Aug 172013
 

 

für Johannes Zuber,
dessen letzten Rat ich hiermit
befolge

 

Das Leben hat nur eine Richtung, die auf sein Ende. Der Tod folglich bestimmt das ganze Leben und muß doch, damit er das kann, außer dem Leben sein. Es stirbt der Mensch, solang er lebt. Und nur solange er stirbt, lebt er.

Der Tod wird gedacht als Verlust. Mord zum Beispiel ist, wenn einer einem die verbleibende Zeit stiehlt. Wer einem anderen Zeit stiehlt, folglich, mordet in Raten. Wer mir Zeit stiehlt, ist mein Feind.

Aber dagegen spricht: Das Leben wird mit Leben bezahlt, die Währung sind Lebensjahre. Wo ein Leben endet, wurde eine Rechnung beglichen. Am Ende des Lebens steht auf der Habenseite 1 Leben und auf der Sollseite 1 Lebenszeit. Der Tod ist ein Ausgleich. Wahrscheinlich ist er deswegen so ruhig. Nichts ist friedlicher als der Tod.

Der Tod ist die Negation des Lebens. Und zugleich seine Vollendung. Lebendig ist das Unvollständige, in dem noch Möglichkeit ruht. Das Vollkommene ist tot. Was nicht gegen das Vollkommene spricht. Wenn es überhaupt spricht, dann eher für den Tod. Denn dessen Bedeutung hängt von dem ab, was er negiert. Je größer das Leben, desto größer der Verlust.

Aber der Satz stimmt nur halb. Sicher, es gibt Menschen, an denen selbst der Tod noch komisch ist, Augusts von Kotzebue etwa, Jürgen W. Möllemanns oder Michael Jacksons. Anderseits wird auch keiner den Tod Goethes, de Gaulles oder Loriots tragisch nennen. Am Ende eines langen Lebens von Großtaten abzutreten ist kein Unglück. Wenn man dagegen an den Tod Ronald M. Schernikaus denkt, rührt einen durchaus Tragisches an. Ich hätte auch Georg Büchner oder Paul Hunter sagen können, oder Peter Szondi, der allerdings die Vierzig ebenso wie den Stand des Genies erreicht hatte und aufgrund von Selbstbeibringung aus der Reihe derer ausscheidet, deren zu allzufrüher Tod ausschließlich tragisch zu finden wäre. Ich bleibe der sicheren Aussicht auf Größe wegen bei Schernikau.

Wir trauern nicht um das Ende des Lebens, sondern dann, wenn in dem beendeten Leben noch Möglichkeiten steckten. Daß Schernikau nicht zeigen konnte, wozu er als Mann von vierzig Jahren fähig gewesen wäre, daß ihm diese Möglichkeit genommen wurde durch das fiese HIV-Virus, das ist, was noch heute, zwanzig Jahre später, traurig macht. Die Trauer bezieht sich also nicht auf das Geschehene, sondern auf das, was nicht geschehen ist. Nicht darauf, daß etwas Wertvolles beendet wurde, sondern darauf, daß etwas von Wert nicht zustande kam. Die größte Trauer befällt uns allgemein, wenn ein Kind stirbt. Eben darum. Sicher auch deswegen, weil Kinder sich im Stand der Unschuld befinden. Doch Unschuld ist nur ein anderes Wort für unverwirklichte Möglichkeit.

Mit dem Tod geht nur zu leben, wenn man ihn dort läßt, wo er hingehört: jenseits des Lebens. Der oft originelle Michel de Montaigne schlägt vor, die Angst vor dem Tod dadurch zu überwinden, daß man sich in jedem Augenblick des Lebens vor Augen führt, daß man das Glück hat, noch am Leben zu sein. Nur, wer soll denn so arbeiten? wer so leben? Von allen Tätigkeiten gilt, daß man sie besser tut, wenn man sie ganz tut. Und gewisse Tätigkeiten kann man überhaupt nur verrichten, wenn man davon absieht, daß man eines Tages Staub sein wird. Von Bloch kenne ich ein Gleichnis, das er Voltaire zuschreibt: Einem Schwimmer im Ozean solle man nicht zurufen, es gebe kein Land. Wenn es aber, das Bild etwas fortzudenken, wahr ist? Sagt man dem Schwimmer dann, daß er niemals ans Land kommt? Und wenn, noch weiter fortzudenken, der Schwimmer selbst wüßte, daß er kein Land erreichen wird? Wäre er nicht auch dann besser beraten, weiter zu schwimmen, sollte er nicht auch dann sich verhalten, als ginge Land zu erreichen?

Es bleibt paradox. Einerseits ist das Wissen um die Grenze nötig. Wir begreifen, daß wir nicht ewig Zeit haben. Also müssen wir handeln. Andererseits führt das Wissen um die Absolutheit dieser Grenze zur Resignation. Am Ende ist alles Staub, wofür also handelt man überhaupt? Daher muß, was gewußt wird, wieder verdrängt werden. In diesem Sinne heißt leben sich zu stellen, als ob es kein Ende gebe. Wir wissen also und wissen es nicht. Wir wissen und wollen nicht wissen. Wir wissen und sollten nicht wissen wollen. Dieser Unterschied zwischen Erkenntnis und Erkenntnishaltung ist uns aber vertraut. Seit Hegel hat man einen Begriff vom Wissen, der der Ohnmacht gegen das Absolute die praktische Denktätigkeit entgegensetzt und fordert, die Grenzen des Wissens nicht a priori, durch äußerliche Setzung, sondern von innen her, durch die Tätigkeit des Denkens selbst, bestimmt sein zu lassen. Ganz ähnlich sollte auch das Vermögen einer ästhetischen Gattung nicht verstanden werden als platonische Bestimmtheit, sondern als das, was die Gattung in der ästhetischen Praxis vermag. Was das Drama kann, zeigt sich in den geschichtlich hervorgebrachten dramatischen Stücken, was die Architektur kann, in den vorhanden Gebäuden usw. Niemand weiß, wo einmal das veritable Ende erreicht sein wird, ehe es erreicht ist. Und wie bei der menschlichen Erkenntnis, wie bei den ästhetischen Gattungen werden auch die Grenzen des Lebens von innen her bestimmt. Was möglich war, zeigt sich in dem, was wirklich wurde. Ein Ende vor dem Ende zu setzen, ob gedanklich oder in der Tat, ist immer vorschnell, ein Fall verfrühter Resignation.

Die Angst vor dem Tod ist nicht irrational. Jeder hat sie, die sie leugnen, ganz besonders. Irrational wäre, keine Angst vor dem Tod zu haben, irrational ist, sich einzureden, man habe keine Angst vor dem Tod. Worauf es doch eher ankommt, ist, sich von seiner Angst um den Tod nicht irre machen zu lassen. Ideen sollte man besitzen, nicht von ihnen besessen sein. In der Angst vor dem Tod drückt sich der tiefste Trieb des Lebenden aus: die Selbsterhaltung. Der tiefste und zugleich ärmste.

Ich will mich nicht mit den Verfechtern sämtlicher Triebtheorien anlegen. Ich bin hier ganz prima vista, grob und ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ich würde sechs Triebe unterscheiden: Selbsterhaltung, Arterhaltung, Sexualität, Macht, Anerkennung und Spiel. Arterhaltung und Sexualtrieb haben miteinander zu tun, sind aber nicht identisch. Gleiches gilt von Selbsterhaltung und Machttrieb. Macht dient der Selbsterhaltung, Sexualität der Fortpflanzung, aber beide können nur dienen, weil sie in ihrem Wirken ganz sie selbst sind. Sie haben damit zugleich die Tendenz, sich zu verselbständigen. Anerkennung ist nach meiner Vermutung der Kern jeglichen sozialen Strebens; die ersten sozialen Interaktionen, die ein Kleinkind vollzieht – von der Lieblingsspeise abgeben, einen Kuß erwidern, einen benötigten Gegenstand herbeiholen etc. –, tut es der Liebe wegen, die es dafür erfährt. Der Trieb zur Gemeinschaft, der sich bei älter werdenden Menschen zeigt, wäre demnach ein bereits vermittelter, abgeleiteter, nur in einem ideellen Überbau lebensfähiger. Letztlich tut auch der erwachsene Mensch alles, was er tut, für Anerkennung. Der Mensch ist dem Menschen jener Spiegel, durch den allein erkannt und gefühlt wird, was oder wer man ist. Das soziale Streben hat aber mit Fug das Vermögen, über die bloße Anerkenntnis hinauszugehen. Aus dem »Und doch, welch Glück, geliebt zu werden« wird das »Und lieben, Götter, welch ein Glück«. Von Liebe läßt sich erst dort reden, wo sich der Mensch ins Aktive wendet. Lieben heißt menschlich sein, und menschlich sein bedeutet, sich vom Bloßmenschlichen zu emanzipieren. So unmöglich es ist, wahrhaft zu lieben, ohne nicht auch geliebt zu werden, so sehr läßt sich doch erst von Liebe sprechen, wenn sich das Lieben vom Geliebtwerden lösen kann. Auch hier wieder muß der Mensch vergessen können, wenn er sich erinnern will. Der Spieltrieb schließlich ist Trieb zur Trieblosigkeit. Spielen kann bestimmt werden als das, was man um seiner selbst willen tut. Nicht, um etwas zu beweisen, zu überleben, Druck abzulassen oder sonst was, sondern einfach in Anwendung der Phantasie und des freien Willens Zeit rumzubringen mit einer Sache, die keinem äußerlichen Zweck dient. Spielen ist Zerstreuung, Entspannung, Leidenschaft, freie Zeit, und zugleich die Wurzel jeglicher ästhetischer und wissenschaftlicher Betätigung. Und auf einer verquere Weise notwendig. Spielen ist das, was unterbleiben könnte, aber nicht unterbleiben kann.

Der tiefste und ärmste Trieb, sagte ich. Selbsterhaltung, sagte ich. Alles ließe sich vom Leben abziehen, Vergnügen, Sex, Selbstwirklichkeit, Gemeinschaft, Liebe, freies Spiel. Die Sorge um Schutz, Wärme und Nahrung nicht. Ein grauenhaftes Leben wäre, das auf den Rest verzichten müßte, aber immerhin ein Leben. Der Überlebenstrieb in seiner ganzen Erbärmlichkeit und Abgezogenheit ist folglich der umfassendste von allen. Er ist die Wurzel aller Ökonomie und aller Politik. Und selbst diejenigen gesellschaftlichen Bereiche, die auf dem Spieltrieb beruhen, etwa die Kunst, die Wissenschaft oder der Leistungssport, sind in ihrer gesellschaftlichen Form vom Überlebenstrieb affiziert und in ihrer Ausübung abhängig davon, ob er sie gestattet oder nicht.

Wenn Selbsterhaltung eine Art Kern ist, dann ist Arterhaltung die Schale. Die Familie, die Sexualität, die Lust, sich Gefährten zu suchen, das alles hängt unvermittelt mit der Arterhaltung zusammen. Die Arterhaltung ist eine verlängerte Form der Selbsterhaltung, eine, die sich erst über das Andere herstellt. Wir wollen, will ich sagen, nicht bloß selbst überleben. Wir wollen, daß wir im Anderen überleben. Wir wollen, mithin, daß etwas überlebt. Und an diesem Punkt fällt mir Cuaróns »Children of Men« ein. Dieser Film stellt die Frage, wie wichtig der Gedanke der Arterhaltung für das menschliche Selbstverständnis ist. Unstrittig ist, daß die Selbsterhaltung und das menschliche Verständnis davon das Leben bestimmt. Die Frage nach dem Tod ist immer die Frage nach dem Umgang mit dem Tod. Denn der Tod ist das Ende aller Fragen und aller Antworten; er ist die Frage, auf die es keine Antwort gibt und vor der alle Antworten versagen. Alles im Leben eines Menschen relativiert sich darin, daß er endlich ist, daß er einmal nicht mehr sein wird. Hatten wir. In »Children of Men« aber stirbt nicht der Mensch, es stirbt die Menschheit. Unfruchtbar geworden, zeugen die Menschen keine Nachkommen mehr und sehen einem Dunkel entgegen, das ihre Zukunft ist. Jedem einzelnen Menschen könnte die Sache egal sein. Er selbst hat nichts davon, daß die Welt nach seinem Tod weiter existiert. Und auch diejenigen, die man liebt, sind von der Lage unbetroffen. Kein Mensch, der einmal geboren ist, muß deswegen sterben, und doch bedrückt die Weltlage, die dort erzählt ist, zeichnet Film ungeheuer authentisch und unvermittelt nachvollziehbar eine düstere Stimmung, in der die Menschheit, in diese Lage gebracht, nur sein kann. Die Angst bezieht sich nicht auf das Gegenwärtige, sondern auf etwas, das nicht existiert: die Zukunft. Auch das hatten wir schon: Nicht die geraubte Wirklichkeit ist das, was verdrießt, sondern der Verlust der Möglichkeiten. »Children of Men« zeigt den Menschen als ein gesellschaftliches Wesen, zeigt, daß der nicht nur liebt, was er lebt, sich selbst also, sondern ebenso auch das, worin er lebt, die Menschheit. Wo die Hoffnung aufhört, endet auch das Menschliche, denn der Mensch ist das Tier, das hofft. Und unsere Hoffnungen beziehen sich nicht allein auf uns persönlich, sondern zu einem stattlichen Teil auf das Schicksal der Allgemeinheit.

Am besten wäre, man stürbe gar nicht. Aber wem passiert das schon? So zeugen wir Andere in der undurchdachten Hoffnung, dadurch eine andere Art sekundäre Unsterblichkeit zu erlangen. Lesen Sie ruhig das erste Sonett William Shakespeares. Er hat mich offenbar verstanden.

Von der Sterblichkeit des Weltalls versuche ich im übrigen zu schweigen. Sie paßt mir nicht und stört beim Nachdenken über die menschliche Sterblichkeit.

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