Feb 072016
 

Eine Gruppe zieht durch die Wildnis. Einer wird verletzt, und die Gruppe dadurch gefährdet. Soll er zurückgelassen werden, damit die Gruppe überlebe? Soll man ihn durchbringen und die Gruppe so gefährden? Das ist das Setting von Brechts »Jasager & Neinsager«. Das ist auch das Setting von »The Revenant«, jenem Filmstück, in dem der hier sinnlos verschwendete DiCaprio den halbtoten und mühsam ins Leben zurückkeuchenden Trapper Hugh Glass spielt. Wo Brecht sich dem gedanklichen Potential des Stoffs stellt, wenn auch etwas schematisch und abgezogen, erledigt »The Revenant« diesen eigentlich interessanten Teil der Geschichte – die Möglichkeit nämlich, das Kollektiv als allmählich in sich entzweites zu zeigen – innerhalb weniger Minuten. Was vorausging, war eine selten mehr als träge Einleitung. Was folgte, ein nicht enden wollendes Schnauf- und Kriechdrama.

Das Schnaufen und Kriechen hat – ein hinreißend schlauer Mensch brachte das auf den Punkt – etwas vom Ironman. Der Film spart nicht mit intensiven Eindrücken. Die Kulisse, der Sound, die Farben, die Einstellungen, die Einfälle der Regie – alles, was man am Film technisch kennen kann, ist nicht bloß hervorragend. Die Nähe, vermittels der der Zuseher gezwungen wird mitzuleiden, ist meisterhaft aufdringlich, fast pornographisch. Man grunzt und röchelt analog zum Helden, man duckt sich, blutet aus, friert, der Puls geht hoch, und das quälend retardierende Fortkommen des Verletzten, das unangenehm an Mel Gibsons »Passion Christi« erinnert, leistet seinen Teil. Man fühlt sich mit einem Wort frisch gefickt. Auch das ist ja nicht in jedem denkbaren Fall ein schönes Gefühl.

Schon während man ungefragt zum Mitschnaufen gezwungen wird nämlich, stellt sich eine unerbittliche Langeweile ein. Im Kinosaal kommt erschwerend hinzu, dass man den Streifen nicht anhalten kann, um sich mittendrin bei einer Partie Mikado und einer Tasse Stroh 80 etwas Zerstreuung zu verschaffen. Es gibt zweieinhalb Stunden lang kein Entkommen. Wie geht das zusammen, dass ein Film zugleich so intensiv und langweilig sein kann?

Es geht. Man muss ihm bloß alle anderen Vorzüge nehmen, die er gleichwohl haben könnte. Im »Revenant« passiert eigentlich nichts. Weder in den Figuren noch zwischen ihnen. Es wird nur schier endlos wie träge überlebt, und irgendwann stirbt dann doch der andere. Der Fabel fehlt es an interessanten Wendungen, an Komplexität und Ökonomie des Geschehens, an intelligentem Suspense, Peripetien und ernstlichen Kollisionen (von der einen großen mal abgesehen). Den Figuren wieder fehlt es an Tiefe, inneren Konflikten und Entwicklung. Die eine Ausnahme bleibt hier das Spiel von Forrest Goodluck, der in ein stilles Gesicht ein Bündel sich widersprechender Gefühle und die Zerrissenheit des Außenseiters packt, der mutig ist und ängstlich, voller Stolz und Minderwertigkeitsgefühl, der seinen Vater liebt und seinetwegen verstört ist, der für ihn kämpfen will und Wut gegen ihn empfindet, als der ihn daran hindert. Dieser Höhepunkt in einem Ensemble der reduzierten Gefühle – denn die emotionale Intensität, die der Zuschauer erfährt, kommt nicht vor allem aus den Figuren selbst, sondern aus ihrer Agonie – ist zu vereinzelt, um das ganze Werk tragen zu können. Was sicher auch daran liegt, dass die dialogische Armut des Films den Figuren verunmöglicht, innere Kollisionen, sofern vorhanden, auszudrücken. Diktion wirkt als Handwerk, das selbst schlecht konzipierte Filme manchmal noch retten kann. Man kennt das etwa von Tarantinos Werken, die oft nicht mehr sind als ein flüchtig arrangiertes Bündel von Anlässen, hervorragend gearbeitete Diskussionen und Monologe abzuspielen. Der »Revenant« hat keine Dialoge, die genügend Witz oder intelligente Pointen besitzen, gegen langweilige Begebnisse und kaum interessante Figuren standzuhalten. So viel vorsätzlichen Ennui im heiligen Dreieck aus Handlung, Psychologie und Rhetorik hat es vermutlich seit Viscontis »Tod in Venedig« nicht mehr gegeben.

Woran der Film schließlich scheitert, ist, dass er sich nicht entscheiden kann, ob er einen physischen oder geistigen Plot erzählen will. Das ist insofern bemerkenswert, als er eigentlich als entschieden physische Handlung angelegt ist. Für einen geistigen Plot mangelte es, von den bereits aufgezählten Unzulänglichkeiten abgesehen, an Bedeutsamkeit der Betrachtungen. Philosophischer Höhepunkt des Streifens ist ein Offenbarungsgespräch über ein Eichhörnchen. Für einen physischen Plot hingegen mangelt es an Dynamik in der Fabel und Fülle der Ereignisse. Der »Revenant« erzählt einen Racheplot. Schon das kann man, wie anfangs mit Blick auf Brechts Lehrstück angedeutet, für einen Fehler halten, doch ist es ratsam, Entscheidungen, die im Ästhetischen fallen, zu respektieren und ihre Ausführung an genau diesen Entscheidungen zu messen, da allein die ja ein sinnvoller Maßstab sein können. Wer Rache schreiben will, sollte sie dann auch schreiben. Einen Plottypus kann man nur begreifen als Zusammentreffen aus Variablen und Konstanten, als einen streng begrenzten Raum mit einer Unzahl von Möglichkeiten also, die nur dank dieser Begrenzung vorhanden sind. Der Racheplot ist seiner Natur nach physisch. Was hier zählt, ist die Tat, und das schließt ihre Vorbereitung mit ein. In ihm geht es immer darum, dass ein Gleichgewicht wiederhergestellt wird. Lex talionis: Mord für Mord, aber auch Wert für Wert. Deswegen zählen nicht nur Filme wie »Spiel mir das Lied vom Tod«, »Leon der Profi«, »Kill Bill«, »The Punisher«, »Harry Brown« und »Lucky Number Slevin« hinzu, sondern auch »The Sting«, »Rosen für den Staatsanwalt«, »Now you see me« oder »Payback«. Die Aufzählung dieser Filme zeigt, was dem »Revenant« fehlt.

Der Protagonist muss durchaus geschädigt werden, es ist notwendig, sein Leid zu zeigen, doch das sollte nicht den Hauptteil des Films ausmachen. Es bleibt wichtig, dass der Zuschauer das Gefühl des Schadens miterlebt. Er lernt die Person, die dem Protagonisten genommen wird, mitlieben. Erst dieses Mitlieben setzt ihn in die Lage, die Rache nicht bloß als sadistisches Spiel oder Blutdurst zu sehen. Doch damit der Racheplot ein Racheplot sein kann, muss die Katastrophe des Films möglichst bald vollzogen sein. Die Planung der Rache ist für den Bau des Films ebenso wichtig wie ihre Motivation und ihr Vollzug. Für den Zuschauer ist sie der eigentliche Grund, ins Kino zu gehen. Hugh Glass aber ist zu beschäftigt mit seinem Motiv, um ernsthaft zu planen. Den größten Teil des Films handelt er nicht, sondern wird durch die Ereignisse bewegt.

Und mehr noch, der Rächer muss in dem, was er tut, als Fachmann erscheinen. Das Mitfühlen seines Verlustes schafft die Sympathie, das Erlebnis seines Könnens Bewunderung, und also die Lust, seinem im Grunde schmutzigen Handwerk zu folgen. Der Schlüssel zum Racheplot ist die Gewissheit, dass Rache eigentlich immer falsch ist. Der Plot muss es schaffen, diese nicht falsche Gewissheit für den Verlauf der Handlung in Vergessenheit geraten zu lassen. Dem »Revenant« gelingt das nicht, der Film dehnt den Verlust und das Moment der Lähmung unsäglich in die Länge, während die Revanche relativ lustlos und kaum geplant ihren Vollzug findet.

Dieser Film will nichts. Nichts als wirken. Folglich nichts. Und also wirkt er auch nicht. Wirkt, meint das, nicht nach. Man verlässt das Kino, schaut ins Smartphone und hat ihn schon vergessen. Weil keine Geste zurückbleibt, keine Haltung, keine Idee – außer vielleicht der, dass das Überleben in der winterlichen Wildnis erheblich schwerer ist, wenn sie einen auch noch versuchen umzubringen. Die körperliche Anstrengung ist das einzige, was zurückbleibt, und die geht mit dem ersten Muskelkater. Eine Stunde im Fitnessstudio hätte weniger gekostet.

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