Nov 212017
 

 

Branagh bleibt Branagh

Wer sich vergleicht, wird verglichen. Lumets »Mord im Orient-Expreß« (1974) ist aus zwei Gründen schwer zu schlagen. Er hat ein unüberbietbares und nicht erst durch den Weihrauch des zeitlichen Abstands großes Ensemble, und er verändert die Anlage der Figur Poirot nicht, die durch ihre Autorin vorgegeben ist. Branaghs »Mord im Orient-Express« (2017) scheitert daran, dass er besser sein will als Agatha Christie.

Besser nämlich, indem Hercule Poirot einen seelischen Tiefgang erhält, den Christie-Figuren nicht bloß nie haben, sondern der in Christie-Handlungen nachgerade stört. Poirot ist ein schrulliger Moppel, genial als Detektiv und gewiss mit einigen Neurosen, aber nicht jener Leidebär mit Verdacht auf Asperger, als den die Kulturindustrie im Grunde jedes Genie gern sehen will. Denn das Herausragende erträgt sich leichter, wenn es als Ergebnis charakterlicher Störung erscheint. So unterläuft man die schmerzhafte Einsicht, dass noch das freundlichste und umgänglichste Genie seiner Umwelt zum Ärgernis wird, weil es seine eigentliche Störung, mehr zu können als andere nämlich, nicht loswird. Entspannend an Agatha Christie ist nun, dass sie einen zu derlei Überlegungen gar nicht erst zwingt. Sie lässt den komischen, klugen Mann sich durch die Abteile deduzieren und eben anecken, wo er aneckt, ohne dass man den Eindruck erhält, er oder die anderen müssten endlich einmal ihr Leben ändern.

Bei Christie ist der Witz beiläufig, bei Branagh wird das Beiläufige zum Witz. Dass er damit nicht bloß seinem eigenen Anspruch folgt, sondern auch dem Zeitgeist, demnach heute alles irgendwie Untiefe erhalten muss und selbst eine vorsätzlich flache Figur wie James Bond mit einem Mal unter seinem Job leidet und den Weltschmerz mit Wodka-Martini runterspült, das kann die Sache dann auch nicht mehr mildern und zeigt vielmehr bloß den Unwillen eines Künstlers, gegen die Tendenzen seiner Zeit zu arbeiten, wo das eigentlich mal nötig wäre.

Ich will nicht sagen, dass das immer ohne Reiz bleibt. Die Szene am Anfang, in der Poirot erst zufrieden ist, nachdem er auch seinen zweiten Schuh in den Pferdemist gesetzt hat – wejn den Jleichjewicht – ist schön pointiert und bliebe angenehmer in Erinnerung, wenn sie nicht der Auftakt einer überbetonten Figurenstudie wäre, die im Rahmen einer Crime-Story, wo es auf das Schachspiel zwischen Verbrechen und Aufklärung ankommt, verschwendet ist. Das übliche Finale der Poirot-Handlungen, in dem der Detektiv die Gruppe der Verdächtigen zusammenbringt und den Fall im Stil des sich selbst vollbringenden Skeptizismus zu seiner eigenen Wahrheit hin entschält, gerät hier zur Selbst-Analyse vor einem nicht zahlenden Publikum, das eigentlich nur nach Hause will. Die Gruppe sitzt da wie die Apostel beim Abendmahl des Da Vinci, in einer Reihe und nicht, wie bei Lumet, verteilt im Speisewagen. Schon diese Anordnung macht den Unterschied beider Versionen deutlich. 1974 ging es um die Gruppe, die Rache genommen hat, und um den Detektiv, der sich in ihrer Mitte bewegt, allmählich ahnend, dass der Gegner nicht in ihr zu finden ist, sondern das Ganze sein muss, das ihn umgibt. 2017 geht es um den Detektiv und nur um ihn. Die Gruppe sitzt ihm beinahe gestaltlos gegenüber, kaum mehr als eine Stichwortgeberin. Dazu passt dann in der Tat die Besetzung von Kenneth Branagh. Zuerst und vor allem seine eigene nämlich.

Man konnte zwischendurch den Eindruck gewinnen, Branagh habe aus seinen frühen Irrtümern gelernt und irgendwann davon Abstand genommen, sich selbst als Hauptfigur der von ihm verantworteten Filme einzusetzen. Ich halte ihn in der Tat für einen guten Filmemacher, der ein passables Talent fürs Schauspiel mitbekommen hat, doch leider nicht das Geschick, es temperiert einzusetzen. Wann immer und wo immer er spielt, macht er die Leinwand mit sich voll, overactet, wie man so hässlich sagt, und drückt auch dann noch aufs Pedal, wenn gar kein Treibstoff mehr im Tank ist. »Dead Again« (1991), »Peterʼs Friends« (1992), »Much Ado About Nothing« (1993) oder »Hamlet« (1996) sind gute Filme, aber nicht wegen, sondern trotz Branaghs Schauspiel.

Mit »Mord im Orient-Express« kehrt er nach langer Pause als sein eigener Hauptdarsteller zurück. Auch hier ist seine Regiearbeit gar nicht so übel, und seine unstillbare Ambitioniertheit – etwa in der Kamera, die ich interessanter finde im Vergleich zu Lumets Adaption – leichter zu ertragen. Sie wird Eigenschaft des ganzen Films, was nicht so sehr stört wie das aufdringliche Spiel einer bestimmten Figur. Die Szene etwa, als der Mord an Ratchett entdeckt wird, ist vollständig von oben gefilmt, ein Handgriff, den man von Branagh schon kennt, nämlich aus der Eröffnung seiner »Sleuth«-Version (die übrigens ein Beispiel gelungener Adaption ist). Solche Mätzchen wirken immer etwas wichtigtuerisch, aber sie machen den Film zugleich interessant, und als Eigenschaft des Raums – Regie bedeutet nichts anderes als Übersetzung von Sinn- in Raumstrukturen – empfindet man sie weniger schnell als peinlich, da sie keinem besonderen Verhalten zugeordnet werden können. So bleiben schöne Einstellungen und wunderschöne Landschaftsaufnahmen, die man auch beim Wiedersehen noch genießen kann. Das Drehbuch dagegen ist soweit gut, als die Vorlage es ist, und wird dort schlecht, wo es von der Vorlage abweicht. Tiefpunkt dieser Abweichungen ist dann der Moment, worin die Metapher vom Hammer, für den alles wie ein Nagel aussieht, bemüht wird. Ich mag dieses Bild ja auch, aber es ist nun schon (nach »World War Z« und »Arrival«) der dritte Blockbuster innerhalb vierer Jahre, in dem ein Charakter es ausspricht, als habe er just ein bislang nicht bekanntes Archilochos-Fragment entdeckt.

Auch die Besetzung der anderen Rollen hält dem Vergleich mit 1974 kaum stand, ohne dass das Schauspiel der aktuellen Rasselbande für sich zu schmälern wäre. Dench, Dafoe usw. sind keine schlechten Darsteller und beherrschen ihre Rollen, doch auch sie haben das Problem, dass ein Vergleich belastet. Gewinnt man ihn nicht eindeutig, hat man ihn verloren. Das traurige Los des Herausforderers. Dench ist dabei das geringste Problem; sie gefällt mir sogar etwas besser als Wendy Hiller. Olivia Colman scheitert daran, dass sie zu sehr an Rachel Roberts, Penélope Cruz daran, dass sie zu wenig an Ingrid Bergmann erinnert. William Dafoe scheitert, weil er an gar nichts erinnert. Und Michelle Pfeiffer scheitert einfach, weil sie nicht Lauren Bacall ist. Johnny Depp schließlich scheitert, weil er den von Richard Widmark maßgeblich gesetzten, harten Hund Ratchett unnötig sexualisiert und aus der Distanziertheit holt.

Das klingt, mag sein, ungerecht. Der Verhältnis der Adaption zur Vorlage ist ungerecht, die Beurteilung, die sie erhält, spiegelt das bloß wider. Nur, was soll man denn tun? Man kann ja nicht nicht adaptieren. Die Praxis der Neuverfilmung ist wie die des Bearbeitens in der Dramatik keine, die als solche fruchtlos wäre. Dennoch ist die Auswahl eines Stoffes ebenso eine Frage des Geschicks wie seine Bearbeitung. Es sind schon bessere Regisseure an schlechteren Vorlagen gescheitert. Und hier gab es wirklich Alternativen. Eine der gelungensten Geschichten, die Agatha Christie je geschrieben hat, und namentlich meine liebste, ist erst einmal überhaupt und noch nie im großen Stil verfilmt worden. Ich rede von den »Memoiren des Grafen« (The Secret of Chimneys). Wie hätte ich mich gefreut, im grauen Monat November des furchtbar schwachen Filmjahrs 2017 eine Verfilmung dieser Vorlage zu sehen. Dafür hätt ich sogar Kenneth Branagh als Anthony Cade ertragen.

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