Okt 062011
 

Weiß der Teufel, warum wir über Witze lachen. Sie spiegeln bloß den Irrsinn wieder, der, als Schwachsinn getarnt, unter den Menschen geistert. Wir lachen am Witz über das, was uns unzählige Male im Leben begegnet ist. Begegnen wir ihm im Leben, lachen wir nicht. Wir ärgern uns oder – häufiger – finden überhaupt nichts merkwürdig dabei. Kommt z.B. ein Jude in eine Fleischerei und sagt: »Ich hätte gern 500g von dem Fisch dort.« – »Aber das ist doch Schweinefleisch.« – »Ich habe dich nicht gefragt, wie der Fisch heißt. Ich hätte gern 500g von dem Fisch.«

Warum lachen wir? So sind sie doch, die Menschen. Sie alle wollen immer irgendwas, und wenn das, was sie wollen, anrüchig ist, nennen sie es einfach um; als ob es um die Phonetik und nicht um Inhalte geht. Wollen ist eine teuflische Sache. Selbst der unbegabteste Verführer hat ein Opfer, an dem er nicht scheitert: sich selbst. »Objektivität«, lese ich bei Dietmar Dath, »ist nichts anderes als ein neutraleres Wort für Gerechtigkeit.« Gerechtigkeit, lese ich bei Dath leider nicht, ist nur dort möglich, wo der Mensch sich von dem, was er will, emanzipiert. Es geht nicht darum, nichts zu wollen. Es geht darum, sich von dem, was man will, nicht tyrannisieren zu lassen. In jedem Wollen steckt das Subjektive und also die Gefahr der Borniertheit. Wer die eigene Sache für gut und nur gut hält und alle anderen Zwecke für schlechthin schlecht, ist nicht objektiv noch gerecht; ist, weil er den Menschen so gleicht, kaum noch ein Mensch. Wer ganz Partei ist, hat sein Hirn gegen einen Ausweis getauscht, hat zugelassen, dass eine Seite in ihm alle anderen austilgt, sich mithin der Möglichkeit beraubt, den eigenen Standort und sein Wollen zu begreifen. Wollen, absolut gesetzt, verhindert Wollen. Denn Erkenntnis ist nur möglich, wo das Wollen zurückgenommen ist, und das Wollen wieder kann nur dort in Erfolg umschlagen, wo Erkenntnis stattgefunden. Wer will, kann nicht gerecht sein; wer gerecht sein will, darf nicht wollen.

Dochdoch: gerecht sein will. Der Widerspruch zwischen Interesse und Gerechtigkeit löst sich im Begriff der Gerechtigkeit selbst auf. Man kann Gerechtigkeit wollen, doch das vollzieht sich nur, wo das Individuum bereit ist, über sich hinauszugehen. Dieses Übersichhinausgehen bedeutet nicht allein, sich selbst in Frage zu stellen, es bedeutet, den Vorgang des eigenen Denkens wie ein Fremder zu begleiten, weniger in sich hineinzuhorchen als vielmehr sich selbst ganz äußerlich zu begegnen. Wer in seiner Haltung gefangen ist, kann sie nicht einnehmen. Um eine Haltung bewusst einzunehmen, ist ein Standort nötig, der jenseits dieser Haltung liegt, eine Perspektive, die über sie hinausgeht. Das bedeutet zweierlei: Das Einnehmen der Haltung geschieht, weil der, der sie einnimmt, erkannt hat, dass es von Vorteil ist, sie einzunehmen. Und diese Erkenntnis ermöglicht ihm zugleich, die Haltung zu modifizieren oder gar dort aufzugeben, wo sie nicht sinnvoll ist. Es gibt keine Haltung, die unter allen Umständen sinnvoll ist. Nicht einmal die gerechte. Aber Gerechtigkeit ist die einzige Haltung, die in sich die Möglichkeit zur Erkenntnis auch der eigenen Grenzen trägt. Der Gerechte überwindet, wenn er gerecht ist, sogar die Gerechtigkeit. Aber natürlich ist es in aller Regel gerecht, gerecht zu sein.

Zurück zum Fisch. Das von Parteilichkeit verblödete Bewusstsein geht viele Wege. Der hier ist einer davon. Gleichwohl der beliebteste. Warum soll sich einer die Mühe machen, umwegige Konstruktionen zu installieren, wenn er sein Ziel durch bloße Semantik erreichen kann? Wer auf die nackten Weiber von Helmut Newton wichst, hält sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht für einen Lustmolch, sondern für einen Kunstliebhaber. Es gibt Menschen, die können das menschliche Bedürfnis nach Sexualität nur auf verklemmte Weise befriedigen. Im Alltag aber hat der doppelte Boden oft seinen Reiz; ekelhaft wird es zumeist erst dann, wenn das Wollen ein politisches ist.

Nirgends scheint das deutlicher als beim heißesten Eisen, das die gegenwärtige Politik im Feuer hat: dem Verhältnis von Islamkritik und Israelkritik, oder sagen wir doch der Ehrlichkeit halber: Islamhass und Israelhass. Beide Haltungen sind Schibboleths, unter denen sich Vertreter bestimmter Ideologien (der Neokonservatismus und der Antiimperialismus vornehmlich) gegeneinander sammeln. Beide sind (weil ihr Ursprung ideologisch und nicht theoretisch ist) ganz dem Wollen geschuldet und davon gekennzeichnet, dass ihre Vertreter sich von Tatsachen nicht leicht beeinflussen lassen. Beide im übrigen nehmen den dümmsten Grundsatz, den Politik haben kann, zum verborgenen Leitgedanken: den Ausschluss eines Dritten. Wer Israel verteidigt, muss den Islam ablehnen, und wer Israel ablehnt, der muss den Islam verteidigen. Man kann nicht beides tolerieren oder beides ablehnen. In diesem Zwang leben diese verfeindeten Brüder gemeinsam, denn alle Spinner gleichen sich darin, dass sie spinnen.

Ich versichere: Der Ausdruck Spinner meint hier genau das, was er meint. Ich denke dabei an die dreizehnte Fee, die einsam im Turm sitzt und dort, den anderen zwölfen übelnehmend, dass sie beim Reise-nach-Jerusalem-Spielen verloren hat, ihren Faden mit einer von Missgunst vergifteten Spindel dreht. Ein Spinner hat nur die eine Sorge, dass sein hektisch gefügtes Weltbild auch morgen noch stehe, und da er ein so schönes Bild von der Welt hat, stört die Welt eigentlich nur. Die Welt ist das, was ihm unangenehm zwischen sich und seine Bedürfnisse kommt. (Die Welt, nicht Die Welt.) Henryk M. Broder zum Beispiel entblödete sich nicht anzudeuten, Islamhass habe mit Antisemitismus so viel gemein wie die »Wehrmacht mit der Heilsarmee«[1], was auch dann, wenn man die offenkundigen Unterschiede zwischen Islamophobie und Antisemitismus nicht leugnet, eine Umdeutung gemeinhin bekannter Begriffe ist, an deren Ende die Unterscheidung zwischen einem guten und einem schlechten Ressentiment steht. Oder Dieter Dehm, der im besten Geiste verschämter Internatsjungen – Es ist nur schwul, wenn sich die Hoden berühren – die praktische These aufstellte, von Antisemitismus lasse sich erst dann reden, wenn wieder massenhaft Juden umgebracht werden[2], weswegen man mit der Naziriecherei doch endlich einmal aufhören solle (die letzte Formulierung, ich gebe es zu, stammt nur sinngemäß von Dehm, wörtlich ist sie von Konrad Adenauer). Man darf auch an Werner Pirker denken, der, als vor zwei Jahren im Iran die Opposition auf die Straße ging, in dieser Bewegung die »konterrevolutionäre Revanche an der Islamischen Revolution als Emanzipationsprozeß der Volksklassen«[3] zu erblicken meinte und auf die Art fertigbrachte, die klerikal-faschistische Reaktion und eigentliche Konterrevolution des Ayatollah Khomeini zu einer Art sozialistischen Revolution umzublödeln. Auf der anderen Seite wiederum finden sich nicht wenige Linke, die in einer berechtigten Ablehnung eben solcher reaktionärer Bewegungen des Islamismus dessen Hauptziel, die USA, zum Inbegriff der westlichen Moderne hochmogeln, obgleich dieses Land, in seinen rückständigsten Regionen, selbst ein Aggregat reaktionärer Elemente ist (Todesstrafe, Prüderie, pro life, religiöses Sektenwesen, Kreationismus, Verbot von Prostitution, bis 2003 noch von Homosexualität etc.), die in Europa längst oder viel gründlicher überwunden sind. Anschließt sich sodann jenes Kunststück, das Teile der ideologiekritischen Linken zum Staunen der hirnhaften Welt unentwegt vorführen: einerseits davor zu warnen, die besondere Struktur des Antisemitismus mit irgendeiner anderen Art des Schwachsinns zu verwechseln, und hinter jeder Unternehmung, die Judenhass in Zusammenhang mit anderen Richtungen des Ressentiments bringt, den verkappten Versuch zu erblicken, den Antisemitismus zu relativieren (während doch einleuchten darf, dass Relativieren nur ein anderes Wort für Begriffsbildung ist, dass also nicht entscheidend ist, ob relativiert wird, sondern auf welche Weise), anderseits aber den Antiamerikanismus mit dem Judenhass doch irgendwie in eins zu setzen und dadurch genau das zu tun, was man eben noch emphatisch verboten hat.

Ja, ich liebe lange, komplizierte Sätze. Nicht nur, weil das Konstruieren solcher Gebilde lustig ist, sondern auch, weil sie ein zuverlässiges Mittel sind, diejenigen, von denen sie in aller Regel handeln, aus der Lektüre aussteigen lassen. Es plaudert sich besser, wenn die Kinder im Bett sind. Diese alle – der ehrbare Xenophob Broder, der rotbraune Volksfrontler Pirker, die von ihrer Schlauheit verdummten Wertkritiker und der von seiner Dummheit verdummte Dehm – stehen in ganze Horizonte verdunkelnden Phalangen, inmitten zeitgemäßer Kommentatoren, die, um wollen zu können, was sie wollen, nicht wissen dürfen, was sie wollen. Sie alle träumen von Fleisch und reden von Fisch. Gefühlte Fisch sozusagen.

Bodenproben aus dem Sumpf sind alle gleich. Wo immer man reinsticht, überall dieselben Erreger. Ich hätte auch Paech statt Dehm oder Lengsfeld statt Broder sagen können. Das ist austauschbar. Bemerkenswert hingegen, dass man auch jenseits der Halbwelt gelegentlich Fisch kaufen geht. Was die Sache nicht besser macht, nur weniger entschuldbar. Nehmen wir zwei Beispiele aus der jüngeren Zeit und fairerweise von jeder Partei eines. Das erste ist Moshe Zuckermann. Dieser nicht dumme Marxist hat ein unglückliches Händchen für übelriechende Bündnispartner.[4] Es ist keine Neuigkeit, dass die israelische Linke mit Beginn der zweiten Intifada zusammengebrochen ist, was vielleicht damit zu tun hat, dass auch linke Israelis zunächst einmal überleben wollen. Politisch richtig wird die Aufgabe der linken (also auf Änderung sozialer Strukturen abzielenden) Position zugunsten einer Beschwörung des nationalen Zusammenhalts damit noch lange nicht. Nicht alles, was sich erklären lässt, ist auch gleich richtig. Zuckermann sagt übrigens dasselbe über den Zionismus, den er durchaus als zwangsläufige Folge geschichtlicher Vorgänge bestimmt und nicht, wie viele derer, die ihm hierzulande Beifall spenden, als Installation finsterer Mächte zur Landnahme eines dem arabischen Volk von Natur zugehörigen Bodens. Obwohl offenkundig ganz unterschiedliche Ab- und Ansichten vorliegen, hält Zuckermann für angezeigt, mit Leuten zu paktieren, deren erklärtes Ziel ist, den Staat Israel zu liquidieren. Sicher, politische Einsamkeit ist keine schöne Sache. Die meisten, denen der Rückhalt derart wegbricht, werden darüber verrückt. Da es nicht jedem gegeben ist, auch ohne kollektiven Rückhalt an seinen Positionen festzuhalten, bleibt diesen Leuten nur die Wahl zwischen dem Rückzug und einem Bündnis mit inkompatiblen Kräften, das die schleichende Aufgabe der eigenen Positionen zur Folge hat. Das Bestreben, in einer neu formierten politischen Landschaft Anschluss zu finden, führt zu vielen geistigen Verrenkungen und nachträglichen Umdeutungen.

So hat Zuckermann sich auf einen langen Marsch begeben, der zuletzt einen Beitrag zur Frage nach dem Antisemitismus in der Partei Die Linke hervorbrachte. In dem Artikel steht weißgott nicht nur Unsinn. Insbesondere zur Politik der israelischen Regierung teilt Zuckermann mitunter – wenn auch einseitig, da er das Verhalten der palästinensischen Seite aus seiner Darstellung ausschließt – Zutreffendes mit. Was die PDL angeht, urteilt er richtig, dass es dem FDS-Flügel wohl kaum um mehr als die Koalitionsfähigkeit der Partei zu tun ist. Aber auch hier ist der Beobachter blind für die andere Seite. Dem geschulten Marxisten Zuckermann hätte ruhig auffallen dürfen, dass Netzwerke wie die AKL und SL ebenso sozialdemokratisch orientiert und von der Idee einer auf Vergesellschaftung beruhenden Gesellschaft nicht weniger weit entfernt sind als Gysis Truppe. Und gleichfalls hätte ihm auffallen können, dass sein Diktum, demzufolge »man die spezifische historische Genese des Zionismus kritisch reflektieren kann, ohne deshalb schon die schiere Existenz des Staates Israel in Abrede stellen zu wollen«, gerade von vielen derer, die Zuckermann mit seinem Kommentar zu verteidigen gedenkt, missachtet wird.

Ich will noch nicht einmal von all jenem Kroppzeug sprechen, das sich in den Kommentarspalten von Online-Portalen, Webblogs oder in Internetforen rumtreibt, wo man den Satz, dass Israel »keinerlei Existenzrecht« habe, ebenso so oft lesen kann wie andernorts die Behauptung, dass Robert Hoyzer den Fußball verraten habe. Ich spreche auch nicht von den Aktivisten der antizionistischen Szene, die eifrig allerlei Konferenzen, Demonstrationen und Workshops mit sich vollmachen und jede sinnvolle Diskussion in einem Sumpf aus Parole, Emotion und Lüge ertränken. Ich spreche wirklich von Berufspolitikern, Leuten, die der PDL nicht zugelaufen sind, sondern von ihr zu Kandidaten gemacht wurden. Unter ihnen mögen besonnene sein, wie etwa Wolfgang Gehrke, der seine einfältigen Ansichten immer sehr höflich vorträgt, aber die Debatte bestimmen allemal pathologisch verbildete Gestalten der Marke Höger, Buchholz und Dierkes, die den israelischen Staat auf die eine oder andere Weise liquidieren wollen. Und dann schreibt Zuckermann jenen Satz, der das Niveau, auf dem die Debatte geführt wird, vorzüglich ausdrückt: »Linke können schlicht nicht antisemitisch sein, und wenn sie es sind, dann sind sie auch keine Linken mehr.«[5]

Da isser wieder, der gefühlte Fisch. Ich will Zuckermanns Sentenz ein kategorisches Argument nennen. Einer versucht eine Sache von einem Vorwurf zu befreien, den sie sich – aus welchen Gründen immer – zugezogen hat. Er könnte die Gelegenheit nutzen, eine differenzierte Einschätzung des Verhältnisses zwischen der Sache und der ihr im Vorwurf zugeschriebenen Eigenschaft zu gewinnen, was – vorausgesetzt, der Vorwurf ist unberechtigt – die beste Verteidigung dieser Sache wäre. Er könnte also, wenn es um die Linke und den Antisemitismus geht, sich bemühen, das Verhältnis der linken und der antisemitischen Haltung historisch und ideell zu bestimmen. Er bräuchte eine solche Bestimmung nicht zu fürchten, wenn zutrifft, was er ja beweisen will: dass die Vorwürfe ganz unbegründet sind. Das kategorische Argument kommt dort ins Spiel, wo ein solcher Beweis umgangen werden soll. Die Ahnung, eine Untersuchung könne Unangenehmes zutage bringen, erzeugt das Bedürfnis, dem Gegenstand a priori Eigenschaften zuzuschreiben, die noch vor Beginn jeglicher Untersuchung erzwingen, dass der Gegenstand vom betreffenden Vorwurf freigesprochen muss. Es mag Leute geben, die ein solches Verfahren für offensiv halten, in Wahrheit ist es, was Dogmatismus immer ist: ein Zeichen intellektueller Ängstlichkeit. Die Zuckermann übrigens nicht nötig hätte, triebe ihn – der noch 2003 (in »Zweierlei Israel?«) öffentlich kundgab, dass die Überwindung des Zionismus etwas anderes sei als schnöder Antizionismus – nicht das Bedürfnis, Bündnispartner zu verteidigen, die sich von seinem Standort aus nur schwer verteidigen ließen. In seinem Verdikt liegt ganz klar ein Moment der Verunklärung. Es wird suggeriert, dass Antisemitismus und linke Haltung gänzlich verschiedene Dinge sind, zwischen denen ein Übergang eindeutig bestimmbar ist. Es schließt die Möglichkeit aus, das Allgemeine könne das Besondere (und sei es als degenerative Entladung) enthalten. Missachtet wird die Pointe, dass im theoretisch schlecht verarbeiteten und mit Ressentiments beladenen Antikapitalismus der Antisemitismus der Möglichkeit nach immer vorhanden ist, dass im Linkssein selbst eine entsprechende Tendenz liegt, die allerdings erkannt werden und der durch Bewusstheit, vor allem durch Theoriebildung, entgegengewirkt werden kann.

Zuckermann fällt mit seiner Äußerung noch hinter August Bebel zurück, der den Antisemitismus – sicher nicht insgesamt, aber doch einen wesentlichen Antrieb treffend – als Sozialismus der dummen Kerls bestimmt hat. Und er ignoriert die große Zahl linker Elendsgestalten, wie etwa Ruth Fischer, die zehn Jahre nach Bebels Tod bei eben diesen dummen Kerls, vor denen Bebel noch gewarnt hatte, fischen ging: »Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie.«

So falsch Zuckermanns Satz theoretisch ist, so schädlich ist er im Politischen. Die Botschaft lautet: Ihr braucht eure Haltungen nicht zu hinterfragen, solange ihr nur links seid. Und wo wäre der Linke, der an seinem Linkssein etwa zweifelte? Dies im Kopf bleibt nur eine Frage: Ist es möglich, Zuckermanns Äußerungen keinen Freibrief zu nennen zum Ausleben all jener emotional verankerten und über Jahre sorgsam konditionierten Reflexe, die mit objektiver (also gerechter) Betrachtung des Nahen Ostens so viel zu tun haben wie das Gebimmel der Kuhglocken mit Musik?

Der Unfug, der bei Zuckermann in einem Satz untergebracht ist, wird bei Gerhard Scheit in einem ganzen Text ausgebreitet.[6] Darin behauptet er anlässlich des Massakers von Utøya, dass der Attentäter Breivik kein Islamophobiker war, obgleich der selbst darauf besteht, einer zu sein. Ich mag nicht entscheiden, ob ein ausgebreiteter Unsinn schlimmer ist als ein komprimierter, will aber, ebenso wie bei Zuckermann, durchaus nicht verbergen, dass Scheit nicht aus Unfähigkeit zu seinen merkwürdigen Schlüssen kommt, sondern weil sie ihn zupasskommen. Da er als Adornoschüler das Ganze für das Unwahre hält, wird er kaum zu schätzen wissen, dass man ihn als wahrhaft spekulativen Denker loben muss. Er ist unfähig, sich zu einem Gegenstand einfache Gedanken zu machen. Das ist eine famose Eigenschaft bei einem Theoretiker, schließlich bedeutet Theorie, die Welt begrifflich zu erfassen, und wenn die Welt etwas erwiesenermaßen nicht ist, dann einfach. Scheits Hauptthema ist, wie immer er selbst es nennen mag, die Widerlegung der Romantik. Der moderne Antisemitismus ist, wie man weiß, ein Kind der Romantik und von seiner Struktur ihr ähnlich. Wie diese ist er Kapitalapologie vermittels antikapitalistischer Phraseologie (die sich beim Antisemitismus besonders auf die Erscheinungsformen des Kapitals bezieht). Vielleicht erklärt sich die intime Beziehung zwischen Romantik und Antisemitismus schon vollständig daraus. Gerhart Scheit seziert mit Vorliebe konkrete Früchte der romantischen Ideologie. In »Suicide Attack« z.B. untersucht er die ideellen Strukturen des Terrorismus. Dass die Annahme, mit Attentaten Politik machen zu können, eine Frucht der Romantik ist, darf seit Carl Ludwig Sand als offensichtlich betrachtet werden. Auch Scheits »Wahn vom Weltsouverän« ist nicht übel. Mit Hegel und Hobbes gegen das Völkerrecht zu argumentieren ist Gegenromantik im besten Sinne und offenbart, dass die theoretisch ebenso dürftig wie falsche Auffassung der internationalen Abkommen, Chartas und Absichtserklärungen als veritable Rechtsformen (vergleichbar mit der Verfassung, dem Zivil- oder Strafgesetzbuch eines Staates) zu einer irrationalen Politik führen muss. Scheit, will ich sagen, kann sich auf seine Sagazität einiges einbilden, aber die Kehrseite dieser Eigenschaft offenbart sich, wenn er einmal nicht seine gewohnten Gegner analysieren soll.

Das spekulative Denken, obgleich eingestanden die schwungvollste Form des Denkens, birgt die Gefahr, sich ganz in sich zu versenken. Gerade weil es nicht mehr bedarf als einer Prämisse und allen weiteren Fortgang vermittels Logik vollzieht, kann es leicht den Kontakt zur Wirklichkeit verlieren. Dergleichen geschieht, wenn der betreffende Denker unachtsam ist, oder aber, wenn er es beabsichtigt. Der ganze Sinn des Scheitschen Kommentars besteht darin, dem Irren Breivik die exakt entgegengesetzten Motive zu unterstellen, als der tatsächlich und nach eigenem Bekunden hatte. Auch jemand, der Scheit sehr wohlwill, muss zugeben, dass es für ein solches Vorgehen ein einfaches und nicht schönes Wort gibt. Das Motiv, das Motiv des Attentäters umzudeuten, ist leicht auszumachen: Scheit hat ein Problem mit dem Islam, Breivik auch, und Scheit mag nicht in einer Welt leben, in der ein Anhänger seiner Richtung solch scheußliche Dinge tun kann.

Ein Gefühl, das sich gut nachvollziehen lässt, und die Aufregung eines Robert Misik, der europäische Islamophobiker wie Henryk Broder quasi zu Mittätern von Utøya hysterisiert[7], sollte nicht unwidersprochen bleiben. Doch es muss möglich sein, in der Sache gegenzureden, ohne den Sachen neue Gewänder umzulegen. Bei Scheit jedoch tritt die spekulative Eigenart hervor. Ist der Motor erst einmal angeworfen, guckt der Fahrer nicht mehr aus dem Fenster. Dann geht es, wenn nicht eine Mauer sich unfreundlich in den Weg stellt, immer geradeaus dem Sonnenuntergang entgegen. Breiviks Motiv, teilt Scheit mit, sei nicht Antiislamismus, sondern »purer Neid auf den Islam«, genauer: »als Hass hervortretende(r) Neid«.

Und wieder gibt es Fisch zum Mittag. Breiviks Ablehnung des Islam sei also recht eigentlich Islamismus. Das Argument ist so offenkundig fishy, dass selbst sein Urheber unterlässt, es deutlich auszusprechen. Offenbar kann, wer Kinder ermordet, kein Gegner des Islam sein, da dergleichen (sollte ich sagen: bekanntlich?) nur Islamisten tun. Wo aber wäre die Ideologie, wo die Untat, mit der diese Argumentation nicht funktionierte? Der Reichstagsbrand war keine faschistische Tat, sondern Ausdruck puren Neids auf die Kommunistische Bewegung, die 1917 die ganze Welt in Brand gesteckt hat. Das Massaker von Katyn war kein Kriegsverbrechen der Roten Armee, sondern lediglich den Verbrechen der Deutschen Wehrmacht nachempfunden. Der Bombenabwurf über Hiroshima war kein Mittel imperialistischer Kriegsführung, sondern Ausbruch versteckter Bewunderung für das Japanische Regime, das sich Skrupel, eine Atombombe einzusetzen, ganz gewiss nicht geleistet hätte. Schuld wären demnach nicht die Täter und ihr Denken, sondern, wenn zwar nicht gleich die Opfer, so doch immerhin die Gegner der Täter. Der Gedanke ist kindisch und folglich weit verbreitet.

Wiewohl jede politische Richtung – die eine freilich mehr, die andere etwas weniger – ihre Untaten vorzuweisen hat, ist es das vorzügliche Geschäft ihrer jeweiligen Anhänger, grundsätzlich und immer die Untaten der eigenen Richtung zu leugnen, abzuschwächen oder einer anderen Richtung zuzuschreiben, während die der anderen Richtungen grundsätzlich nicht geleugnet, abgeschwächt oder wem anders zugeschrieben werden dürfen. Und Scheit leitet aus diesem Affekt, der als unmittelbare Reaktion auf die norwegischen Ereignisse vielleicht noch entschuldbar wäre, ein allgemeines Gesetz ab: »Wer hier wie auch sonst von Islamophobie spricht, hat nichts anderes im Sinn, als Antisemitismus zu verschleiern. Es gibt keine Islamophobie. Es gibt Antisemiten, die entweder links oder rechts stehen, die für oder gegen den Islam sind.«

Das gegen Tatsachen erhabene Denken nennt sich Ideologiekritik und kann, solange es keinen Anspruch auf theoretische Alleinherrschaft erhebt, eine nützliche Sache sein. Die historische Perspektive ist manchmal blind für das, was durch die Zeiten hindurch wirksam bleibt. Da ist eine dezidiert nicht-historische, betont geistig-strukturell orientierte Perspektive ein gutes Korrektiv. Und trotzdem ist es unmöglich, etwas Sinnvolles über eine gesellschaftliche Erscheinung zu äußern, wenn man von ihrem konkreten Gehalt vollständig absieht. Genau das aber tut Scheit hier und legt somit einen – strukturellen – Offenbarungseid ab. Über den modernen Antisemitismus sagt man, dass sein Merkmal der Anspruch ist, die gesamte Welt zu erklären. Dasselbe tut Scheit, indem sich für ihn alles und restlos aus dem Antisemitismus erklärt. Es ist dieselbe Kaprice, nur nicht vermittels des Antisemitismus, sondern zum Zwecke seiner Widerlegung. Man täte der Struktur nicht das Mindeste an, kehrte man ihre Tendenz um: Es gibt keinen Antisemitismus, sondern nur Neid auf das Judentum und also entweder kaschierten oder offenen Zionismus. Die Wirklichkeit sträubt sich natürlich, dem Scheitschen Gesetz (und seiner Konversion) zu folgen. Es gibt, soweit ich sehe, überhaupt keine gesellschaftliche Erscheinung, die keine Feinde hätte, und der Islam wäre gewiss eine der letzten, die im Verdacht stünde, ohne Feinde zu sein. So aberwitzig die heute oft geäußerte Behauptung ist, Islamhass sei der Antisemitismus der Gegenwart, so abwegig ist die Vorstellung, im Zusammenhang mit Islamophobie lasse sich ausschließen, was allzu oft hinter dieser Haltung steckt und sie motiviert: ordinäre Xenophobie.

Auch die Kulturkritik, die ja mit Argumenten arbeitet, bedient das Stammtischgerülpse auf Netzwerken wie PI-News & Achse des Guten, das man vor 10 Jahren noch ohne Schwierigkeiten als Ausländerhass erkannt hätte. Heute kann sich jeder Idiot als Vertreter des Abendlandes fühlen, kann, ganz gleich, was für eine erbärmliche Vorstellung als Individuum er abgibt, seinen Mehrwert durch Zugehörigkeit zum europäischen Kollektiv spüren. Eine gesittete, vom aufklärerisch-religionskritischen Standpunkt aus vorgenommene Kritik des Islam wird sich dabei fragen lassen müssen, warum sie das ihr nachtropfende Fußvolk nicht strikt von sich weist, und solange sie das nicht tut, ist schwer einzusehen, woher ausgerechnet sie das Recht nehmen sollte, israelischen Linken vorzuwerfen, was man ihnen durchaus vorwerfen muss, dass sie sich nämlich nicht gründlich genug vom antizionistischen Zulauf aus Deutschland distanzieren.

—–

[1] Henryk M. Broder: Islamkritik ist nicht vergleichbar mit Judenhass. In: Die Welt v. 12. Januar 2010.

[2] 2009 auf dem Ostermarsch in Kassel: »Der Antisemitismus wurde das, was er wirklich ist: Eine massenmordende Bestie. Und deswegen dürfen wir nicht zulassen, dass man den Begriff des Antisemitismus für alles und jeden inflationiert. […] Antisemitismus ist Massenmord und muss dem Massenmord vorbehalten bleiben.« (https://www.youtube.com/watch?v=GAZ8CU9m_JI).

[3] Werner Pirker: Asoziale Revolution. In: junge Welt v. 26. Juni 2009.

[4] Über seine Dialogbereitschaft mit deutschen Antisemiten äußerte er 2004 auf Nachfrage von Gremliza: »… da die israelische Regierung hier inzwischen die Barbarei durchzieht, die israelische Opposition schon seit guten 12 Jahren nicht mehr existiert, israelische Linke zur Einsicht gelangt sind, daß sie den Diskurs ins Ausland tragen müssen (vielleicht wird von dort die ›Erlösung‹ kommen; im eigenen Land wird’s immer enger und immer schwerer, noch etwas zu tun); da zudem die guten deutschen Linken sich einen Scheißdreck um die Barbarei hier kümmern, die antideutschen Arschlöcher die Barbarei der IDF absegnen, muß sich unsereins halt mit dem begnügen, was sich ihm anbietet« (zit. n. Hermann L. Gremliza: Time to say goodbye. In: konkret 3/2011.

[5] Moshe Zuckermann: Eine Lachnummer. In: junge Welt v. 11. Juni 2011. – Der Gedanke hat eine Geschichte. Soweit mir bekannt, geht er auf den antikommunistischen Hampelmann Gerhard Zwerenz zurück (vgl. Ders.: Linker Antisemitismus ist unmöglich! In: Die Zeit 16/1976).

[6] Gerhard Scheit: Es gibt keine Islamophobie. In: Jungle World 32/2011.

[7] »Prima Klima für Einzeltäter« (taz v. 27. Juli 2011)

Sorry, the comment form is closed at this time.