Jul 062018
 

Computerspiele interessieren mich nicht. Folglich besteht mein ›Letʼs play‹ darin, mit anderen Menschen Fußball zu gucken. Ich sehe, heißt das, Leuten zu, die Leuten beim Fußballspiel zusehen. Es gibt Langweiligeres. Selbst spielen zum Beispiel.

Fußballspiel ist intelligibel. Man kann begreifen, wie es funktioniert, und es in Daten auflösen. Das ist überhaupt nicht schwierig. Dennoch wird selten so viel Unsinn geredet wie im Ablauf eines Spiels. Dass das möglich ist, ist die eigentliche Show. Der Fußballfan guckt nicht wie da Vinci auf seine Skizzen oder Luke Skywalker auf seine zwei Sonnen. Im Fußballschauen passieren mehrere gedankliche Akte, die, für sich unsinnig und einander disparat, das Verständnis behindern, zugleich aber erst Voraussetzung einer tieferen Beteiligung sind. Wie bei der Fiktion bedarf es hier der Bereitschaft, sich täuschen zu lassen, mit dem Unterschied, dass das Publikum von Film und Literatur sich der Täuschung bewusst ist.

Der erste Akt ist das Wir. Wenn ein Zuschauer von ›seiner‹ Mannschaft redet, ist das bereits eine Aneignung. Das Wir übergeht diese Peinlichkeit durch eine größere. Vermöge der Identifikation mit dem Team, das der Fan nicht besitzen kann, hat er wenigstens an dessen Leistung oder Tragödie Anteil. Rasen und Wohnzimmer konvergieren auf groteske Weise: Athletik mit Phlegma, Konzentration mit Suff.

Im zweiten Akt wird aus dem Kollektiv ein Subjekt und das, was daran nicht passt, vom Platz gestellt. ›Die Mannschaft‹ als Einzelwesen gefasst habe einen bestimmten Charakter und wird damit schuldfähig. Im Erfolg verklebt der Brei jede Einzelleistung und jedes Einzelversagen. In der Niederlage zerplatzt diese Vorstellung der Mannschaft, und die Schuld muss sich gegen bestimmte Teile richten. Teile, die sich hierzu eignen. Der Ausländer, der Schönling, der Großkotz, der Schönwetterspieler usw. Im Erfolg sieht der Fan vor lauter Wald die Bäume nicht, im Misserfolg nicht den Wald vor lauter Bäumen.

Der dritte Akt entsorgt die gegnerische Mannschaft. So basal die Einsicht ist, dass auch auf der anderen Seite ein Trainer steht, der das Spiel analysiert hat, und eine Mannschaft fähiger Spieler, die einen Plan ausführt, so machtvoll setzt sich hier der Atomismus der bürgerlichen Gesellschaft durch. Wo man Menschen durchweg einbläut, dass Glück eine Frage der Einstellung und Erfolg planbar sei, dass jeder, der Arbeit will, auch eine bekomme usf., ist der Gedanke an übergreifende Zusammenhänge regelrecht abtrainiert. So erklären sich Niederlagen der eigenen Mannschaft nie durch das Können des Gegners, sondern dadurch, dass die eigene Mannschaft ihre Leistung nicht abgerufen habe. Scheelen Augs blickt man denn auch auf die modernen Trainer, die nicht im ›Mir-san-mir‹ eine Anordnung durchziehen, sondern die Mannschaft vor jedem Spiel spezifisch auf den jeweiligen Gegner einstellen.

Im vierten Akt geschieht Apotheose. Eine missvergnügte aber. Der Schiedsrichter wird mit dem Recht, das er handhabt, identifiziert. Dahinter steht der Wunsch, dass das Spiel mehr als bloß Spiel sei. Die Judikative soll keine menschlichen Anteile enthalten. Daher darf der Schiedsrichter keine Fehler machen; jeder Irrtum erinnert daran, dass auch die Leitung des Spiels Teil des Spiels ist und ein unberechtigter Elfmeter ebenso gewöhnlich wie ein verschossener. Davon absieht auch der nun eingeführte Videobeweis. Er ist nicht Auflösung, sondern Fortsetzung dieser Paradoxie, motiviert durch die einfältige Annahme, das Handwerk des Schiedsrichters müsse von seinen menschlichen Elementen befreit werden.

in: ND v. 6. Juli 2018.

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