf die Homoiosis-theo-Passage und sucht die Hauptfunktion des ersten Teils der Digression darin zu zeigen, daß Gerechtigkeit nicht relativ ist, wie viele glauben (ebd., 65). Eine genuine Erklärung bringt er durch die Aufschlüsselung des Gottesbegriffs bei, der – wie die Idee bei Platon – bei Sokrates für das Absolute stehe (ebd., 77). Die Relevanz für die Erkenntnistheorie ist damit offenkundig, und Sedley verweist auf eine Stelle in den »Nomoi«, die unmißverständlich auf die Diskussion des »Theaitet« abzielt und den Zweck der Digression schlagartig erhellt: Das Maß aller Dinge ist Gott und nicht irgendein Mensch, wie einige behaupten (ebd., 81).[103] Die Digression zeigt sich dergestalt als unmittelbare Gegenthese nicht nur zum praktischen, sondern auch zum erkenntnistheoretischen Relativismus. Den gleichen Zusammenhang, wenn auch weniger ausführlich und im Urteil vorsichtiger, sieht Becker. Platon schließe mit der Digression »an die Problemlage an, die sich aus der letzten Widerlegungsrunde ergeben hatte: Wer sich völlig auf den protagoreischen Standpunkt einläßt, ist nicht intern anzugreifen, aber er schneidet sich die Möglichkeit eines rationalen Austauschs über verschiedene Positionen ab« (Becker 2007, 300).

3.2 Vier Funktionen

Wenn man von diesen Ansätzen das Brauchbare aufnimmt und sich bemüht, unter Erinnerung des im zweiten Teil dieser Untersuchung herausgearbeiteten Gehalts der Digression in einem Grundriß die möglichen Überlegungen zur Funktion der Passage zu erfassen, lassen sich vier Gedanken unterscheiden: die Digression als (1) ethische Dimension des Wissensbegriff, (2) Bestandteil der Kritik am Homo-mensura-Satz, (3) Ausdruck philosophischen Verfahrens, (4) Verbindung zum Platonischen System.

(1) Auch wenn bei Platon die Ethik dem Wissen nicht zugrunde liegt, sondern dieses jenem vorausgeht, ist eine Relevanz der Frage nach dem guten Leben für die Frage nach der Erkenntnis immer gegeben. Das besorgt, wie oben gesagt, der engere Zusammenhang, in dem Ethik und Erkenntnis im Platonischen Denken stehen. Eine Passage wie die Digression kann für eine Erörterung wie den »Theaitet« also nur dann irrelevant scheinen, wenn man den Blick über das Werk hinaus auf die dahinter stehende Theorie des Verfassers ausschließt. In gewisser Weise legt Platon mit der Digression eine Art ethischen Rahmen fest, der zeigen soll, wie man leben muß, um Wissen erlangen zu können. Gleichwohl erscheint sie bezogen auf die Struktur des Dialogs eher wie ein Beiwerk. So bestimmt erklärt die Digression sich aus dem Verlauf des ihr vorausgehenden Diskurses, aber die Debattierenden stolpern ganz unkontrolliert in sie hinein. Man fragt sich unweigerlich, warum Platon in 172af. auf die Staatspolitik zu sprechen kommt, welches Thema ihn, einmal angeschnitten, zwingt, einen Exkurs zu veranstalten und sich auf einen Schauplatz abseits vom Schlachtfeld des Hauptkampfes in Scharmützel zu verwickeln. So erhält der zuvor streng auf die Epistemologie gerichtete Diskurs eine Ausdehnung, und dieses Leck muß gewissermaßen erst gestopft werden, ehe man damit fortfahren kann, den Homo-mensura-Satz theoretisch zu widerlegen.

(2) Wenn man sich fragt, warum Platon in 172af. den praktischen Relativismus ins Spiel bringt, demzufolge Gerechtigkeit, Politik und Gottesfurcht bloß positive – also menschlich gesetzte – Bestimmungen sind, an denen nichts Notwendiges oder Allgemeines ist, kann man durchaus auf sinnvolle Erklärungen kommen. Der praktische Relativismus ist der Anlaß der Digression, und sie stünde nicht im Dialog, hätte der Autor seinen Redner Sokrates sich ein anderes Beispiel als gerade die politischen Angelegenheiten (οὐκοῦν καὶ περὶ πολιτικῶν, 172a1) wählen lassen. Ein Blick zurück auf die Verteidigungsrede des Sokrates zugunsten des Protagoras (165a–168c) zeigt allerdings, daß 172af. auf 167c verweist. Nicht Sokrates hat aus freien Stücken den praktischen Relativismus ins Spiel gebracht, sondern Protagoras, für den Sokrates als Anwalt spricht, hat die praktische Frage eingeführt, um seinen erkenntnistheoretischen Satz zu verteidigen. Er kann nicht leugnen, daß Fachwissen und Laienstatus sich voneinander unterscheiden und muß diesen Unterschied, will er seinen epistemologischen Egalitarismus aufrechterhalten, nicht als theoretisch, sondern als praktisch fundiert hinstellen. Was das Wissen des Fachmanns besser mache als das des Laien, ist sein größerer praktischer Nutzen. Damit fixiert Protagoras/Sokrates das Programm der Sophistik, in staatlichen und sonstigen gesellschaftlichen Dingen höchste Ratgeberin sein zu wollen, ohne weitere (philosophische oder fachliche) Einsicht in die Dinge zu benötigen, und erweitert somit indirekt seinen Angriff auf den Wahrheitsbegriff durch einen Angriff auf die theoretische Fundierung des gesellschaftlichen Handelns, womit er die Praxis zur höchsten Instanz erhebt, dies aber nicht etwa im Sinne einer Verifikationsinstanz der Wahrheit im gesellschaftlichen Handeln, eines learning by doing also, das nach vollzogener Erfahrung in eine gültige Theorie überführt würde, sondern allein in dem Sinne, daß ein jeder glauben kann, was ihm jeweils frommt, und gerade dazu angehalten ist, nur noch das zu glauben, was ihm nützlich ist und nach Sachverhalten jenseits seiner Subjektivität nicht zu fragen. Der praktische Relativismus hilft also dem theoretischen aus der Verlegenheit, und indem Platon in der Digression den praktischen angreift, schwächt er auch – ganz unabhängig davon, daß den praktischen Relativismus anzugreifen für Platon als solches ein wertvolles Unterfangen gewesen sein muß – den theoretischen.

Im Lichte dieser Überlegung tritt die Stellung der Digression innerhalb der Widerlegung des Protagoras deutlicher hervor. Nachdem in der fingierten Verteidigungsrede Protagoras/Sokrates konzediert hat, daß es durchaus bessere und schlechtere Meinungen gibt, dieses Besser oder Schlechter sich aber an der Nützlichkeit und nicht an der theoretischen Richtigkeit messe, fährt Sokrates in der Widerlegung fort und entwickelt zunächst aus Protagoras’ eigener Auffassung eine Widerlegung: Wenn seine Theorie stimme, daß jede Meinung wahr ist, müsse auch die Meinung wahr sein, daß seine Theorie nicht stimmt (171af.). Theoretisch wäre die Widerlegung damit abgeschlossen. Aber durch die Verteidigungsrede ist ein Praxisbezug ins Spiel gekommen. Es eröffnet sich also eine zweite Argumentation, die sich zugleich des Ergebnisses der Selbstwiderlegung bedient. Mit der Selbstwiderlegung nämlich wurde deutlich, daß zwei einander widersprechende Meinungen nicht zugleich wahr sein können. Um das Nützliche zu bewirken, benötigt man die Fähigkeit, Voraussagen über die Zukunft zu treffen. Ein Arzt z.B. sollte wissen, wie das Medikament wirkt, das er verabreicht. Dadurch, daß Protagoras/Sokrates die Nützlichkeit ins Spiel gebracht hat, kommt Protagoras durch das Zukunftsargument zu Fall (177c–179b). Die Diskussion zeigt, daß er eingestehen müßte, daß hinsichtlich der Zukunft unmöglich jede Meinung gleich richtig sein kann. Die Nützlichkeit, die von der Theorie wegführen sollte, erweist sich als der Theorie bedürftig. Um Gutes bewirken zu können, ist ein Wissen von der Zukunft nötig, und das ist unmöglich bei jedem gleich stark gegeben. Es gibt viele Meinungen über die Zukunft, aber nur eine Zukunft. Die vielen Meinungen können, und hier kommt die Selbstwiderlegung indirekt in das Argument zurück, unmöglich alle zugleich wahr sein. Die Digression steht nun zwischen diesen beiden Argumenten. Sie ist, meine ich, die dritte Widerlegung des Homo-mensura-Satzes. Die Selbstwiderlegung zeigt den logischen Fehler der Protagoreischen These; das Zukunftsargument zeigt, daß auch das Ausweichen auf die Praxis theoretisches Wissen erforderlich macht; die Digression schließlich zeigt auf anschauliche, erzählerische, nicht-argumentative Weise, welche Art Praxis aus dem Relativismus folgt. Denn die Rhetorik ist die alltägliche Praxis des Homo-mensura-Satzes. Die unmittelbare Wahrnehmung wird darin zum einzigen Bezug. Das bedeutet erstens den Verzicht auf die Erkenntnis eines objektiven, ganzheitlichen Zusammenhangs. Und zweitens liegt darin das Scheinhafte und somit Irreführende der Redekunst, die nicht darauf abzielt, das tatsächliche Verhältnis ihrer Gegenstände sinnfällig zu machen, sondern den Anschein eines Rechts zu stiften. In Verbindung mit der Rhetorik kehrt sich die scheinbare Toleranz des Homo-mensura-Satzes um, den man ja durchaus als ein everything goes verstehen kann. Die Toleranz gilt nur, solange er postuliert wird. Wo er zur Anwendung kommt, tritt an die Stelle des Jedem-seine-Meinung die Manipulation, die aufgrund der Leugnung objektiver Zusammenhänge nur um so willkürlicher ihren Einfluß ausüben kann. Die Praxis des erkenntnistheoretischen Skeptizismus ist der Umschlag in Dogmatismus, der sich von demjenigen Dogmatismus, gegen den die Skepsis sich vorderhand wendet, nur darin unterscheidet, daß seine Begründung noch schlechter einsehbar, er also für allerlei zwielichtige Absichten noch besser brauchbar ist.

(3) Das Thema des »Theaitet« ist die Frage nach der menschlichen Erkenntnis. Der Versuch, Wissen zu definieren, wiewohl er schließlich scheitert, muß ernstgenommen werden. Ernstgenommen werden muß auch der Diskurs in seinen einzelnen Momenten. Für die Frage, was Wissen ist, ist die Frage, wie man Wissen erlangt, nicht unmittelbar von Bedeutung, aber vielleicht doch von zusätzlichem Interesse. Die Digression teilt mit, wie man Wissen erlangt. Eine notwendige Bedingung des Erlangens von Wissen ist Muße bzw. Freiheit. Die Philosophen, heißt es mehrfach (172c, 172d, 173bf.), haben diese Freiheit; die Rhetoren (172df.) und Staatsmänner (174df.) haben sie nicht. Das Ziel der philosophischen Rede wirkt sich auch auf ihre Form aus. Der Dialog erweist sich als geeignet, Philosophisches abzuhandeln, weil in ihm die Möglichkeit besteht, den Gegenstand mit eben der Freiheit und eben der Beharrlichkeit zu behandeln, mit der er der Sache nach behandelt sein will. So offenbart sich, daß die Digression selbst ein Zeichen jener Freiheit und Muße ist, die die philosophische Untersuchung benötigt; sie äußert denselben Gedanken also zweimal, einmal wörtlich und einmal performativ. Sokrates spielt in der Rede damit, daß die Digression die philosophische Freiheit zugleich aussagt und verkörpert (172d, 173b), wodurch deutlich wird, daß in dieser Darstellung Absicht waltet. Doch diese Freiheit darf nicht verstanden werden als Willkür. Sokrates warnt vor der Gefahr, die Muße zu sehr zu gebrauchen.[104] Die philosophische Rede unterscheidet sich von der rhetorischen darin, daß sie sich genau das nimmt, was dem Redenden der Sache nach angemessen scheint.[105] Daß die Zeit keine Rolle spielt, solange man das Richtige trifft, bedeutet nicht nur, daß man die zur Darlegung nötige Redezeit nicht unterschreiten darf, sondern ebenso, daß man sie nicht überschreiten sollte. Und auch in einer weiteren Hinsicht hält die Digression die Mitte. Wenngleich die Frage, wie man Wissen erlangt, auf eine Rahmenbedingung des Wissens weist, ist sie doch nicht identisch mit der Frage nach der Definition des Wissens, die das Hauptanliegen des »Theaitet« ausmacht. Die Digression bleibt trotz aller Relevanz dennoch eine Digression. Wäre sie keine Digression, sondern ein sich glatt in den Gang der Erörterung einfügender Abschnitt, wäre sie auch kein Beispiel für die Freiheit der philosophischen Rede. Sie könnte aber auch nicht etwas vollends Abwegiges behandeln, weil eben das ein Beispiel für den Mißbrauch der philosophischen Freiheit und Muße wäre. So steht sie in der Mitte zwischen strenger Zugehörigkeit zum zu erörternden Thema und vollkommener Irrelevanz in Bezug auf dasselbe und kann nur dort sein, was sie ist.

(4) Die Digression scheint auch, was ihren theoretischen Gehalt betrifft, eine besondere Funktion für den »Theaitet« zu besitzen. Das Nichterscheinen der Ideen in diesem Text, von dem im Abschnitt 2.3 behauptet wurde, daß es am sinnvollsten als eine bewußte Zurückhaltung des eigentlichen theoretischen Hintergrunds verstanden werden kann, wird durch die Homoiosis theo und die damit implizierte Metaphysik aufgehoben. Das Streben nach dem Absoluten, der Abstand von der sinnlichen Welt, die Unvermittelbarkeit von Wesen und Erscheinung – das alles weist auf nichts anderes als die Ideenlehre, nicht namentlich, aber strukturell. Die Digression ist der Anker des »Theaitet«, der seinen Halt in der Metaphysik Platons garantiert und dem kundigen Leser den entsprechenden Hinweis verschlüsselt mitteilt. Sie hat somit eine ganz ähnliche Funktion wie das Lied von Ares und Aphrodite, das inmitten der »Odyssee« steht und an das alte Götterbild der »Ilias« erinnert.[106] Und auch diese Eigenschaft wird zugleich performativ vermittelt. Das Prinzip Abstand, das als Voraussetzung für die Erlangung von Wissen in der Digression postuliert wird, ist durch sie selbst ausgedrückt. Der »Theaitet« bewegt sich in sorgsam gezogenen Grenzen und verläßt die Welt der Erscheinungen nicht. Er bleibt, platonisch gesprochen, in der Höhle, wo er sich freilich mit den Schattentricks jener Puppenspieler auseinandersetzt und diese als Tricks enttarnt. Der Gang in die Höhe, das Gewinnen von Abstand findet im Dialog nicht statt, aber die Digression vollzieht durch Abweichung die Annäherung an die Ideenlehre und ist dadurch, daß sie vollzogen wird, eine Veranschaulichung dieses Erkenntnisgangs[107] und zugleich eine Orientierung für den jungen Theaitetos.

Dennoch stellt sich in dieser Perspektive die Frage nach der theologischen Form. Warum bereitet Platon, dem es offenkundig um eine Referenz auf die Ideentheorie zu tun war, anstelle eines metaphysischen Modells ein religiöses Dogma auf? Sicher ist das Erscheinen Gottes mehr als nur das Angebot einer »religiöse(n) Brücke« (Becker 2007, 301) für diejenigen, die an Erkenntnis interessiert, aber von der Philosophie überfordert sind. In Form des Göttlichen wird das Absolute gegen den Relativismus ins Feld geführt.[108] Die Wendung ins Theologische hat einen philosophischen Sinn. Atheismus mag im heutigen Verständnis Ausdruck einer rationalen Haltung zur Welt sein (wenngleich auch das offenkundig nicht in jedem Fall zutrifft). Im Altertum geht der Atheismus praktisch immer mit einem Agnostizismus, einem erkenntnistheoretischen Skeptizismus einher. Jeglichem Atheismus wohnt die Tendenz zur Geistlosigkeit inne, solange Gott im philosophischen Denken eine sinnvolle Funktion hat. Der Gottesbegriff tritt im Denken dort auf, wo das menschliche Wissen nicht hinreicht, die Welt im ganzen zu erklären. Er steht für das Absolute. Das ist bei Platon nicht anders als etwa bei Spinoza, Hegel oder Leibniz. Die Einführung Gottes ist eine Strategie zur Rettung des Objektivitätsbegriffs, mithin zur Rettung des Wissensbegriffs. Und also die Verteidigung der Vernunft mit nicht-vernünftigen Mitteln, nur dadurch, daß diese Mittel einem Vernunftzweck dienen, sind sie schon nicht mehr ganz nicht-vernünftig. Damit soll nicht gesagt sein, daß hinter der Theologie keine echte Gottesfurcht stehe. Es geht um ihre Funktion für die Philosophie, um die Eigenschaft, die sie für den Philosophen interessant macht. Entsprechend ist denn auch für Platon das Wissen des Absoluten (Göttlichen) wahres Wissen und das Wissen der sinnlichen Welt (des Irdischen) Glaube.[109] Daß der Sokratische Gott als Metapher für die Platonische Idee stehen kann, erklärt allerdings nur, warum seine Verwendung möglich ist.

Bleibt die Frage, ob ihn ins Spiel zu bringen nötig war. Man kann, mit Sedley, vermuten, daß Sokrates die Ideenlehre nicht besaß, sein Gottesbegriff diese aber antizipiert, womit der sokratisch-platonische Charakter des »Theaitet« gewahrt wäre. Man kann es aber auch ohne Sedleys Modell verstehen. Daß die Ideen im »Theaitet« nicht vorkommen, kann – wie immer man diesen Umstand erklärt – kein Zufall sein. Es wäre widersinnig, sie durch die Digression doch in das Werk zu nehmen, weil dessen Aporie dann nicht mehr plausibel zu präsentieren wäre. Daraus folgt, daß ein Autor, der – aus welchen Gründen auch immer – anstrebt, in einem seiner Werke, in dem er eine theoretische Zurückhaltung an den Tag legt, dennoch eine Passage zu placieren, die eine Verbindung zu anderen, dem zugrundeliegenden System im höheren Maße angemessenen Werken des Autors herstellt und über die Beschränkung des Werks, in dem sie steht, hinausgeht, eine Form wählen mußte, die zum einen jenes Darüberhinausgehen leistet, zum anderen aber nicht so explizit an die anderen Werke erinnert, daß der mindere theoretische Status des Werks, in dem sie steht, offenbar wird und die innere Stimmigkeit dieses Werks dadurch gefährdet würde. Daß die Form theologisch ist, ist ihr Vorzug. Auf die Art kann Platon für einen Lichtblick sorgen, ohne das Fenster zur Ideenwelt ganz aufreißen zu müssen.

Siglen

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Noten

[1] Diese Arbeit wurde im Herbst 2011 verfasst und im November des Jahres am Institut für Klassische Philologie der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht. In leicht überarbeiteter und gekürzter Fassung erschien sie unter dem Titel: Zur Deutung der Digression des »Theaitet« (172c–177c), in: Philologus. Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption 159 (1/2015), S. 29–72. Hier erscheint sie in ihrer ursprünglichen Gestalt.

[2] vgl. »Theaitet« 172c–177c. Textgrundlage dieser Arbeit ist Duke 1995. Zitate aus der Digression sind dieser Ausgabe entnommen und im Zweifel mit Diès 1924 und Burnet 1900 abgeglichen. Sie werden ebenso wie indirekte Verweise durch Stephanuszahlen nachgewiesen, wenn sie sich auf den »Theaitet« beziehen (z.B. 172d–173b); beziehen sie sich auf andere Texte Platons, wird zusätzlich kenntlich gemacht, um welchen Text es sich handelt (z.B. Pol 514a–519b). Wörtliche griechische Zitate, die sich auf die Digression beziehen, erhalten eine zusätzliche Angabe der Zeilen (z.B. 176b1).

[3] gelegentlich auch Exkurs oder Episode, so z.B. bei Wilamowitz 1919a; Niehues-Pröbsting 1982; Heitsch 1988.

[4] vgl. Becker 2007, 386.

[5] siehe hierzu Abschnitt 1.2.

[6] wie z.B. Wilamowitz 1919b, 230ff. und Ryle 1966, 278.

[7] Jeder Logos ist anders, in seiner Konstruktion und im Zusammenhang, in dem er steht. Dennoch gilt: Wenn zwei Platonische Dialoge Logoi besitzen, die Ähnlichkeiten bezeigen – wie z.B. im Fall der Digression das Höhlengleichnis der »Politeia«, der Seelenmythos im »Phaidros« oder die Seele-Körper-Analogie im »Gorgias« –, dann liegt die Vermutung nahe, daß die Ähnlichkeiten nicht zufällig sind, sondern Kongruenzen, das heißt: verschiedene Variationen desselben Themas.

[8] In der Einleitung seiner Platonausgabe hat Schleiermacher die Frage nach dem Verhältnis von Form (Dialog) und Inhalt (philosophisches System) der Platonischen Lehre aufgeworfen und gab auf die Art der seit der Antike bestehenden, ausschließlich auf den Gehalt der Platonischen Lehre gerichteten Literatur eine grundlegende begriffliche Korrelation, zu der sich die kommenden Generationen verhalten mußten (vgl. Schleiermacher 1817, 3–52).

[9] Einen luziden Überblick zum Stand der neuzeitlichen Platonforschung findet sich bei Erler 2007, 1–8. Die Ergebnisse mit besonderer Rücksicht auf den »Theaitet« faßt zusammen Becker 2007, 235–246, 390–400; desgleichen, sehr konzis, Sedley 2004, 4–6.

[10] Man kann diesen Ansatz philosophisch oder philologisch auslegen: Ersteres zeigt sich vor allem im Verfahren der analytischen Philosophie, deren Untersuchungen auf argumentative Strukturen innerhalb von Texten gerichtet sind, wodurch jeder Dialog wie ein eigener Kosmos von gedanklichen Bestimmtheiten erscheint und der Blick über die dialogische Situation hinaus in der Regel gemieden wird. Die philologische Auslegung achtet hingegen mehr auf sprachliche und literarische Motive, das Gestische und Psychologische der Figuren, Poesie und Stil der Reden, szenisches Setting oder Dramaturgie des Dialogs etc.

[11] Was sich sinnvollerweise erst machen ließe, nachdem beantwortet ist, was in der ausschließlich werkbezogenen Betrachtung erklärtermaßen nicht gefragt werden soll. Daß der intertextuelle Zusammenhang aus der Betrachtung ausgeschlossen werden kann, läßt sich erst dann begründen, wenn er hinreichend untersucht wurde.

[12] καὶ τὰ μέν γε ἄλλα οὐκ ἂν πάνυ ὑπὲρ τοῦ λόγου διισχυρισαίμην (Men 86b).

[13] Die Hebammen-Metapher, die gerade bezogen auf den »Theaitet« von großer Wichtigkeit ist (vgl. 148e–151d, 161af.), erfreut sich besonders bei denjenigen Interpreten größerer Beliebtheit, deren Deutung auf dem Situativen der Aussagen im Dialog ruht, da durch Sokrates’ Behauptung, daß er nur heraushole, was bereits in seinen Gesprächspartnern verborgen vorliegt, alle Gesprächsinhalte klar an die Situation und die Subjektivität der Redenden gebunden sind. Wer aber (wie z.B. Becker 2007, 240f.) diesen Zusammenhang für eine werkspezifische Interpretation ins Feld führen möchte, verstößt gewissermaßen gegen seine eigenen Grundsätze, indem nämlich so die Aussage einer Figur Platons als schlechthin wahr genommen und nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen wird, daß die Hebammen-Metapher von einem durchaus mehr wissenden Sokrates eigens für seine Gesprächspartner ins Spiel gebracht sein könnte. Es ist hier nicht der Ort, ins Einzelne zu gehen, aber bemerkt sei, daß bereits ein flüchtiger Überblick der Platonischen Dialoge erkennen läßt, daß Sokrates weitaus mehr tut als nur aus seinen Gesprächspartnern zu holen, was die bereits wissen. Und das gilt sowohl für seine argumentativen Techniken als auch für die in den Dialogen gewiß nicht spärlich gesäten längeren Reden, zu denen die Digression zu zählen ist. Was diese Passage betrifft, bleibt doch das Besondere an ihr, daß sie sich dem dialogischen Zusammenhang entzieht, daß sie vorderhand eine Unterbrechung des argumentativen Verlaufs darstellt. Sie gleicht, um im Bild zu bleiben, vielmehr einem Kaiserschnitt als einer einfachen Geburtshilfe. Ob es sich auch um eine künstliche Befruchtung handelt, soll am Ende der Arbeit geklärt werden.

[14] Einen Überblick über die Ergebnisse der stilanalytischen Untersuchungen gibt Brandwood 1993, 90–120; zum Forschungsstand der Chronologiefrage insgesamt siehe Erler 2007, 22–26; grundsätzliche Erwägungen gegen die Stilanalyse bei Nails 1992, 314–327. In der Tat gewährt auch die Methode der stilistischen Analyse keine veritable Sicherheit. Gerade philosophische Zusammenhänge lassen sich, wie die Mühle des Herrn Leibniz lehrt (Les Principes de la philosophie ou la Monadologie, § 17), schwer in Daten auflösen. Die stilistischen und insbesondere rollensprachlichen Fähigkeiten des Schriftstellers Platon, der vermutlich schreiben konnte, wie er gerade wollte, vergrößern diese Unsicherheit noch, so daß in der stilanalytischen Begründung biographischer Einordnungen stets die Gefahr positivistischer Beschränkung liegt muss.

[15] so häufig vertreten seit Cornford 1935.

[16] Dabei muss (obwohl es sich fast von selbst versteht) aus Gründen des Verständnisses erwähnt werden, dass die Überlegungen dieser Arbeit, sofern sie nicht formale, methodische oder andere genrebedingte Aufgaben erfüllen, allein der Deutung des zu untersuchenden Textes dienen. Es ist nicht die Aufgabe einer Interpretation, Werturteile abzugeben oder das Weltbild des Interpreten in den Mittelpunkt zu rücken. Sie hat das im Text explizit Geäußerte mit den dadurch beförderten Implikationen, die sie erarbeiten muss, in einen Zusammenhang sinnvoller Darstellung zu bringen. Sie hat zudem auch Überlegungen anzustellen, die auxiliaren Charakter besitzen, also Lücken füllen sollen, die selbst der luzideste Text und selbst bei größter Akribie des Exegeten noch lassen muss. Mindestens einer dieser drei Arten – explizit, implizit, auxiliar – sollte jede deutende Äußerung dieser Arbeit zuzuordnen sein, und einige wenige Freiheiten ausgenommen tun sie es auch.

[17] Bei der Forschungsliteratur war eine Auswahl zu treffen. Auch wenn die Digression von vielen Interpreten als Nebensache betrachtet wurde, hat sie nicht nur in der Antike, sondern auch in der Neuzeit ausgiebige Behandlung erfahren, die vollständig zu dokumentieren Zweck einer eigenständigen Arbeit sein müßte. Bibliographische Übersichten zur »Theaitet«-Forschung finden sich z.B. bei Gardeya 2002, 35–57; Sedley 2004, 183–189; Becker 2007, 421–429 und Seeck 2010, 161–164. Für einen Überblick speziell zur Digression siehe Stern 2002, 288f.

[18] Verblüffend in diesem Zusammenhang, daß Schleiermacher die Digression im »Theaitet« als »bald an den Anfang gestellt« (Schleiermacher 1818, 180) sieht.

[19] Zur Struktur des »Theaitet« siehe Heitsch 1988, 19–31; ferner die Gliederung bei Becker 2007, 9–11.

[20] Außer durch den »Theaitet« selbst (siehe Anm. 22) ist der Homo-mensura-Satz vor allem überliefert durch Sextus Empiricus, Πρὸς μαθηματικούς VII (DK 80 B1).

[21] Φησὶ γάρ που πάντων χρημάτων μέτρον ἄνθρωπον εἶναι, τῶν μὲν ὄντων ὡς ἔστι, τῶν δὲ μὴ ὄντων ὡς οὐκ ἔστιν (152a). Im näheren Umfeld der Digression: μέτρον γὰρ ἕκαστον ἡμῶν εἶναι τῶν τε ὄντων καὶ μή (166d).

[22] Die Frage, inwieweit Sokrates’ Mittel, den Satz des Protagoras zu widerlegen, selbst eristischen Charakter besitzen, ist unterschiedlich beantwortet worden. Zuletzt hat Seeck einen Kommentar vorgelegt, in dem er den gesamten »Theaitet« als in seiner Beweisführung unzulänglich darstellt und einen regelrechten Gegensatz zwischen dem Autor Platon und seiner redenden Figur Sokrates behauptet. Eine Lesart, die den Aussagen, die das Werk selbst trifft, so sehr entgegensteht, ist natürlich immer nur mit großer Mühe zu halten. Auch wird man fragen müssen, ob nicht in den Homo-mensura-Satz zu viel hineinlegt werde, wenn man ihn als eine Art Protoform des erst von Hegel (in der Einleitung seiner »Phänomenologie« formulierten) Erkenntnisprogramms auffaßt, wie Seeck es de facto tut, indem er den Satz als bewußte Verarbeitung einer »Subjekt-Objekt-Beziehung« deutet (Seeck 2010, 8). Tatsächlich läßt der Homo-mensura-Satz sich auf zwei Weisen verstehen: im (hegelschen) Sinne einer Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, indem Maß als Maßstab verstanden und dieser Maßstab erst durch das Wissen selbst hervorgebracht werden kann, was die freiere Lesart ist, oder strenger, im Sinne jenes absoluten Relativismus, der die Möglichkeit eines besseren oder schlechteren Wissens leugnet und jede Art der Erkenntnis im Begriff des Subjektiven nivelliert. Platon versteht den Satz dezidiert im zweiten Sinn, und über die Frage, ob er Protagoras damit unrecht getan hat, herrscht unter den Kommentatoren keine Einigkeit. Auf der einen Seite läßt sich nicht ignorieren, daß Sokrates im »Theiatet« die Unterschiede im Wissen, z.B. zwischen Fachleuten und Laien, als Einwand gegen die Protagoreische These ins Feld führt, daß er ferner in der von ihm unternommenen Verteidigung des Protagoras den Unterschied zwischen verschiedenen Wissen praktisch, im Lichte der Nützlichkeit nämlich, und gerade nicht theoretisch begründet (166df.) und daß schließlich auch der logische Widerspruch, daß, wenn jede Meinung wahr ist, auch einander notwendig ausschließende Meinungen wahr sein müßten (171af.), durchaus ernstgenommen werden muß. Letzteres Argument taucht auch bei Aristoteles auf (1012b15ff.), und es scheint dies das generelle Verständnis des Homo-mensura-Satzes in der Antike gewesen zu sein (vgl. Martens 1981, 232, Anm. 41; Becker 2007, 404f.; zur modernen Forschungsgeschichte siehe Huss 1996). Zum anderen besteht die Möglichkeit, daß Protagoras seinen Satz anders verstanden hat als Platon im »Theaitet«, wofür es ebenso wenig Belege gibt wie für das Gegenteil. Nicht nur deswegen scheint mir die Frage interessanter, was aus dem Satz selbst folgt. Indem der Mensch zum alleinigen Maß der Dinge gemacht wird, ist die Möglichkeit einer Subjekt-Objekt-Beziehung getilgt, denn es ist in der Tat nicht möglich, zwischen einem besseren und schlechteren Wissen zu unterscheiden, wenn das Objekt als Bezugspunkt ausgeschlossen ist. Alles Wissen vollzieht sich im Subjekt, hat sein Maß aber am Objekt, da es ja mehr sein soll als nur bloßes Meinen. Es ist das Objekt, dem das Wissen gerecht werden muss, nicht das Meinen. Daß aber zwischen Wissen und Meinen kein Unterschied sei, ist ziemlich genau der Sinn der ersten Wissensdefinition im »Theaitet«, und selbst wenn Protagoras – was wir, wie gesagt, nicht wissen – seinen Satz anders verstanden haben sollte, als ihn Platon auffaßte, dann ließe sich immer noch sagen, daß Platon Protagoras besser verstanden hat als Protogras selbst.

[23] Es lassen sich drei Versuche der Widerlegung des Homo-mensura-Satzes unterscheiden: 161a–163a, 163b–164e, 168c–184a. Dem zweiten Versuch folgt eine Verteidigungsrede (165a–168c), die Sokrates im Namen von Protagoras unternimmt und die den dritten Widerlegungsversuch indirekt vorbereitet. Dieser wird durch die Digression (172c–177c) unterbrochen und nach ihrem Abschluß fortgesetzt.

[24] καὶ ὅσοι γε δὴ μὴ παντάπασι τὸν Πρωταγόρου λόγον λέγουσιν, ὧδέ πως τὴν σοφίαν ἄγουσι (172b7f.).

[25] Daß hinter dem kaum vermittelten Auftreten der Digression eine Absicht stecken könnte, ist gelegentlich vermutet worden. So etwa bei Friedländer, demzufolge die Digression paradox wirken und dadurch »die Frage nach ihrem Sinn rege halten« soll (Friedländer 1930, 152). Anders Wilamowitz: »Das kann Platon nicht beabsichtigt haben« (Wilamowitz 1919a, 414).

[26] Zur Spiegelkonstruktion siehe Abschnitt 2.1 dieser Arbeit. Vielleicht aber hat das Understatement des Sokrates an dieser Stelle auch, ähnlich wie bei der Eröffnung der Digression, rezeptionsstrategische Gründe. Jeder erwartet – und bei Platon ohnehin – nach der Schelte der Rhetoren einen Lobgesang auf die Philosophen. Der wird auch geliefert, aber zunächst aus der Perspektive der ersten Lebensweise, in der das Verhalten des Philosophen wie blanke Unfähigkeit wirken muß. Der weitere Verlauf des Vortrags zeigt dann, daß Sokrates ganz und gar nicht zu einem Einerseits-Andererseits geneigt ist, sondern die Digression insgesamt ganz aus der Perspektive des Philosophen gedacht ist.

[27] In Spiegelkonstruktion befinden sich auch die beiden Leitmotive Lächerlichkeit und Flucht, die sich durch die gesamte Digression ziehen und auf beide Lebensweisen angewendet werden.

[28] EN X 1077a12ff.

[29] Erstere wird im »Phaidros« vorgenommen, letztere vor allem im »Gorgias«. Zum Rhetorik-Begriff bei Platon siehe Niehues-Pröbsting 1987, passim; Meyer 2004, 201–235; Janka 2007, 238–241; Erler 2007, 498–506.

[30] Was Sokrates im Bild des ablaufenden Wassers veranschaulicht. Die Wasseruhr gehörte zum Prozeßablauf im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts. Sie definierte die Zeit, in der die Gerichtsrede zu halten war (vgl. Bleicken 1995, 255).

[31] ὑπογραφὴν παραναγιγνωσκομένην ὧν ἐκτὸς οὐ ρητέον (172e4); bei Duke 1995 ist der Zusatz ἣν ἀντωμοσίαν καλοῦσιν athetiert. Gemeint ist die Kollation zwischen eingereichter und vorgetragener Rede. Durch die Antomosie waren der Kläger an die Klageschrift und der Beklagte an die Einrede per Eid gebunden und durften nicht davon abweichen (vgl. Becker 2007, 408; Martens 1981, 232 Anm. 45).

[32] vgl. Bleicken 1995, 241.

[33] Daß die Rhetoren bereits dadurch, daß sie ihrer Tätigkeit nachgehen, Sonderinteressen verfolgen, wird in der Forschung nicht in Frage gestellt. Eine Ausnahme ist Roloff, der, gemäß seinem Ansatz, Ironie im »Theaitet« nachzuweisen, auch die Digression gegen den Strich liest und in betreff der Passage 172d–173b argumentiert, daß »die angeblich spezifische Mißbildung des Redners« (Roloff 1975, 150) nicht glaubwürdig sei, da die Redner nicht in eigener Sache sprechen, sondern die Sache des Angeklagten vertreten. Dieses Argument wird man kaum zwingend nennen können. Die Sache des Angeklagten wird automatisch zur Sache des Redners, indem dieser Geld für dessen Verteidigung nimmt. Zudem scheint die Käuflichkeit der rhetorischen Dienste jene seelische Schiefheit sogar noch zu verstärken, da ja der Rhetor nicht nur stets subjektiv ist, sondern mit jedem seiner Klienten aufs neue.

[34] Treffend schreibt Barker, die Rhetoren, wie Platon sie in der Digression präsentiert, sind “kings of their own dung-heaps” (Barker 1976, 459). Ihre Macht besteht darin, die Zwänge, denen sie sich unterwerfen, auszunutzen, die Verfahrensregeln anwenden zu können und insbesondere darin, sie nicht zu überschreiten. Sie wähnen sich vermöge dieses Könnens zugleich fähig, Politiker in der Staatsführung und die Polisbewohner in der Lebensführung zu beraten, wovon auch im »Theaitet« einige Spuren zu finden sind (167c, 172a). In diesem Glauben und in dem Anspruch, sich in die Philosophie zu mischen (Pol 500b u.a.), liegt ihre Anmaßung.

[35] EN II 1103a14ff.

[36] ὥστ᾿ ἐξ ἁπάντων τούτων ἔντονοι καὶ δριμεῖς γίγνονται […], σμικροὶ δὲ καὶ οὐκ ὀρθοὶ τὰς ψυχάς (173a1–3).

[37] καὶ διὰ μακρῶν ἢ βραχέων μέλει οὐδὲν λέγειν, ἂν μόνον τύχωσι τοῦ ὄντος (172d8f.) – Auch in dieser emphatischen Handhabung des Wahrheitsbegriffs gibt sich übrigens die äußerste Gegnerschaft zum Protagoreischen Subjektivismus zu erkennen.

[38] Anders Niehues-Pröbsting, der aus seiner These, daß »auch die philosophische Lebensweise ihre eigene Art von Selbstreflexion« besitze, die »letztlich dem Eigeninteresse dient«, ableitet, Platons Philosophie sei kein »theoretischer Objektivismus« (Niehues-Pröbsting 1982, 61). Zumindest der letzte Gedanke kann jedoch kaum bei Platon vermutet werden, wenn man den Platonismus insgesamt ins Auge faßt. Es genügte allerdings, sich Platons Argumente gegen den Homo-mensura-Satz im »Theaitet« anzusehen. Was dort unternommen wird, ist, auf den Punkt gebracht, die Rettung des Objektivismus gegen einen Erkenntnisbegriff, der die Erkennbarkeit von Verhältnissen jenseits des Subjektiven kategorisch ausschließt.

[39] Wie gesagt: Für die erste Lesart spricht Platons Ablehnung des Relativismus, derzufolge an das gesellschaftliche Individuum der Auftrag ergeht, einen überparteilichen Standpunkt einzunehmen. Für die zweite Lesart die Akzeptanz der antiken Tugendethik, derzufolge ein Handeln aus einer gebildeten Haltung heraus ethisch mehr wert ist als eine, zu der das Individuum sich zwingen muß.

[40] So spricht Sokrates in der Digression denn auch davon, daß man die Freiheit in philosophischen Gesprächen nicht zu stark gebrauchen sollte (173b).

[41] ὅτιπερ πρὸς γένεσιν οὐσία, τοῦτο πρὸς πίστιν ἀλήθεια (Tim 29c); siehe auch Pol 476ef., Phd 78c–79d. Man sieht aus der Verbindung von Sinneswelt und Bewegung zugleich den tieferen Zusammenhang, aus dem heraus Platon im »Theaitet« die Erörterung des Homo-mensura-Satzes mit der Erörterung der Flux-Theorie des Herakleitos verknüpft, dem im übrigen das zweite Prinzip seiner ungeschrieben Lehre entspricht.

[42] Wodurch denn auch eine weitere Verflechtung der Digression mit dem Fortgang des »Theaitet« deutlich wird. Der Homo-mensura-Satz, der das Wissen rigoros der Wahrnehmung unterwirft, vollzieht auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie nichts anderes als die Rhetorik im Bereich des praktischen Lebens (vgl. Niehues-Pröbsting 1982, 57).

[43] καὶ πᾶσαν πάντῃ φύσιν ἐρευνωμένη τῶν ὄντων ἑκάστου ὅλου, εἰς τῶν ἐγγὺς οὐδὲν αὑτὴν συγκαθιεῖσα (173e6-174a2). Es sei auch an den Anfang des »Theaitet« erinnert, wo deutlich herausgestellt wird, daß das Wahre das Allgemeine sei (146d–e).

[44] ἡ δὲ διάνοια ταῦτα πάντα ἡγησαμένη σμικρὰ καὶ οὐδὲν, ἀντιμάσασα πανταχῇ πέτεται κατὰ Πίνδαρον »τά τε γᾶς ὑπένερθε« καὶ τὰ ἐπίπεδα γεωμετροῦσα, »οὐρανοῦ θ᾿ ὕπερ« ἀστρονομοῦσα (173e3–6). vgl. Fragment 292, in: Snell 1953, 293; dort: τᾶ<ς> τε γᾶς. Diese von Platon zitierte Stelle ist anderweitig als durch den »Theaitet« nicht überliefert.

[45] So ausgewiesen in den Textausgaben Burnet 1900, Diès 1924, Duke 1995. Entsprechend auch bei Snell 1953.

[46] Sedley 2004, 69. Für Sedley ist der Sokrates des »Theaitet« die Hebamme der Platonischen Metaphysik, für die er die Voraussetzungen schafft, der gegenüber er aber, da sie erst von Platon entwickelt werden wird, zurückbleiben muß. Diese insgesamt überzeugende Perspektive (und vielleicht intelligenteste Deutung des »Theaitet« insgesamt) führt zu zwei Lesarten: einer sokratischen, die den Text vom Anfang her deutet, Sokrates begleitend und so weit gehend wie der selbst, und einer platonischen, die den »Theaitet« vom Ende her denkt und im Früheren das Spätere entdeckt. Sokrates wurde von Platon demnach modelliert als Doppelfigur, die zum einen, auf der historischen Ebene, als in ihrer Besonderheit authentische, eigenständige Gestalt die Probleme durchdenkt, zum anderen aber gestisch ins Spiel gebracht wird von einem mehr wissenden Verfasser, der Sokrates’ Antworten und Fragen so einrichtet, daß sie dieses Mehrwissen bereits andeuten.

[47] ὡς τὰ μὲν ἐν οὐρανῷ προθυμοῖτο εἰδέναι, τὰ δ᾿ ἔμπροσθεν αὐτοῦ καὶ παρὰ πόδας λανθάνοι αὐτόν (174a6–8).

[48] Szlezák weist auf die »dreifache Abwertung« der Magd hin: »sie ist Frau, sie ist Sklavin, sie ist Barbarin« (Szlezák 2004, 122f.). Bemerkenswert vor allem sind die Beobachtungen von Niehues-Pröbsting: Er achtet auf die Attribute der Magd, sowie auf den Begriff der Magd selbst. Darin, daß sie thrakisch ist, sieht er eine Anspielung auf den aus Abdera stammenden Protagoras (Niehues-Pröbsting 1982, 56, Anm. 14). Daß sie eine Magd ist, sei als Anspielung auf die Unfreiheit der Rhetorik zu verstehen, und daß sie »witzig« und »reizend« ist, sei ebenfalls auf das rhetorische Treiben zu beziehen (ebd., 55f.) – Tatsächlich wird die thrakische Magd als tauglich und witzig (ἐμμελὴς καὶ χαρίεσσα, 174a5f.) bezeichnet, und tatsächlich hieß es nur eine Stephanusseite zuvor über die Rhetoren, sie seien stark und gewitzt (ἔντονοι καὶ δριμεῖς, 173a1).

[49] Es ist daher kein Paradoxon, wenn Sokrates anfügt, der Philosoph wisse genau, was die Natur des Menschen ist, während er doch vom einzelnen Menschen nichts zu sagen weiß (174b, vgl. auch Pol 500bf). – Die Thales-Anekdote besitzt zugleich ein Potential über ihre Entstehungszeit hinaus. Nach unseren Erfahrungen aus der modernen Zeit scheint sie wie gemacht, das Verhältnis zwischen spekulativer Philosophie und Einzelwissenschaften zu beschreiben; ein Verhältnis aber, das in der Antike so noch gar nicht bestimmbar ist, weil ein solches frühestens mit Aristoteles und seiner Bestimmung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen eine erste Andeutung findet. Hier bei Sokrates steht die Anekdote durchaus für das Verhältnis von Wissenschafts- und Alltagsdenken überhaupt und ist entsprechend zu verstehen.

[50] So scheint mir auch Rachel Rues Ansatz nicht überzeugend, demzufolge Sokrates mit der Digression den Versuch einer Vermittlung zwischen praktischer und theoretischer Lebensweise verfolge. Zu den Prämissen, mit denen Rue arbeitet, um ihre Lesart zu stärken, gehört die Annahme, daß der evidente Unterschied zwischen dem Philosophen, den Sokrates beschreibt, und dem, den er selbst verkörpert, nur den Schluß zulasse, daß es sich bei der Beschreibung um eine Karikatur handeln müsse (Rue 1993, 72). Aus dieser Deutungsabsicht folgt dann naturgemäß, daß die Autorin alles nach 175bff. Gesagte, mit dem Sokrates ja dezidiert für die philosophische Lebensweise Partei ergreift, abwerten muß (ebd., 89f.). Auch mit dem hier behandelten Verhältnis von Allgemeinheit und Besonderheit befaßt sie sich. Die einseitige Konzentration aufs Ganze schade dem Philosophen, schreibt sie, bei der Erlangung des Wissens, das er sucht (ebd., 88). Es ist eben gezeigt worden, daß die Digression ein differenzierteres Bild der Wissensbildung zeichnet, und es bleibt zu bemerken, daß nicht nur eine Karikatur, sondern auch ein Ideal sich von der Wirklichkeit unterscheidet. Sokrates beschreibt die Eigenschaften, die ein Philosoph haben muß, um zu großen Ergebnissen zu kommen, denn natürlich darf sich der Philosoph, der das Ganze wahrnimmt, nicht im Einzelnen verlieren. Er muß sich der Parteilichkeiten des gemeinen Lebens enthalten, die ihn nach unten ziehen und ihm ihre beschränkten Perspektiven aufzwingen. Er kennt nur eine Partei, die der Vernunft. Daß nun ausgerechnet Platon, dem spekulativsten aller Philosophen, der den Idealismus so weit getrieben hat, daß er im Modell der Idee das wesensmäßige Sein in ein selbständiges Wesen verwandelt hat, die Aussage untergeschoben wird, das wahre Philosophieren bestehe darin, mit den konkreten Erscheinungen Kontakt zu halten, anstatt sich von ihnen zu lösen, ist eine Position, die weder mit Blick auf die Digression noch auf den Platonismus überhaupt zu halten ist. Rue bemerkt das übrigens selbst und bindet, als sei darin nicht eben ihre gesamte Interpretation in Frage gestellt, den Gedanken in ihr abschließendes Urteil ein: Der Philosoph der Digression “presents a genuine tendency in philosophy—especially Platonic philosophy—to look to essences and eternal truth, to flee distraction by the senses and the accidental features of particular things and events” (ebd., 91). Aber: “the philosopher fails to grasp the wholes because he misses all oft the particular”. Wo dieser Gedanke in der Digression zu finden sei, erfahren wir von Rue nicht.

[51] Gleichwohl darf man hierbei auch an das szenische Sokrates-Bild in den »Wolken« des Aristophanes denken (Νεφέλαι 223ff.).

[52] vgl. Phdr 264e–266c; Synagoge: εἰς μίαν τε ἰδέαν, συνορῶντα ἄγειν τὰ πολλαχῇ διεσπαρμένα (Phdr 265d); Dihairesis: τὸ πάλιν κατ᾿ εἴδη δύνασθαι διατέμνειν κατ᾿ ἄρθρα ᾖ πέφυκεν (Phdr 265e); Sokrates schätzt beide Weisen: τούτων δὴ ἔγωγε αὐτός τε ἐραστής, ὦ Φαῖδε, τῶν διαιρέσεων καὶ συναγωγῶν, ἵνα οἷός τε ὦ λέγειν τε καὶ φρονεῖν (Phdr 266b).

[53] In einem Punkt ist die im »Phaidros« dargestellte Theorie den Aussagen der Digression sogar konträr entgegengesetzt. Während es in der Digression gerade der Umstand mangelnden Wissens um die wahren Verhältnisse ist, der die Verdorbenheit der Rhetoren ausmacht, stellt Sokrates im »Phaidros« die Behauptung auf, daß auch derjenige, der andere täuschen will, die Wahrheit kennen müsse (Phdr 262a–c).

[54] Der Gottesbegriff steht im Singular, was man aber nicht als Zeichen eines Monotheismus deuten muß, sondern auch als Gattungsbezeichnung verstehen kann. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob Platon, der ja gleichfalls die Mythen schon bewußt als Metaphern einsetzt, noch einen veritablen Polytheismus pflegte (Sedley 2004, 83f.). Daher wäre θεός hier am günstigsten mit »das Göttliche« zu übersetzen, was aber zum einen aufgrund der Sperrigkeit dieser Formel, zum anderen, um das Personelle zu erhalten, das im griechischen θεός wohl dennoch immer ein wenig mitklingt, nicht konsequent umgesetzt werden soll.

[55] Der Umstand, daß die Ideen in diesem Dialog nicht vorkommen, hat die Forschung ausgiebig beschäftigt (vgl. Sedley 2004, 4–6; Chappell 2004, 127f.; Becker 2007, 394–400).

[56] ὑπεναντίον γάρ τι τῷ ἀγαθῷ ἀεὶ εἶναι ἀνάγκη (176a6f.).

[57] so etwa Schleiermacher 1818, 253; so auch im Englischen bei Cornford 1933, 87 oder McDowell 1973, 53 mit “evil” wiedergeben, obwohl “inferior” oder “bad” vielleicht treffendere Übersetzungen wären.

[58] Zum Begriff der στέρησις siehe Aristoteles Met. V 1022b22f. – Das sogenannte Begriffslexikon der »Metaphysik« faßt in erster Linie die Begriffe nach ihrem üblichen Gebrauch zusammen. Man kann, solange es sinnvoll bleibt, die von Aristoteles dort definierten Begriffe auch bei früheren Denkern vermuten. Was die στέρησις betrifft, so ist sie bereits durch die in der gesamten griechisch-antiken Ethik üblichen Grundlegung der ἀρετή impliziert, denn das Taugliche kann ohne das Untaugliche nicht gedacht werden.

[59] τὰ κακὰ δυνατόν […] οὔτ᾿ ἐν θεοῖς αὐτὰ ἱδρῦσθαι, τὴν δὲ θνητὴν φύσιν καὶ τόνδε τὸν τόπον περιπολεῖ ἐξ ἀνάγκης (176a5–8).

[60] Ausgenommen den Fetisch der Naturreligionen, der physikalische Vorgänge (z.B. Gewitter) in einer abstrakten Form (z.B. Zeus) vergegenständlicht und von dem in der schriftlich bezeugten griechischen Kultur noch Spuren zu finden sind, ist die Vollkommenheit in allen historischen Formen der Religion der Inbegriff des Göttlichen. Das gilt nicht nur für den pantheistischen und monotheistischen Gottes-Begriff, sondern im Grunde auch für den des Polytheismus. Die anthropomorphe Vielgötterei und ihr freies Treiben, wie es vor allem in der »Ilias« präsentiert ist, kann nicht verdecken, daß die Götter Funktionen besitzen, diese mit Macht ausüben und in ihrer Art und Weise diesen Funktionen rein entsprechen. Ares ist die Verkörperung der Kriegslust, Aphrodite der Liebe, Artemis der Keuschheit usf. Die Allmacht des Zeus, der eben nicht mehr die Verdinglichung des Gewitters ist, sondern den Blitz als Attribut zu sich nimmt, ist vollkommen. Es ist ferner eine Entwicklung zu beobachten von der »Odyssee« bis zu den Tragikern (Aischylos’ »Eumeniden«, Euripides’ »Hippolytos« z.B.), die das Menschliche immer weiter aus dem Götterbild herauslöst und diese bereits zu Sachwaltern übergeordneter moralischer Gebote macht. Aber sie sind diesen Geboten nicht unterworfen, denn diese drücken nur aus, was an den Göttern Beschaffenheit ist. Es bedarf daher vielleicht, um das Göttliche als Vollkommenes zu gewinnen, nicht erst der Entpersonalisierung des Gottesbegriffs, wie Sedley, Burnyeat 1997 folgend, meint (Sedley 2004, 83f.).

[61] διὸ καὶ πειρᾶσθαι χρὴ ἐνθένδε ἐκεῖσε φεύγειν ὅτι τάχιστα. φυγὴ δὲ ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν (176a8–b1). Ein ganz ähnlicher Gedanke findet sich in Pol 500cf.

[62] siehe Anm. 41.

[63] siehe Anm. 61.

[64] siehe hierzu die Deutung von Sedley: Der Gedanke der Flucht vor dem Irdischen “is applied primarily to our present” (Sedley 2004, 79) und hinsichtlich der beiden Lebensweisen: “its message is that both heaven and hell are the company you keep” (ebd., 80). Entsprechend bereits bei Barker über die Lebensweise der Rhetoren: “the perpetual possession of this character is its own penalty” und “a new and more sophisticated vision of Hell than Plato had hitherto produced” (Barker 1976, 461).

[65] Wenn A die Eigenschaft B hat, und C die Eigenschaft B annimmt, wird C A ähnlich. Man kann die Richtigkeit der Prämissen anzweifeln, nicht aber die Ableitung. Merkwürdigerweise tut Rachel Rue genau das, wenn sie zunächst über die Homoiosis-theo-Passage, die sich ihrer Lesart nicht fügt, schreibt: “There is something odd about this” (Rue 1993, 89), um dann die seltsame Behauptung aufzustellen: “To say that a godlike human must be just is not to say that the gods are just” (ebd., 90).

[66] Παραδειγμάτων, ὦ φίλε, ἐν τῷ ὄντι ἐστώτων, τοῦ μὲν θείου εὐδαιμονεστάτου, τοῦ δὲ ἀθέου ἀθλιωτάτου (176e3f.).

[67] vgl. Phdr 245c. Platon definiert die Seele als das sich selbst Bewegende. Bewegung – wie die Doxographie des Aristoteles in »De Anima« zeigt – ist vom Anbeginn des antiken Denkens das Merkmal des Beseelten. Körper, die bloß von außen bewegt werden, sind dagegen unbeseelt. Platons Bestimmung ließe sich anwenden auf den Gegensatz zwischen Philosophen und Rhetoren: Die Philosophen, indem sie innengeleitet handeln, folgen ihrer Seele. Die Rhetoren, da sie sich äußeren Zwängen unterwerfen, also bewegt werden, sind zumindest seelenarm oder kränklich darin. Seelenlos können sie vielleicht deswegen nicht sein, weil sie ja immerhin ihre eigenen Interessen verfolgen, obgleich auch dieser Umstand im Fall eines Redners, der seine Dienste für Geld einem Anderen anbietet, nicht mehr ganz gelten kann.

[68] Allein Hestia, als Göttin des heimischen Herdes, bleibt naturgemäß daheim (Phdr 246e–247a).

[69] Damit sind auch die Grenzen der Analogie zwischen Digression und Seelenmythos des »Phaidros« erinnert. Wenn schon generell gilt, daß jede Metapher ihre eigene Struktur besitzt, so ist hier im besonderen zu beachten, daß der Seelenmythos im »Phaidros« eine Jenseits-Situation beschreibt, während die Pointe der Digression, wie gezeigt wurde, gerade darin liegt, daß sie auf die Lebensführung im Diesseits bezogen ist.

[70] Daß mit dem Körper zugleich auch die einzige Möglichkeit gegeben ist, daß Bewegung stattfinde, wäre die andere Seite der Sache, die allerdings in Platons Denken, worin die Seele auch vom Körper gelöst existieren kann, ebenso die Idee vom Stoff, außer Betracht bleibt.

[71] siehe Anm. 55.

[72] Auf den sprachlichen Gebrauch weisen z.B. Burnyeat 1990, 37 und Chappell 2004, 127f. hin. Daß der Ausdruck Paradeigma in der Digression auftaucht, ist zwar richtig, aber in den zwei Paradeigmata (176e) stellt Platon gerade das Gute und das Schlechte einander gegenüber. Das Paradeigma, obgleich in anderen Werken Platons ein Synonym für Idee, kann so, wie es in der Digression verwendet wird, nicht dieselbe Funktion und Bedeutung besitzen, denn eine Idee des Schlechten oder schlechte Ideen gibt es im Platonischen System nicht.

[73] Mit dem Dualismus Seele-Körper kommt Platon das Verdienst zu, zunächst einmal das Wesen und die Erscheinung begrifflich scharf erfaßt zu haben. Allerdings ist diese Erfassung mittels des Dualismus so scharf, daß man das Wesen dieses Wesens wieder verliert: daß nämlich – wie Aristoteles später in seinem Ousia-Begriff bestimmen wird – das Wesen wesentlich an die Erscheinung gebunden ist, das Allgemeine als im Besonderen und nicht als sein Gegensatz aufgefaßt werden muß. Bei Platon wird das Allgemeine selbst in ein Besonderes verwandelt, indem ihm eine selbständige und sogar primäre Existenz zugeschrieben wird. In der Seelenlehre muß diese Tendenz dazu führen, das Körperliche als Verderbnis des Seelischen darzustellen.

[74] vgl. hierzu den Umriß der Ideentheorie im »Phaidon« (Phd 75b–80b). – Der Unterschied zwischen der reinen Ideenlehre und der theologischen Form, in der sie im »Theaitet« in Erscheinung tritt, kann natürlich nicht ignoriert werden. Barker merkt an, die angedeutete Metaphysik sei “no explicit reference to the Forms”, aber jedenfalls kompatibel mit den großen Dialogen der mittleren Periode (Barker 1976, 461). Natürlich stellt sich sogleich die Frage, warum der Autor die theologische Form der Darstellung gewählt hat. Sedleys Ansatz, diese Frage zu beantworten, indem er auf die Ähnlichkeit des Sokratischen Gottes mit der Platonischen Idee hinweist (Sedley 2004, 77), zugleich aber den Unterschied zwischen Sokrates und Platon zum tragenden Element seiner Lesart macht, ist vielversprechend. Sokrates habe den Weg für die Platonische Metaphysik nicht durch Antizipieren der Platonischen Idee geebnet, sondern durch seinen Glauben an die Absolutheit des Göttlichen, und indem er das tat, brach er mit dem moralischen Relativismus (ebd., 79). Es soll im letzten Abschnitt die Frage nach der theologischen Form noch einmal aufgegriffen werden.

[75] θεὸς οὐδαμῇ οὐδαμῶς ἄδικος, ἀλλ᾿ ὡς οἷόν τε δικαιότατος, καὶ οὐκ ἔστιν αὐτῷ ὁμοιότερον οὐδὲν ἢ ὃς ἂν ἡμῶν αὖ γένηται ὅτι δικαιότατος (176b8–c2).

[76] EN II 1103a14–18. – Aristoteles folgt im übrigen den Überlegungen Platons, der im zweiten Buch seiner »Nomoi« den Athener behaupten läßt, daß Tugend und Mangel zuerst in Gestalt von Lust und Unlust in der Seele des heranwachsenden Menschen erscheinen (Nom 653aff.). Was bei Aristoteles gegenüber Platon hinzutritt, ist die Bestimmung, daß die ethische Tugend, um im vollen Umfang als Tugend gelten zu können, keiner Hinzunahme von Vernunft bedarf, sondern sich, ganz praktisch, allein durch Gewohnheit ausbildet und darin auch ihre volle Gestalt erreicht.

[77] bei Schleiermacher gewöhnlich: bürgerliche Tugenden, was die Sache ebenso trifft. Im Politischen wie im Bürgerlichen ist der Bezug zur Polis und ihrem Verkehr enthalten, um den es Platon hierbei geht.

[78] vgl. Hardy 2001, 103. Dort allerdings ohne expliziten Bezug auf die politischen Tugenden.

[79] vgl. Sedley 2004, 81–86. Sedley verweist auf den Gebrauch der Kardinaltugenden in der »Politeia«, deren Zahl sich auf vier vermindert, indem Gerechtigkeit und Ehrfurcht in eins fallen, und ferner auf den »Protagoras«, worin festgehalten wird, daß Gerechtigkeit und Ehrfurcht de facto dasselbe sind (Prot 330b–332a).

[80] Sedleys Interpretation stützt sich auf Vlastos 1991, dem er darin folgt, daß Sokrates’ Gottesfurcht nicht in der Teilnahme an partikularen Formen des praktizierten Glaubens besteht: “The way to serve god is […] not by sacrifice and other rituals, but simply by leading a morally good life” (Sedley 2004, 82). So wie der Gerechte die Institutionen des Rechts meidet, heißt es vom Gläubigen: “becoming pious must start with a similar philosophical detachment” (ebd., 83), besteht also die wahre Praxis der Religion darin, die Tempel, Priester und Feste zu meiden. Sedley bringt indirekt den Begriff der politischen Tugend ins Spiel, wenn er die institutionell ausgeübte Religion “demotic piety” nennt und von den institutionalisierten Formen des Glaubens als “relativization of the pious to local perspectives” spricht (ebd.). Dergestalt erscheint Sokrates als ein erster Vorläufer Spinozas, dessen wahrer Gottesdienst das philosophische Studium der Welt ist und der alle gesellschaftlichen Formen des Glaubens als von partikularen Ursachen kontaminiert ablehnt.

[81] so etwa Rue: “The philosopher […] seeks to know the ideals which would make him wise (justice, human happiness, etc.), but has absolutely no ability to effect any change in the world around him” (Rue 1993, 91).

[82] Becker wendet ein, der Begriff der Freiheit sei vom »nicht-philosophischen Standpunkt« aus schwer nachzuvollziehen, denn es handle sich um eine Freiheit, »die den Philosophen an den Rand der Gesellschaft« drängt (Becker 2007, 299). – Eben darin aber besteht die Freiheit des Philosophen, daß er auf die gesellschaftliche Anerkennung nichts geben muß. Er ist autonom, fast autark. Was er für gut, wahr oder schön hält, entnimmt er seinem Innern, und dieses Innere ist im Platonischen Ideal der Erkenntnisarbeit nicht die Resonanz seines gesellschaftlichen Umfelds, kein zufälliger Affekt, kein Resultat eines äußerlichen Zwangs oder nachvollzogene Mode, kein Kind des Zeitgeistes, sondern Ergebnis der Zusammenschau aller großen Fragen. Die so gewonnenen Einsichten, Affekte und Haltungen stehen für Platon unvermeidlich denjenigen der Menge entgegen, weil die meisten Menschen in dem, was sie glauben, über Kolportage, politischen Meinungszwang etc. nicht hinausgehen (mit ihren Augen an den Schatten haften bleiben). Nur die wenigsten können ganz unvermittelt, also ohne daß die Gesellschaft ihnen dazwischen kommt, mit der Welt in Austausch treten. Diese wenigen sind die, die in der Digression Philosophen genannt werden, und ihre Freiheit ist folglich nicht politisch, sondern philosophisch. Gesellschaftlichen Mächten sind sie ausgesetzt wie jeder andere auch, aber sie nehmen sich die Freiheit, diese Not nicht zur Tugend zu machen. Deswegen ist der Einwand gegen ihren Freiheitsbegriff, daß man von einer »Randposition aus kaum Einfluß nehmen« kann (ebd.), nur dann möglich, wenn man einen politischen – das heißt: einen auf die Polis bezogenen – Freiheitsbegriff an die Stelle eines individuellen setzt.

[83] Zumindest bis zur Einführung der Praxis als Zentralkategorie durch Karl Marx und der ihm folgenden Philosophie der Praxis. Für die gesamte Antike bleibt das Verständnis der Wahrheit als adaequatio intellectus et rei verbindlich.

[84] vgl. z.B. Pol 500d; »Gorgias« passim.

[85] Es ist richtig, daß die Digression hierin – allen sonstigen Parallelen zum Trotz – der »Politeia« entgegensteht. Allerdings ließe sich auch darüber nachdenken, ob nicht in Platons Philosophenherrschaft eine Vermittlung stattfindet: Wenn das Politische als solches schlecht ist und das Philosophische gut, ermöglicht sich – in der Maßgabe platonischen Denkens – die Annahme, daß von allen Politiken diejenige, die von Philosophen betrieben wird, noch die beste sein muß.

[86] EN X 1177aff.

[87] vgl. Burnyeats Urteil, daß es die Aufgabe der Digression sei zu zeigen, was zu wissen wert oder wichtig ist (Burnyeat 1990, 36; ähnlich Hardy 2001, 97). So heißt es denn auch in der Homoiosis-theo-Passage, daß das Wissen um jene göttlichen Zusammenhänge wahre Weisheit und Tugend sei, und die Unwissenheit darüber Dummheit und Schlechtigkeit (176b).

[88] Die Lächerlichkeit des Philosophen bei Gericht besteht darin, daß er keine kompromittierenden Dinge über seinen Gegner zu sagen weiß. Es dürfte schwerfallen, hierin einen Vorwurf zu sehen, den Platon als wesentlich betrachtet hat. Man darf auch an die Verteidigungsrede des Sokrates in der »Apologie« denken, die durchaus wesentlich, im juristischen Sinne allerdings unzweckmäßig war.

[89] Reichtum scheint dem Philosophen gleichviel als Armut, weil er das Ganze zu schauen gewohnt ist. Auch viel ist weniger als alles. Ferner wäre hier als Hintergrund die bereits erwähnte Bestimmung des Reichtums als indifferent in Bezug auf das Gute zu bedenken (Euth 281b–e; Men 87e–88e).

[90] Von der politischen Macht gilt dasselbe wie vom Reichtum, was auch im gleichfalls bereits behandelten Passus zum Reichtum des Königs und dem Königtum anklingt (175c). Das Hirtenbeispiel (174d) zeigt, daß für den Philosophen der Unterschied zwischen König und Untertan bloß graduell ist. Man könnte einwenden, daß mit der Position des Monarchen zumindest die Möglichkeit einer absoluten Stellung und also einer Überwindung der partikularen Perspektive gegeben ist, aber genau das leugnet das Hirtenbeispiel. Dem Autor scheint hier der Gedanke wichtiger gewesen zu sein, daß auch in einer absoluten politischen Macht eine Begrenzung liegt; einerseits nämlich in Bezug auf die Philosophie, deren ganzheitliche Perspektive sich dem politischen Zugriff entzieht, zum anderen durch die Grenzen des Staates. Die Pointe ist, daß die Macht der Könige an den Mauern ihrer Stadt endet und daß es außerhalb dieser Mauern eine Welt gibt, die objektiv ist (vgl. Barker 1976, 460). In dieser Welt ist der König ebenso hilflos wie der Rhetor, wenn er sein Revier verläßt, und die Poleis verhalten sich zueinander wie die einzelnen Polisbewohner innerhalb der Stadtmauern.

[91] Das Unverständnis des Philosophen für den Wert, der gemeinhin auf edle Herkunft gelegt wird, offenbart in Wahrheit die Belanglosigkeit des aristokratischen Dünkels und dessen Unfähigkeit, das Ganze zu sehen. Der Text bringt zwei Argumente gegen die Wertschätzung von Genealogien. Das eine Argument zielt auf die Relativität von Ahnenreihen: Wenn sich einer über 25 Vorfahren von Herakles, dem Sohn des Amphitryon, herleite, übersehe er, daß auch Amphitryon seine 25 Vorfahren hatte und also der wie jener nur ein Glied in einer langen Kette von Menschen ist, die große und kleine, arme und reiche, gute und schlechte Exemplare der Gattung verbindet. Abgesehen davon, daß in der Zuordnung des Herakles zu Amphitryon (und nicht etwa zu Zeus) ein deftiges Maß Religionskritik liegt, ist damit auch, so kann man vermuten, eine Referenz auf Herodot, den Vater des kulturellen Relativismus, gegeben, der von Hekataios’ Besuch in Ägypten und dessen einfältigem Umgang mit seiner Genealogie berichtet (Historien II 143). Das andere Argument zielt auf die Vielzahl der Vorfahren und darauf, daß die Auswahl irgendwelcher besonders vortrefflicher unter ihnen ganz willkürlich ist. Jeder Mensch hat zwei Eltern, und mit jeder Generation verdoppelt sich somit die Zahl der Ahnen. Wer seine Abstammung – um gleich beim Beispiel des Amphitryon zu bleiben – 25 Generationen zurückverfolgt, hat in dieser Vorzeit 225, also: 33.554.432 Vorfahren, die zu jener Zeit gelebt haben müssen und von denen Amphitryon nur einer war. Selbst wenn man außerdem im Sinne des Implex berücksichtigt, daß die effektive Zahl der Vorfahren weitaus geringer ist, da Erblinien sich aller Wahrscheinlichkeit nach oft überkreuzen, wird man einsehen, daß es nach 25 Generationen praktisch unmöglich ist, nicht mit Amphitryon verwandt zu sein, hierin also kaum eine Vortrefflichkeit liegen kann.

[92] Wichtige Hinweise hierzu bei Rue 1993, 78f. So weiß Sokrates z.B. sofort, wer Theaitetos’ Vater ist (144bf.), und sein häufiger Aufenthalt auf der Agora ist allgemein bekannt (Apol 17cf.). Die Differenz zwischen Sokrates und dem Philosophen der Digression scheint vom Autor allerdings nicht nur in Kauf genommen, sie wird geradezu herausgestellt. Bereits der erste von Sokrates genannte Charakterzug des Philosophen (173d) ist, daß dieser den Weg zur Agora nicht kenne, was, wenn ausgerechnet Sokrates es sagt, den Widerspruch – zumal dem damaligen Publikum – unmittelbar vor Augen treten läßt. Die Digression offenbart allerdings auch einige Parallelen zwischen Sokrates und dem von ihm beschriebenen Philosophen. Man kann an das Bild des in sich versunkenen Sokrates denken (Symp 175a). Oder an die persönliche Note der Digression, die mit Bezug zum Prozeß der »Apologie« gegeben ist. Roloff spricht sogar von einer »zureichenden Motivation«, die in dieser Situation liege (Roloff 1975, 147); bereits Friedländer hat auf den Zusammenhang hingewiesen (Friedländer 1930, 151 u. 153); ausführlich äußert sich Niehues-Pröbsting zur Bedeutung des dräuenden Prozesses für den Vortrag der Digression (Niehues-Pröbsting 1982, 46f. u. 61f.). Heitsch wiederum scheint keine Probleme zu haben, Sokrates umstandslos mit dem Bild des in praktischen Dingen unerfahrenen Philosophen in Einklang zu bringen (Heitsch 1988, 22f.).

[93] so etwa Rue 1993, 72.

[94] Erinnert sei hier noch einmal an Sedleys Interpretation, derzufolge Sokrates’ Mission als Hebamme gar erforderlich mache, daß Sokrates selbst die Philosophie im vollen Ausmaß nicht betreiben darf.

[95] λέγωμεν δή, ὡς ἔοικεν, ἐπεὶ σοί γε δοκεῖ, περὶ τῶν κορυφαίων (173c7f.).

[96] siehe 2.1.

[97] so z.B. bei Niehues-Pröbsting 1982, 60f.; Rue 1993, Benitez/Guimaraes 1993, 306f., 72ff.; Hardy 2001, 102. – Dagegen Barker 1976, 460 (“the one cannot generate the other”); Buddensiek 2001, 14f. (Anm. 14); Sedley 2004, 67f. – Einen ungewöhnlichen Weg beschreitet Meyer, der die Digression als Verteidigung der Philosophie gegen den Vorwurf sieht, sie tauge für das praktische Leben nicht (Meyer 2004, 234).

[98] καὶ ταῦτα πάντ᾿ οὐδ᾿ ὅτι οὐκ οἶδεν, οἶδεν (173d9–e1).

[99] ταῦτα πάντα ἡγησαμένη σμικρὰ καὶ οὐδέν (173e3f.).

[100] wie Hardy offenbar annimmt: »Daß diese Unkenntnis auf Sokrates nicht zutrifft, beweist die einfache Tatsache, daß er eben diese beiden gegensätzlichen Lebensweisen so genau zu beschreiben vermag« (Hardy 2001, 102). Um einen ganz plastischen Einwand zu bringen: Kein Mensch wird im Bios theoretikos geboren, und der Weg in dieses Leben wird unvermeidlich von Erfahrungen begleitet, die aus der Welt des Partikularen kommen. Thales fällt in den Brunnen, die Philosophen werden vor Gericht gezerrt und machen sich dort lächerlich etc. Genauso wie die Rhetoren können die Philosophen in die Lage kommen, mit dem anderen Leben konfrontiert zu werden. Die Frage ist, wie gut sie diese Kollision gedanklich verarbeiten. Der Philosoph vermag in seiner ganzheitlichen Perspektive nicht nur seine eigene Lebensweise zu begreifen, sondern gerade auch das gesamte Verhältnis, in dem diese mit anderen steht. Fragte man z.B. einen Gerichtsredner nach den verschiedenen Lebensentwürfen der Menschen, würde er antworten, daß alle Menschen so leben wie er: subjektiv und stets auf den eigenen Vorteil bedacht. Stellte man dem von Sokrates beschriebenen Philosophen dieselbe Frage, bekäme man als Antwort sehr wahrscheinlich eine, die dem Modell der Digression recht ähnlich wäre, denn seine Lebensweise beruht – da wie gesagt niemand im Bios theoretikos geboren wird – nicht auf einer naturgegebenen Neigung, der er nur nachgeben muß, sondern ist Resultat einer getroffenen Wahl.

[101] eine ähnliche Funktionszuweisung bei Dorter 1990, 354.

[102] zu Sedleys Interpretation des »Theaitet« siehe Anm. 46.

[103] ὁ δὴ θεὸς ἡμῖν πάντων χρημάτων μέτρον ἂν εἴη μάλιστα, καὶ πολὺ μᾶλλον ἤ πού τις, ὥς φασιν, ἄνθρωπος (Nom 716c).

[104] ἵνα μὴ καί, ὃ νυνδὴ ἐλέγομεν, λίαν πολὺ τῇ ἐλευθερίᾳ καὶ μεταλήψει τῶν λόγων καταχρώμεθα (173b5f.).

[105] καὶ διὰ μακρῶν ἢ βραχέων μέλει οὐδὲν λέγειν, ἂν μόνον τύχωσι τοῦ ὄντος (172d8f.).

[106] »Odyssee« VIII, 261–364. Zur Deutung dieses Liedes siehe Burkert 1960.

[107] Diesen Sachverhalt hat bereits, in blumigen Worten, Friedländer ausgedrückt: »Plötzlich reißen gleichsam die Wolken auseinander, und man tut einen Blick ins unbändig Helle. Dann schließen sie sich wieder und die Erörterung geht weiter, als wäre nichts gewesen« (Friedländer 1930, 156).

[108] siehe Anm. 103.

[109] siehe Anm. 41.

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