Apr 092019
 

Greta Thunberg und die Widerstandsgymnastik

Soweit es Greta Thunberg betrifft, sind hemmungsloses Einprügeln und joviale Bewillkommnung, die ihr wechselweise in den Zeitungen zuteilwerden, offenkundig dasselbe. Das zornige Mädchen soll absorbiert werden, und wo man ahnt, dass es nicht korrupt ist, offen bekämpft. Greta ist gewiss nicht anmaßender, als Kinder im Alter von 16 Jahren sein müssen. Allein, wer ihr über den Kopf streichelt oder eine veritable Gefahr in ihr ausmacht, kann sich seinerseits nicht auf jene Unschuld herausreden. Wir sprechen von schlecht gereiften Jahrgängen, denen gegen den Strich geht, ein Mädchen sich ermannen und ein Kind sich ermächtigen zu sehen. Die freche Raumnahme, das selbstbewusste Lächeln, der dreiste Glaube, simpel im Recht zu sein – das erinnert, was man selbst gern noch hätte. Für jene war das Älterwerden tatsächlich bloß eine Art Ausdünsten. Wenn man Frechheit von Dummheit abzieht, was bleibt dann noch? Was sie Greta voraushaben wollen, sei Reife, es ist aber bloß Trägheit.

Opportunismus ist geronnene Zeit, aber unveredelt, daher vergammelt. Und in dem Moment, worin sie sich provoziert fühlen, merken sie, dass selbst die Trägheit noch flüchtig ist. Am frechen Kind wird der Erwachsene wieder zum Kind. Sie & sie, sie sind eins, wie ein Ei & ein Ei, ein rohes & ein vergammeltes. Ich zöge ein gekochtes vor, aber das rohe unterscheidet sich vom vergammelten wenigstens darin, dass es nicht stinkt.

Lustig ist das nicht. Das Gegeneinander von Unzulänglichkeiten scheint der Normalzustand dieser Epoche. Man soll, so die umfassende Unwahrheit der Bewusstseinsindustrie, wählen zwischen verschiedenen Teilwahrheiten, die im Sinne der umfassenden Wahrheit nichts anderes als verschiedene Teilunwahrheiten sind. Keine politische oder wenigstens gesellschaftliche Gruppe macht sich heute verdächtig, veritabel über das hinauszugreifen, wogegen sie alle unermüdlich anreden. Das betrifft auch die breite Strömung der sogenannten Systemkritik, in der Greta just herumgereicht wird. Diese Kritik erschöpft sich ganz im Ökologischen: Kaum jemals geht es um Verteilung von Reichtum, Besitz von Produktionsmitteln, Formen sozialer Organisation, Mittel des politischen Kampfs. Es geht um den Menschen, der die gute Gaia zerstöre. Der Kampf gegen den Kapitalismus ist im Kampf gegen den Menschen verkümmert. Gewöhnlich wäre zu bemängeln, dass jene Gruppen ihre richtigen Ziele mit falschen Mitteln verfolgen, dass sie sich von Hardt/Negri zur Spontaneität verwirren lassen statt bei Lenin immerhin dies zu lernen, dass ohne Organisation gar nichts geht. Dass sie kritisieren statt kämpfen, Trotz leben statt Analyse. Dass sie die Zuweisung der Rollen Kapitalismus=rational=erwachsen – Antikapitalismus=moralisch=kindlich in ihrer Widerstandsgymnastik annehmen. Dass sie ein Spiel gewinnen wollen, ohne seine Regeln zu ändern.

Es steht schlimmer, die Systemkritiker haben nicht bloß die falschen Handgriffe, sie haben keine Ziele, die irgend Sinn ergeben. Anstatt bei dem anzusetzen, das die Voraussetzung für alles wäre, den Gesittungsverhältnissen, laborieren sie das Kapitalismusproblem an demjenigen Gegenstand, der in all dem Gewirr aus Mensch, Stoff und Werkzeug der widerständigste und am wenigsten zerstörbare ist. Der sich in fast jeder Lage irgendwie und von selbst wiederherstellt, sein Gleichgewicht stets neu findend: an der Natur. Solange die Systemkritik die seltsame Übung ausführt, das System überwinden zu wollen, indem sie den Menschen abschafft, wird der Kampf gegen den Kapitalismus wie ein Song von Jochen Distelmeyer klingen.

in: ND v. 9. April 2019.

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