Sep 192013
 

MRRs Abgang muß nicht betrauert werden, wenn gilt, was ich kürzlich geschrieben habe: »Am Ende eines langen Lebens voller Großtaten abzutreten ist kein Unglück.« Bei dieser Gelegenheit fielen, exemplarisch, die Namen Goethe, de Gaulle und Loriot. In diese Gesellschaft gehört MRR. Vielleicht.

Es ist nicht einfach. MRRs Lebenswerk besteht darin, einen Beruf, der Genie eigentlich ausschließt, als Genie ausgeübt zu haben. Er war ein besserer Schriftsteller und klügerer Kopf als die meisten derer, über die er als Kritiker schrieb. Das ist rar und läßt sich vielleicht überhaupt nur so erklären, daß dieses Genie MRR ein ganz und gar unpoetisches Genie war, eines, dessen Qualität im Aufspüren und Bewerten von Gedanken und ästhetischen Wirkungen liegt, nicht jedoch darin, solche selbst hervorzubringen. Ein Genie des Sekundären. Gibt es das? Ich sagte ja, es ist nicht einfach.

Irrtümer blieben natürlich nicht aus. Er hat sich mit negativen Urteilen über Hermann Kant und Arno Schmidt ebenso blamiert wie mit Lobpreisungen von Günter Grass und Uwe Johnson. Kolossal geirrt, aber auch das seltener als seine Kollegen. Ein Genie trifft vielleicht in zwei von drei Schüssen. Ein genialer Kritiker etwa in einem von drei. Der durchschnittliche Berufstand der Rezensenten macht dann aus dem einen Drittel ein Dreizehntel. Man muß sich durch zwölf Texte durchquälen, ehe man auf einen guten trifft. Uns diese Mühe erspart zu haben ist, ich sagte es schon, MRRs bleibendes Verdienst.

Seine Irrtümer erhellen zugleich seinen einzigen veritablen Schwachpunkt. Ästhetisch urteilte er fast immer wie ein Lukácsianer, bürgerlich-human, in den Maßstäben von Klassik und Realismus, aber die Politik durfte ihm nicht dazwischen kommen. Immerhin besaß er genug Instinkt, zu Peter Hacks, der für ihn ab 1976 gleichfalls gestorben war, bloß zu schweigen, anstatt sich, wie die meisten der Zunft, mit ästhetischen Abwertungen an ihm zu blamieren. Erst 2004, nach Hacksens wirklichem Tod, revidierte er »ganz leise und schüchtern« sein Schweigen und hielt ihn hoch, als gäbs kein Gestern. Es war auch nichts anderes als politischer bzw. geschäftsmäßiger Opportunismus, der MRR dazu trieb, Günter Grass, dessen literarische Belanglosigkeit von ihm schon früh – bei der Lektüre der »Blechtrommel« nämlich – erkannt worden war, in den folgenden Jahrzehnten hier und da doch immer wieder zu loben. Erst spät, anläßlich der antisemitischen Ausfälle von Grass, hat er das, doch auch wieder ein wenig leise und schüchtern, bereut (Volker Weidermann: »Sie haben beide davon profitiert, vom wachsenden Ruhm des Günter Grass.« – MRR: »Ja, mag sein.«).

Es ist sehr schwer für einen Kritiker, besser zu sein als seine Zeit. Selbst dann, wenn er es ist. Er muß sich der Mitwelt unterwerfen, da er ja von der Nachwelt nichts zu erwarten hat. Im günstigsten Fall wartet auf ihn Nachruhm der Art eines Sainte-Beuve, Kerr oder Polgar. Der Kritiker ist ein minderer Homme de lettres. Er gehört also zur Schmuddelfraktion der Schmuddelfraktion, und wenn man ihn in ferneren Säkeln noch kennt, dann sicher nicht, weil man ihn gelesen hat. Er kann noch so gut gewesen sein, man erfährt es nicht. MRR gehört wie Sainte-Beuve wie Polgar auf den Dampfer, aber sein Quartier liegt vorm Mast. Das mag ungerecht sein, aber weshalb sollte der Weltgeist bei seiner Auswahl rücksichtsvoller sein als der Zeitgeist bei der seinen?

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