Apr 152015
 

Noch einmal denkt, noch einmal, liebe Freunde! Es war vorauszusehen, daß Grassens Tod zu Witzen führen wird. Es war vorauszusehen, daß das Leute ärgern wird. Ich versuche, diesen Widerspruch so gerecht, wie mir möglich, zu behandeln, weil ich beides, den Spaß und den Ärger über den Spaß, ein wenig verstehen kann. Nun wird, wie ich sehe, auf den sozialen Netzwerken stark darüber diskutiert, ob, wann, wo & wie Witze über einen Frischverstorbenen in Ordnung sind.

Boshaftigkeiten gegen gerade Verstorbene sind nicht in Ordnung. Sowas macht man einfach nicht. Aber das Leben besteht aus Handlungen, die man einfach nicht macht, und dann eben doch. Es gibt immer Gründe, manchmal gute, manchmal schlechte. Die Boshaftigkeit, die Grass sogar kurz nach seinem Ableben zuteil wird, dann also, wenn in gewöhnlichen Fällen alles erst einmal innehält, hat viel mit dem zu tun, was er der Welt hat zuteil werden lassen. Dieser schlechte Dichter und schlechtere Denker, Antikommunist und Antisemit, hat sich als Intrigant und Wadenbeißer des Literaturbetriebs von eben jenem Betrieb einen Status herbeirezensieren lassen, der ihn zum unsterblichen Helden der bürgerlichen Mitte machte, jenem Milieu also, das sich seine Unsicherheit in Kunstfragen täglich vom Führungsoffizier im Feuilleton der jeweiligen Tageszeitung überbrücken läßt. Dieser Betrieb hat so oft wiederholt, daß dieser Grass ein großer Dichter sei, daß irgendwann alle, und am Ende gar der Grass selbst, daran geglaubt haben. Und Grass seinerseits leitete aus dieser Stellung, für die er nichts konnte und die er nicht verstanden hat, das Recht ab, seine Nation von einer Fatwa zur nächsten zu jagen, ihr unentwegt den Mahner und Lehrer zu machen. Daß diese politische Aufdringlichkeit ihrerseits bereits Ausdruck einer schöpferischen Krise war, paßt dort ins Bild, wo der hohe Status bloß äußerlich ist.

Es ist wichtig zu verstehen, daß die Reaktionen auf Grass immer schon Reaktionen auf eine bestehende Schieflage, auf einen vorsätzlich am Laufen gehaltenen Mythos sind, der nicht bloß einfach da ist und wirkt, sondern durchaus drückt und dort, wo Grass ihn seiner politischen Hetze dienstbar machte, genau diejenige destruktive Gefühlslage befördert hat, die Grass selbst seit längerer Zeit, und so auch jetzt, entgegenschlägt. Es ist wichtig zu verstehen, daß diese Bosheit gegen Grass eigentlich die Bosheit des Grass ist, und damit folglich auch, daß gegen Grass boshaft zu sein genaugenommen auf sein Niveau zu sinken bedeutet.

Es ist aber gleichfalls wichtig, die Bosheit, die dem Witz vorausliegt, von der Bosheit des Witzes selbst zu unterscheiden. Natürlich ist jeder Witz über Grass eine nachträgliche Niederlage gegen diesen Quälgeist. Aber wenn sich Abscheu schon äußern muß, warum dann nicht als Heiterkeit? Die Figur Grass mit all ihren Macken macht das möglich. Wo Bosheit auf technisch gute Weise im Witz aufgelöst wird, ist sie nicht bloß statthaft, sondern beispielhaft. Das destruktive Gefühl kann etwas sehr schönes schaffen: ein kleines Kunstwerk, einen Witz.

»Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Äschylus, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen des Lukian. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide.«

Karl Marx (MEW 1, 382)

Der Witz hat immer recht. Was je in der Welt passiert, im Witz wird es zum Anlaß degradiert und hat allein darin, Vorlage eines Witzes geworden zu sein, sein Daseinsrecht. Vermutlich ist Lachen ein Ausdruck der Hilflosigkeit. Aber wer lacht, ist schon nicht mehr ganz hilflos. Die Frage ist nie, worüber man Witze machen darf. Die Frage ist, ob der Witz gut ist.

Einen sehr guten Witz machen auch Leute, die anderen Witzbolden mitteilen, daß ihnen die Grasswitze noch peinlicher sind als der Grass selbst. Es gibt nur eines, was wirklich peinlich ist, und das ist die Peinlichkeit. Sie nämlich setzt eine unerbetene Identifikation voraus. Wenn Person A Person B mitteilt, daß ihr das Betragen von Person B peinlich ist, dann macht Person A sich Person B gegenüber aufdringlich, gemeindet sie ungefragt in ihr persönliches Empfinden ein und unterwirft sie ihm. Man kennt das Verhalten von Teenagern, die sich für ihre Eltern schämen, abwechselnd, weil die nicht cool genug sind oder auf uncoole Weise cool zu sein versuchen. Die kleinen Geister haben ein Problem mit sich selbst und machen es zu einem der Eltern. Dahinter steckt nicht mehr als etwas Wichtigtuerei, Unsicherheit und Frust über einen am unbeschwerten Spaß geleisteten Verzicht. Wie auch beim Witz käme es hier darauf an, den Ärger in eine Form zu bringen, die für sich einen Wert hat, in diesem Fall z.B. in eine sinnvolle Begründung.

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