Jan 092020
 

»Little Joe«

Es mag nicht klug sein, bereits in der ersten Januarwoche den klügsten Film des Jahres auszumachen, doch ich fürchte, es könnte dabei bleiben. Was Inszenierung und ideelle Struktur betrifft, kann Jessica Hausners »Little Joe« einer der großen Filme 2020 werden, dessen leichte Schwächen im Erzählerischen mit durchrutschen.

Die Botanikerin Alice hat eine mohnrote Blume gezüchtet, deren Duft die Menschen glücklich macht. Sie entwendet eine der Pflanzen aus dem Labor, schenkt sie ihrem Sohn Joe und nennt sie Little Joe. Zunächst kaum merklich ändert sich Joes Verhalten, und auch Emilys Kollege Chris scheint unter dem Einfluss der Pollen zu stehen. Bella, die ebenfalls im Labor arbeitet, hatte davor gewarnt, den Pflanzen bei der genetischen Modifikation die Fähigkeit zur Fortpflanzung zu nehmen. Unterdes haben, beeinflusst vom Duft der Blumen, immer mehr Menschen ein Interesse, dass das Experiment weiterläuft.

Die Fabel bleibt so einfach, wie sie sich hiernach anhört, und hätte einen Nebenstrang gut vertragen können. So spiegelt der Film die komplexe Ideenstruktur in der Handlung nicht wider. Auch sind da einige Leerstellen. Bei der Motivation der Figuren etwa, wenn Alice an ihrem Experiment zu zweifeln beginnt, weil es den Charakter der Menschen verändere, obgleich das Unternehmen vom Anbeginn genau darauf gerichtet war. Oder im Verhältnis der Figuren zueinander. Welche Rolle soll Joes Vater spielen? Was fängt man mit dem eigenschaftslosen Chris an? Wieso haben Bella und Alice zwar gleiche An- und Absichten, kommen aber nie zum gemeinsamen Handeln, weil immer dann, wenn die eine bereit ist, die andere resigniert? Offensichtlich soll diese Ad-hoc-Dramaturgie vor allem den Fortgang erleichtern.

Dass »Little Joe« den Zuschauer dennoch involviert, verdankt sich neben der herausragenden Ästhetik dem subtilen Horror, der ohne Schock auskommt und an die erste Hälfte von Carpenters »Sie leben« (1988) erinnert. Er kriecht in den Kopf, so wie auch die Pollen wirken. Man sieht sie nicht, und der Film wirkt überhaupt stark über das, was man nicht sieht. Peripetien werden angedeutet, Gewalt passiert meist im Off. Lediglich ein Jumpscare steht diesem strengen Konzept entgegen; niemand hätte ihn vermisst.

Die Kamera bleibt ruhig, auch bei Schwenks. Für den Score hat die Regisseurin auf Material des Komponisten Teiji Ito zurückgegriffen: Durchaus nichts, das man bei Spotify anclickt, aber es erreicht mit langsamem Tempo, intensiven Rhythmusstörungen und atonalen Melodien genau die Wirkung, die es haben soll. Im Hintergrund wiederholt sich ein permanentes Wehen als akustischer Ausdruck des unerbittlichen Pollenflugs. Szenenbild und Kostüme sind so konsequent, dass man von einem Code sprechen kann. Da stehen sich das Weiß der Laboreinrichtung, das Rot der Blumen und das von den Laboranten getragene Mintgrün als Ort, Objekt und Subjekt der Forschung gegenüber; die markanten Farben machen die Szene unwirklich, entziehen sie der historischen Zuordnung.

Es fällt schwer, die gedankliche Fülle, die trotz der großen Wortmenge aus den Handlungen und Konfigurationen der Akteure kommt, konzis zu fassen. Wenn man bei Little Joe selbst beginnt, erschließt sich zunächst eine aus der Ökonomie vertraute Struktur. Geld wurde, nach Marxens bekannter Formel G–W–G‘, vom Vermittler der Zwecke zum eigentlichen Zweck, der Gebrauchswert zur schnöden Möglichkeit, Geld zu mehren. Zur Logik solcher Verhältnisse gehört dann auch, nicht bloß vorhandene Bedürfnisse zu befriedigen, sondern Bedürfnisse eigens zu erzeugen. Damit vollendet sich die Herrschaft der Mittel über die Zwecke, und eben das passiert mit der Blume, die die Menschen glücklich machen soll, sie aber bald in ihr Instrument verwandelt.

Dass sie der Fähigkeit zur Fortpflanzung beraubt ist, kann ebenfalls als Parabel auf den partikularen Charakter des Produktionsmittels gesehen werden, das nicht um seiner selbst willen gewählt wird und immer nur für Anderes da ist. Zugleich erklärt es ihr aggressives Verhalten; indem sie die Menschen kontrolliert, verschafft sie sich eine sekundäre Art Fortpflanzung. Jene Impotenz liegt allerdings auf der weiblichen Seite. Die Blume (die einen männlichen Namen trägt) kann nicht empfangen, ihre Samen streut sie weiter aus. Kaum zufällig will dann die Fabel, dass zuerst die Männer unter Einfluss der Pollen geraten, während der Widerstand von den Frauen kommt.

Das rührt an einen anderen Komplex, der sich als Gewalt der Mehrheit oder Narrative beschreiben lässt. Es geht um Definitionsmacht und darum, wie schwierig es ist, ein eigenes Urteil gegen einen übermächtigen Konsens zu behaupten. Alice wird zunehmend isoliert, während die Menschen um sie herum ihr, einander bestärkend, versichern, dass sie sich nicht verändert haben. Obgleich die Erzählung kein Zweifel lässt, dass Alice recht hat, entsteht dieser Zweifel. Man beginnt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie irrt. Am Ende ist aus der Einsamkeit der Hauptfigur die Einsamkeit des Zuschauers geworden.

Auch die Dopplung des Namens Joe trägt Bedeutung. Alice hat eigentlich zwei Kinder, ihren Sohn Joe und Little Joe, ihre Kreation. Auf die Art wird Arbeit gegen Familie, Selbstverwirklichung gegen Liebe gesetzt. Die ist ohne einen Anteil Selbstlosigkeit nicht zu haben; in Little Joe verdinglicht sich Alice‘ Narzissmus.

Die Abwesenheit von Liebe ist allgemein und schließt auf, um welche Art Glücksversprechen es sich handelt. Es ist das bürgerliche, also eines ohne Arbeit und ohne Miteinander. Alice will den Zustand des Glücks, aber ohne die Arbeit dorthin. Sie verwirklicht ein unwirkliches Glück durch ein Mittel von außen, eine Droge, die die seelischen Kollisionen nicht löst, und die Menschen sind sowohl der Möglichkeit beraubt, sich ihr Glück selbst zu machen, als auch der, von diesem Glück geprägt zu werden.

Wodurch das Glück sich nicht zeigen kann. Es wird bloß irgendwie gefühlt. Je mehr Menschen unter den Einfluss der Pollen kommen, desto hypotonischer und kühler, uniformer und belangloser wird der Umgang. Ein Glück aus Gleichgültigkeit. Am Ende gibt eine Mutter ihr Kind weg, ohne dass es irgend einen der Beteiligten zu stören scheint. Wo Glück stets nur als Glück des Einzelnen verstanden wird, findet Anteilnahme am Glück des Anderen oder Glücklichsein miteinander nicht mehr statt.

Und all das nun spiegelt sich in der Prämisse dieses scharfsinnigen Films, der bei aller Fremdheit im Look, auf Tiefvertrautes zielt. Mit ihrem Unternehmen folgt Alice dem Zwang zur Glücklichkeit, der so mächtig wirkt, dass er das Gegenteil bewirkt. In einer Gesellschaft, die ihre Kinder mit »Du musst keine Angst haben« erzieht, ihren Frauen »Nun lächel doch mal« und ihren Männern »Heul nicht« sagt, die ihren Kranken vermittelt, sie sollen sich wie Gesunde verhalten, an Depressiven vor allem traurig findet, dass sie nicht funktionieren, und deren Gesundheitssystem der Verhaltenstherapie hilft, die Psychoanalyse zu verdrängen, weil die mehr kostet und keine schnellen Lösungen verspricht, scheinen wir alle einem Code zu folgen. Beim ersten Auftreten abweichender Affekte soll möglichst rasch der Zustand des Glücklichseins wieder hergestellt werden, obgleich gerade diese Eile oftmals der Grund ist, dass wirkliches Glück verfehlt wird, weil das eben Zeit braucht.

»Little Joe«
Österreich 2019
Regie: Jessica Hauser
Drehbuch: Jessica Hauser
Darsteller: Emily Beecham, Ben Winshaw, Kerry Fox
Länge: 105 Minuten
Starttermin: 9. Dezember 2019

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in: ND v. 9. Januar 2020.

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