Mrz 312017
 

Ich weiß nicht, wer den Begriff des Postfaktischen aufgebracht hat und was sein genauer Hintergrund ist. Es scheint irgendwie darum zu gehen, dass unser Zeitabschnitt an einer besonderen Immunisierung des Bewusstseins gegen nachweisbare Tatsachen kenntlich sei. Ich finde das so abwegig nicht, obwohl es eingestanden abwegig ist. Natürlich stimmt, dass solche Immunisierung schon immer ein mehr als bloß häufiges Verhalten unterm Menschlichen war. Leute haben einmal Neigungen, und was da stört, als Logik oder Evidenz, musste von jeher über die Klinge. Niemand mag die Wahrheit. Und viele geben dieser Aversion allzu gerne nach.

Wo dagegen von einem postfaktischen Zeitalter die Rede und nicht einfach jegliches Zeitalter gemeint ist, muss was Besonderes begreifbar sein. Ich denke, das lässt sich herstellen. Unsere Zeit bringt die technischen Voraussetzungen dafür mit, dass jene Immunisierung kein individueller Vorgang mehr ist. Im Zeitalter vor der Vernetzung durch die modernen Formen der Kommunikation, als die Irren ihren Irrsinn ganz für sich hatten und wenig voneinander wussten, konnte der Irrsinn nur gesellschaftlich werden, indem er durch Korporationen, Standesbeziehungen, Mechanismen des Marktes oder den Staatsapparat hergestellt wurde. Diese Organe oder Beziehungen konnten sich jedoch nie vollends vom gesellschaftlichen Nexus abspalten und eine schroffe Gegenwelt aufbauen. Sie mussten in der wirklichen Welt verkehren und sich deren Gesetzen zumindest soweit unterwerfen, dass sie bestehen konnten. Damit hatten sie die Rationalität, selbst wenn sie sie bannen wollten, immer schon wieder etwas mit drin. Die Vernetzung des Web 2.0 gestattet, unmittelbar gesellschaftlich zu werden, dabei aber ganz virtuell zu bleiben, im Bereich des als Bewusstseinsform realisierten Bewusstseins. Im Gesprächsraum des www wird möglich, sich kollektiv gegen die Macht des sinnlichen Eindrucks, der Wahrscheinlichkeit und der rationalen Argumente zu stellen, doch gleichzeitig eine Art gesellschaftlichen Raum zu schaffen. Man hat ein Kollektiv, das glauben und sich durch seine einzelnen Mitglieder in diesem Glauben forcieren kann, aber auch einen Raum, in dem man sich von den Forderungen des wirklichen Raums (der realen Gesellschaft mit ihren Zwängen und Evidenzen) abgrenzen und gegen diese Forderung Manöver im virtuellen Raum vollführen kann, die den Anschein zeugen, man sei damit tatsächlich in der Welt. Die Pointe ist hier, dass man damit tatsächlich in der tatsächlichen Welt ist, auch wenn die tatsächliche Welt nicht in einem ist. Der virtuelle Raum des www ist nicht weniger gesellschaftlich als der wirkliche Raum der Gesellschaft, aber er darf, weil in ihm nur gewuselt und nicht gehandelt wird, allerlei, was im wirklichen Raum bei Strafe des Untergangs verhindert wäre.

Als die traurigen Gestalten, die heute im parallelen Bewusstsein lebten, noch keine Smartphones und Notebooks mit sich führten, wussten sie nichts voneinander. Jeder saß in seinem Sessel und führte ein Zwiegespräch mit seinem Fernseher. Dieser Austausch blieb semipermeabel, und am Ende gewann immer die Kiste, wie in dem Sketch von Loriot, in dem der Fernseher kaputt ist. Heute haben alle diese Ritter von der traurigen Gestalt Kenntnis über einander, wissen, dass es sie gibt, dass sie viele und also stark sind. Die Stärke, die sie aufgrund ihrer Anzahl fühlen, das Bewusstsein, nicht allein zu sein, verschafft ihnen die Gewissheit, daher auch im Recht zu sein. Sie können endlich glauben, ohne noch wissen zu müssen, dass sie glauben. Die schärfste Differenz zwischen Glauben und Evidenz wird mir dort möglich, wo andere meinen Glauben teilen. Nicht dass es das in früheren Epochen nicht gegeben hätte, doch die technische Einrichtung des www macht derartige Gruppenprozesse leichter und allgemeiner. Nicht einmal einer mächtigen Institution, keiner Staatsmacht, Partei oder materiellen Gewalt hinter der Bewegung bedarf es mehr. Die kollektive Psychose hat ein ideales Biotop und pflanzt sich wie von selbst fort.

Ihre Einrichtungen im Netz werden zu Schutzräumen gegen die Wahrheit, und zugleich okkupieren diejenigen, die sich darin nur dann nicht aufhalten, wenn sie mal eben zum Bäcker müssen, den Wahrheitsbegriff emphatisch. Alles, was sie in ihrem contrafaktischen und irrationalen Treiben verrichten und glauben, sehen sie als Ausdruck der Wahrheit an. Sie und niemand sonst besitzt diese Wahrheit, und sie wissen keinen Grund für ihr politisches Treiben anzugeben als diesen Besitz der Wahrheit, die sie in die Welt tragen und allgemein durchsetzen wollen.

Ein Irrer schließt seinen Irrsinn in sich ein. Zehn Irre kommen auf einen Raum. Zehntausende machen eine Convention für alternative Wahrheiten. Millionen schaffen eine Gegenöffentlichkeit mit Organen wie Breitbart, Russia today, pi-news, KenFM, compact oder den nachdenkseiten, wo die Lüge nicht bloß, wie im konventionellen Medium, punktuell (wenn nötig) eingesetzt wird und eine allgemeine Ideologie die Wirklichkeit auf eine bestimmte (selbstververständlich verzerrende) Weise interpretiert, sondern wo Lüge zur Struktur und Selbsttäuschung zur dauerhaften Übung wird.

Es ist eine besondere Pointe, dass gerade diese Organe der dauerhaften Lüge die Organe der bloß iterativen Lüge mit dem Ausdruck »Lügenpresse« versehen haben. Es ist beinahe schon banal darauf hinzuweisen, dass hier simple Projektion vorliegt. Und auch wenn in den Reaktionen der konventionellen Presse gegen den Vorwurf der Lüge viel gekränkter Standesdünkel steckt – denn Journalisten sehen sich im Selbstverständnis gern als der Wahrheit verpflichtet und nicht als das, was sie sind, Produzenten und Beschleuniger von Ideologien nämlich –, wird dieser Vorwurf hier von einer Gruppe erhoben, auf die er mehr als auf jede andere zutrifft.

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