Apr 302019
 

»Streik«

Der deutsche Verleihtitel fällt gegen den französischen »En Guerre« ein wenig ab; indessen stellt er sich dem Erbe Eisensteins. Dieser Bezug lag nahe. Stéphane Brizé, der bereits in »Der Wert des Menschen« wider den Kapitalismus dröhnte – auf Augenhöhe hierbei mit Werken wie »Stürmische Ernte«, »Shoplifters«, »Glücklich wie Lazzaro« oder »In den Gängen« –, greift auch in »Streik« zum erprobten Mittel der Konzentration auf eine Figur. Gewiss ist der Film breiter angelegt, vor allem im Dialogischen; gut erzählt ist er trotzdem.

Im südfranzösischen Agen lehnen sich 1.100 Arbeiter unter Führung des Gewerkschafters Laurent Amédéo (Vincent Lindon) gegen die Schließung ihres Werks auf, das von einem deutschen Konzern übernommen wurde. Um die Fabrik zu erhalten, hatten sie vor Jahren zugestimmt, auf Prämien und Teile des Lohns zu verzichten. Dass die Betriebsleitung das Abkommen jetzt bricht, ist brutal, aber im Rahmen der Gesetze, weswegen der Staat lediglich als Vermittler auftritt. Die Verhandlungen werden zäh, der Kampf nimmt zu, Teile der Arbeiterschaft fallen um. Folgerichtige Wut entlädt sich in einem Gewaltakt gegen den deutschen Konzernchef, wonach die Regierung ihre Bemühungen einstellt und die unterwürfige Fraktion der Arbeiterschaft Auftrieb erhält. Aus dem Kampf gegen den Konzern wird ein Kampf innerhalb der Arbeiterschaft. Es tut weh, das zu sehen. Realismus muss wehtun.

Obgleich die Kamera gelegentlich private Szenen einfängt, hält der Film sich ans Genre der Mockumentary: Das Geschehen ist fiktiv, das Stockfootage fingiert; »Streik« beginnt mit effektvoll geschnittenem Material einer TV-Berichterstattung. So wird der Zuschauer mitten ins Geschehen geworfen und erhält unaufdringlich die Exposition zu einer Sache, die längst im Gang ist. Das wird sich als wichtig erweisen, denn dem Regisseur geht es wesentlich um den Nachweis, dass der Krieg zwischen Arbeitern und Kapitalisten immer schon tobt und nicht erst dann, wenn ein Streik ausbricht und die Berichterstattung der Medien einsetzt.

Die große Stärke des Films ist seine Komplexität. Alle Parteien erhalten Gelegenheit, ihr Kalkül zu entfalten. Ihr spezielle Weise, heißt das, sich die Welt zurechtzulegen. Realismus fordert Totalität, was zugleich Diversität wie den Versuch bedeutet, das Verschiedene als Einheit zu fassen. »Streik« ergreift nicht simpel Partei, die Parteinahme ergibt sich vielmehr aus der genauen Darstellung des Arbeitskampfes, denn der Komplex hat selbst eine Richtung, und wer ihn entfaltet, bedient sie. Der Krieg zwischen Arbeitern und Kapitalisten ist nicht nur immer schon im Gang, er ist auch immer schon entschieden.

Die Gründe für das Ungleichgewicht sind bekannt. Dass mehr Menschen Arbeit suchen als Stellen vorhanden sind, setzt die Kapitalisten an den längeren Hebel. (Alice Rohrwacher hat das 2018 in »Glücklich wie Lazzaro« durch eine irritierend verkehrte Auktionsszene pointiert.) Zudem ist die Arbeiterschaft zahlenmäßig überlegen, was als Vorteil zum Nachteil wird, denn sie kann damit leichter gespalten werden. Drittens wird in der bürgerlichen Gesellschaft Kapital als metaphysisches Verhältnis verstanden; die Gesetze des Marktes, mit denen die Vertreter des Konzerns argumentieren, gelten als unabänderlich, die Bedürfnisse der Menschen als verhandelbar. Die ausbrechende Wut der Arbeiter hat mit dieser Asymmetrie zu tun. Ihr ging und geht eine kontinuierliche Demütigung und Missachtung voraus, nicht bloß durch einen Konzern, der seine Macht ausspielt, auch durch einen Staat, der nicht eingreift, obwohl er könnte, und den Gewaltausbruch als Gelegenheit nutzt, sich zurückzuziehen.

Präzis bis ins Mark wird die Spaltung der Arbeiterschaft in einen konsequenten und einen korrupten Teil gezeigt, in Menschen, die an alle denken, und solche, denen reicht, wenn sie selbst irgendwie davonkommen: ein Widerschein des alten Streits zwischen Bolschewismus und Menschewismus innerhalb der gewerkschaftlichen Bewegung. Dass in Brizés Werk das Koordinatensystem der bürgerlichen Gesellschaft schließlich nicht überschritten, der Arbeitskampf nicht im Klassenkampf aufgehoben wird, kollidiert auf seltsame Weise damit, dass dem Film gelingt, die Grenzen der bloß gewerkschaftlichen Bemühung zu zeigen. So bleibt, wo die Forderung nach Enteignung, Vergesellschaftung, revolutionärem Machtgriff eine logische Folge der gezeigten Aporie wäre, allein die trostlos irrationale Tat eines isolierten Menschen, mit der das Filmgeschehen endet. Die ließe sich als strategische Reaktion auf jenen Umschwung der Stimmung verstehen, der durch den Gewaltakt eingeleitet wurde, tatsächlich beugt sie sich selbst dieser Stimmung, gegen die Laurent anfocht. Besonders er hatte während des Streiks für das Alle-oder-keiner gestanden und soll das nun missachten und auf verdrehte Weise damit noch was bewirken. So erweist sich Eisensteins tragische Lösung in seinem »Streik« (1925) nachgerade als die mutigere, weil sie zumindest nicht die Lösbarkeit des Klassenkampfs ohne Lösung der Klassenlage behauptet.

»Streik« [»En guerre«]
Frankreich 2018
Regie: Stéphane Brizé
Drehbuch: Stéphane Brizé, Olivier Gorce
Darsteller: Vincent Lindon, Mélanie Rover, Olivier Lemaire
Länge: 114 Minuten
Starttermin: 25. April 2019

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in: junge Welt v. 30. April 2019.

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