Jun 212009
 

Sappho ist eine lesbische Dichterin im doppelten Sinne des Wortes. Sie lebte auf Lesbos, schrieb im lesbisch-aiolischen Dialekt (dem ungemütlichsten von allen), und sie pflegte sexuelle Neigungen zu Frauen. Gut möglich, daß sie bisexuell war; heterosexuell war sie nicht.

Heute weiß das jeder. Zu gut passen die persönlichen Beziehungen, die in Sapphos Gedichten gespiegelt werden, in den kulturellen Zusammenhang der Initiationsriten, die es eben nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen gab, und für die gleichgeschlechtliche Bindungen nicht untypisch zu sein scheinen. Zu deutlich sind aber auch die Inhalte der auf uns gekommenen Sappho-Gedichte. Wer hierbei an eine nur ideale (also nicht körperliche) Liebe von Frau zu Frau glaubt, operiert offenkundig mit dem moralischen Imperativ, wo er doch besser den hermeneutischen Indikativ handhaben sollte. Nun will ich ja gar nicht behaupten, die Philologen verstünden heute mehr von Hermeneutik als früher. Zumindest aber sind sie durch keine moralischen Vorbehalte mehr gehindert.

Soviel zum Stand von heute; und nun las ich jüngst einen Aufsatz von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, einer wahren Legende der Klassischen Philologie, worin dieser es sich zur Aufgabe macht, Sappho gegen die scheinbar ungeheuerliche Anschuldigung der Homosexualität zu verteidigen. Der Aufsatz – das nicht zur Verteidigung, doch zur Erklärung – ist über 90 Jahre alt. Vorangestellt ist ihm ein einleitender Text. Dort bereits legt Wilamowitz die Manchetten ab und beginnt das Boxen. Seltsamerweise pocht er darauf, daß die „Verdächtigungen“ gegen die Dichterin erst da laut werden, wo man sich von ihren Texten entferne. Die „moderne Perversität“ tue heute das ihrige. Sappho sei gerade von besonderer Weiblichkeit, aus ihren Gedichten spreche „die weibliche Seele“, womit denn freilich bewiesen ist, daß sie nicht schwul sein konnte, denn „gerade das“, ihre ideale Weiblichkeit, „ist es, wodurch sie alle Männer schlägt, und die männischen Weiber“ – vulgo: die Lesben – „erst recht“.

Ja, wenn sie die Männer schon schlägt, dann doch die Lesben mit links! Es versteht sich von selbst, daß mir bei so viel Beweiskraft das Zwerchfell wehtat. Lesben können offenbar nicht weiblich sein, und dichten können sie schon gar nicht. Ersteres immerhin sagt Wilamowitz ziemlich deutlich. Letzteres ausdrücklich zu sagen wäre dann vielleicht doch zu stupid gewesen, aber als unausgesprochener gedanklicher Hintergund scheint diese Annahme bei Wilamowitz schlechterdings präsent zu sein. Der Aufsatz selbst beginnt nämlich mit den Worten: „Wenn heute der Name Sappho genannt wird, werden mehr Menschen an geschlechtliche Perversion denken als an eine große Dichterin.“ Kein Wort darüber, ob sie nicht beides sein könnte: das, was Wilamowitz für pervers hielt, und auch eine große Dichterin. Und so wie der Aufsatz beginnt, endet er auch: „Ich möchte noch manches sagen, alla me kôlyei aidôs“ [aber mich hindert die Scham], „wenn ich auch … spreche: aber huldigen darf ich ihr, wie ihr Platon gehuldigt hat, als der edelsten Verkörperin jenes Ewigweiblichen, das uns anzieht.“

Das Ewigweibliche zieht uns (Männer) an, keine Frage. Doch es gibt wohl keinen Mann, den das Ewiglesbische nicht ebenfalls anzöge. Es hat schon etwas unfreiwillig Komisches, wenn man sich der moralischen Empörung entsinnt, die jenem Phänomen seitens vieler heterosexueller Männer auch heute noch entgegenschlägt. Wir schmähen gern, was wir nicht bekommen können …

Doch genug der Scherze; die schreiben sich hier fast von selbst.

Der Aufsatz wurde verfaßt 1913; Homosexualität war zu dieser Zeit, wenn ich nicht irre, noch überall auf der Welt strafbar. Es ist nicht das, was die Situation so witzig macht. Es ist der Umstand, daß Wilamowitz den Fall Sappho wie einen Strafsache des Deutschen Kaisereichs und nicht wie ein Zeugnis des antiken Griechenlands behandelt. Ganz so, als sei die Strafbarkeit der Homosexualität auch in der Antike vorauszusetzen, die moralische Verwerflichkeit auch dort anzunehmen. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall; die Homosexualität war nicht nur nicht strafbar, sie gehörte sogar zu den gehobenen Sitten. Sie war keineswegs bloß eine Privatsache oder ausschließlich Ausdruck besonderer Neigung. Die gab es natürlich auch – außerdem. Die Homosexualität als gesellschaftliche Erscheinung des antiken Griechenland hat nichts mit moralischer Verkommenheit oder besonderer Freizügigkeit zu tun, sondern sie war eine Art Brauch, eine sittliche Erscheinung, die sich ganz gut aus der gesellschaftliche Struktur erklärt: In einer durchweg patriarchalischen Gesellschaft sammeln sich vor dem Schlachtfeld die Kombattanten in den Schützengräben (und, wenn dieser Witz gestattet ist, in diesem Fall nicht nur die Kombat-Tanten, sondern auch die Kombat-Onkeln). Schützengräben verbinden. Die Frauen als Unterdrückte finden zusammen, wie die Männer als Unterdrücker zusammenfinden. Aus dieser Beschaffenheit der griechischen Gesellschaft, und nicht aus moralischer und juristischer Unter- oder Überlegenheit (je wie man will), erklärt sich vor allem das gesellschaftliche Phänomen der Homosexualität im alten Griechland, das Wilamowitz, der alles kannte, wohl kannte, nur eben innerhalb dieses einen Aufsatzes vergessen zu haben scheint.

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