Apr 302013
 

 

Das Trauerspiel

Der Gegenstand ist groß. Groß und weithin unbegriffen. Auch von denen, die er angeht. Was vorderhand wenig besagt, denn wann jemals hätte irgendein Volk auch nur irgendwas begriffen? Es geht um die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika, und um die Art, wie sie vonstatten ging. Die Vereinigten Staaten haben eine kurze und schwungvolle Geschichte, und man muß auf diese beiden Eigenschaften das gleiche Gewicht legen, auch weil heute von diesem Schwung nur noch wenig zu erkennen ist. Ich zögere, das Wort Konservatismus zu verwenden. Das ist es nicht ganz. Es ist eher eine generelle Zuneigung zum Tradierten, womit ich nicht die Todesstrafe meine, den 2. Verfassungszusatz, das Prostitutionsverbot, das Geschworenengericht oder andere in vielen oder den meisten Bundesstaaten wirksame Rudimente vor-ziviler Gesellschaft, hinter deren Bestand wenigstens noch so etwas wie ein politischer Gedanke steht, sondern das fast liebevolle Festhalten an Verfahren und Einrichtungen, die so harmlos wie beschwerlich sind, keinen Sinn haben und für die lediglich spricht, daß sie das Leben ein wenig aufregender machen: vom Filibuster bis zu Dixville Notch, von der Verfahrensweise des Electoral College bis zu den Skurrilitäten in der regionalen Gesetzgebung, von der Abneigung gegen die Maßeinheiten des SI-Systems bis zum teuflischsten von allen: der Begnadigung von Truthähnen durch den Präsidenten. Hinter diesem Geklingel der Absonderlichkeiten steckt ein mehr kitschig als bedrohlich zu nennender Biedermeier-Patriotismus, der Menschen dazu bringt, in ihren Vorgärten die Nationalflagge zu hissen, selbst bei inländischen Sportveranstaltungen den Namen ihres Landes zu skandieren oder in den Public Scools morgendlich mit Beginn des Unterrichts einen Fahneneid abzulegen, gegen den das lustlos genuschelte »Immer bereit« der Jungpioniere nachgerade unaufdringlich wirkt. Das Biedermeiern ist leicht zu erklären. Man klebt am Alten, weil die Nationalgeschichte so jung ist. Die zählebigste Tradition ist die invented tradition. Ich wohne in Japan; ich weiß also, wovon ich rede.

Ohne Stillstand, das vergißt man leicht, kein Schwung; so wie erst die anschließende Stille möglich macht, von einem Knall zu reden. Der Schwung macht die Kürze, aber die Kürze macht auch den Schwung. Dieselben gesellschaftlichen Prozesse, die sich in Europa zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert vollzogen, konnte in Nordamerika ohne den Widerstand überkommener juristischer, politischer und sozialer Formen vonstatten gehen. Das hatte Vor- und Nachteile. Man mag Heinreich Albert Oppermann vielleicht nicht uneingeschränkt zustimmen, wenn er 1870 am Ende seiner »Hundert Jahre« den Auswanderer Hellung ins Briefpapier schreiben läßt: »Wir sind glücklicher daran als alle Europäer und Asiaten, welche mit den Ruinen und dem Schutt der Vergangenheit zum Erdrücken beladen sind, welche mit schlechten Gebräuchen, Sitten, Vorurtheilen, mit überlebten Einrichtungen zweier Jahrtausende zu kämpfen haben; wir haben einen jungfräulichen Boden frisch anzubauen.«

Wahr ist doch einmal, daß Befreitheit von Schutt nicht gleich bedeutet, ohne Last zu sein. Es ist nie bloß die Vergangenheit, die drückt. Daß die ursprüngliche Akkumulation in Nordamerika nicht gegen den Widerstand eines etablierten Feudalsystems vonstatten gehen mußte, macht sie ja kein bißchen erfreulicher. Freilich auch kein bißchen weniger erfreulich. Manches unterdes, das man in der alten Welt gelassen zu haben wähnte, war gleichwohl im Bauch der Segelschiffe mit herübergekommen. Bevor Amerika sich von Europa emanzipieren konnte, mußte es ihm erst einmal gleich werden. Geschichtliche Prozesse sind nie friedlich, und je schneller sie vorangehen, desto rücksichtsloser drücken sie auf die Beteiligten. Sie sind dann aber auch schneller rum. Die Leibeigenschaft in Europa war im 9. Jahrhundert entstanden, im Hochmittelalter zur dominierenden Produktionsweise geworden und dauerte, je nach Nationalstaat, zwischen 700 und 900 Jahre. Die Sklaverei in den nordamerikanischen Kolonien entstand in der Mitte des 17. Jahrhunderts und dauerte ziemlich genau 200 Jahre.

Der Sezessionskrieg war der Akt, der dieses Ende ermöglichte. Ihn für eine Tragödie halten heißt das Ende der Sklaverei für eine Tragödie halten. Das Mißbegreifen, von dem ich eingangs schrieb, liegt genau hierin. Dieser Bürgerkrieg zwischen Union und Abtrünnigen war genauso wenig ein Bruderkrieg wie die Verteidigung der Sowjetunion gegen die faschistische Wehrmacht ein Großer Vaterländischer Krieg war. Der eigentliche Charakter dieser Kriege liegt in dem gesellschaftlichen Fortschritt, den sie beförderten: Da stand eine sittlich überlegene Macht einer anderen gegenüber, die sich der Durchsetzung einer barbarischen Lebensweise verschrieben hatte. Diese Bedeutung wird heute, in Amerika wie in Rußland, überdeckt durch das klebrige Gerede von der Einheit der Nation, angerührt von einer heimatlichen Gedenkindustrie.

Steven Spielberg zum Beispiel, der Regisseur des Films, über den ich hier – wenn auch mit großen Anlauf – schreibe, nahm gleichfalls nicht Abstand, den Stoff entsprechend auszudeuten und erneuerte damit den Beleg der seit langem bewiesenen These, daß ein Werk klüger als sein Schöpfer sein kann: »Dies war ein unvermeidbarer Krieg. Aber wenn jemand glaubt, der amerikanische Bürgerkrieg sei gut gewesen – ein Krieg, in dem 750.000 Leute getötet wurden, mehr als in allen Kriegen, die wir geführt haben, zusammengenommen, vom amerikanischen Revolutionskrieg bis zum Krieg in Afghanistan, bitte, dann kann ich diesem Menschen auch nicht mehr helfen.« (in der Welt v. 21. Januar 2013)

Von Spielberg geholfen zu kriegen hieße demnach statt von politischen Inhalten abstrakt von Menschen sprechen, so als seien die Soldaten dieses Kriegs einfach Angehörige zweier Armeen gewesen, die, partikulare Interessen vertretend, einander bekämpften. Wer das Bild des Bruderkriegs bemüht, weicht der Frage aus, wieviel Unbill eine Vermeidung dieses Kriegs und also eine Fortsetzung der Sklaverei bedeutet hätte. Die nationale Einheit, ich werde drauf zurückkommen, war nur auf der zeitlichen Ebene wichtig. Eine Zeit aber kann sich selbst nie ganz begreifen, und das liegt nicht bloß an der Eule der Minerva, sondern auch daran, daß Abstand eine Voraussetzung von Erkenntnis ist. Shakespeare war schlauer als Holinshed, und Spielberg – kein Shakespeare, sicher, ausgestattet aber mit dem Abstand unserer Gegenwart – hat kein Recht auf die durchschnittliche Dummheit des 19. Jahrhunderts. Der Sezessionskrieg mag unvermeidlich gewesen sein, aber nicht alles, was unvermeidlich ist, ist auch gleich nicht gut. Zur Sklaverei kann es keine zwei Haltungen geben, und der Umstand, daß da einmal Verfechter dieser Lebensweise waren, zeigt nur, daß die Menschheit eine Handvoll Jahrtausende benötigte, in der Frage der Humanität zu sich zu kommen. Das 20. Jahrhundert war bereits so weit von Sklaverei gereinigt, daß die wenigen Ausnahmen der jüngeren Geschichte – Saudi-Arabien etwa, Mauretanien oder das Tibet des Dalai Lama, für dessen Besetzung die Menschheit der VR China genauso Dank schuldet wie etwa zuletzt den französischen Truppen für die Intervention in Mali oder den (leider erfolglosen) sowjetischen Soldaten in Afghanistan – als bittere Nachspiele einer längst untergegangenen Epoche gelten müssen.

 Der Stoff

Wir sprechen von einer Revolution. Die Bewegung vom Confiscation Act bis zum 13. Zusatzartikel der Verfassung war der juristische Vollzug einer Revolution, und der Krieg, auch wenn er durch andere Gründe veranlaßt und nicht von den Gegnern der Sklaverei entfesselt worden war, ein Revolutionskrieg, der diesen Vollzug ermöglichte. Die Verbürgerlichung der Gesellschaft war eine im doppelten Sinne: wirtschaftlich und zivilpolitisch, eine Befreiung der Produktivkräfte und eine Befreiung der Menschen im Sinne des Gesetzes. Lincoln, so versichern die Historiographen, dürfte bei Ausbruch des Kriegs keine Absichten gepflegt haben, die Sklaverei zu beseitigen. Er war einer der Revolutionäre, die man zur Revolution tragen muß, und es war die Konterrevolution, die ihn dorthin trug, da sie in ihm früher den Revolutionär erkannt hatte als er in sich selbst. Nicht ein Versuch, die Sklaverei zu verbieten, hatte zur Abspaltung der Konföderierten geführt, sondern die Wahl Lincolns zum Präsidenten. Die Umwälzung, die er schließlich in den Stand der Existenz setzte, war, wie ich meine, die bedeutendste des Jahrhunderts, weil sie anders als die meisten anderen Revolutionen nicht bloß die politische Verkehrsform, sondern die Struktur der Gesellschaft betraf. Und weil sie weder eine Revolution von innen noch eine von außen noch eine von unten war. Sie war nicht das nachhinkende juristische Verbot einer ohnehin obsolet gewordenen gesellschaftlichen Erscheinung (wie z.B. die Abschaffungsakte der Leibeigenschaft in Kontinentaleuropa), sie wurde nicht aus dem Dasein geworfen durch eine feindliche militärische Macht (wie die Sklaverei Roms durch die Germanen oder die Palastzentren der Hethiter durch die Seevölker), und sie wurde nicht umgeworfen durch eine Koalition von Unterdrückten (wie der Absolutismus im Juli 1789 oder der Zarismus im Februar 1917). Sie wurde von oben vollzogen, von freien, weißen Männern, die keine Not hatten, sie zu vollziehen.

Keine Not, aber ein Interesse. Für zwei Jahrhunderte hatten in Nordamerika mit dem Kapitalismus und der Sklaverei zwei Produktionsweisen nebeneinander bestanden, die auf Dauer nicht nebeneinander bestehen konnten, und das genauer deswegen, weil die eine der anderen deutlich überlegen war. Sklaverei bedeutet maximale Ausbeutung; die Arbeitskräfte sind an den Boden gebunden und leisten ihren Teil bloß gegen Verpflegung und Unterkunft. Dieses Maximum an Ausbeutung garantiert eine hohe Produktivität, aber genau diese Produktivität schlägt in ihr Gegenteil um, da die Produktivkraft nur mengenmäßig hoch ist. Die Innovation leidet, weil die maximale Ausbeutung zum Desinteresse bei den Produzenten führt. Der Sklave betrachtet, anders als der Lohnarbeiter, seine Arbeit nicht auch als seine, sie tritt ihm als bloß äußerliche gegenüber, ist ihm fremd und nichts als fremd. Und da anstelle des Interesses der Zwang steht, sind die Produzenten nicht nur bloß desinteressiert; sie sind renitent. Von der anderen Seite her bedürfen die Eigentümer nicht zwingend der Innovation, da die maximale Ausbeutung zu einem Überfluß an Reichtum und Muße führt. Die Sklaven sind zudem Besitz, und folglich bedeutete die Effektivierung der Produktion, die im Kapitalismus die Veräußerung von Arbeitskräften zur Folge hat, in der Sklaverei einen Verlust von Besitz. Der Kapitalist hat die Möglichkeit, sein konstantes Kapital zu erhalten, indem er sein variables reduziert. Dem Sklavenhalter, der nicht zwischen Gerät und Arbeitskraft unterscheidet, ist diese Möglichkeit wenn nicht versperrt, so doch wenigstens zugestellt. Will sagen: Er hat keine Not, Arbeitskraft einzusparen. Mangel und Freiheit sind in allen historischen Formen der Erzeugung die beiden Bedingungen für Wachstum und Fortschritt. Nur wo ein Bedürfnis waltet, ist ein Interesse, und nur wo Freiheit Bestand hat, ist die Möglichkeit zur Entwicklung vorhanden. Die Sklaverei steht mit beiden Bedingungen auf Kriegsfuß, daher die Südstaaten mit den Nordstaaten auf Kriegsfuß standen. Aus der Produktivität des kapitalistischen Nordens, die qualitativ ohnehin, aber auch quantitativ der des Südens überlegen war, mußten gegensätzliche politische Interessen folgen. Das hohe Wachstum der Industrie zum Beispiel band die freien Arbeiter an den Norden und zog nicht wenige aus dem Süden ab; die Sklavenarbeit drückte den Lohn für freie Arbeit im Süden, weswegen der Norden zudem mehr von der Einwanderung profitierte. Auch in der Handelspolitik bestand ein gegensätzliches Interesse zwischen der vom Norden gewünschten Protektion inländischer Industrie und dem von den Südstaaten gewünschten freien Handel mit Ländern in Übersee. Das Defizit des Außenhandels kam maßgeblich dadurch zustande, daß die USA zunächst hauptsächlich Rohstoffe aus- und industrielle Erzeugnisse einführten, von welcher Lage allein der rohstoffproduzierende Süden profitierte und unter der der nationale Markt als ganzes litt. Die wachsende Industrie im Norden wirkte diesem Defizit entgegen, was für die Nation ein Gewinn, aber für die Wirtschaft im Süden, die ihren Reichtum vor allem dem Außenhandel verdankte, einen Verlust bedeutete. In dieser Lage einer asymmetrischen inneren Spaltung war bereits der Erhalt des Status quo eine Maßnahme gegen die schwächere Seite. Es war der Süden folglich, der zum Krieg gezwungen war. Dem Norden kam er bloß zupaß. Die Gründe, aus denen der Krieg sich ergab, waren dieselben, aus denen die Union ihn schließlich gewann. Die Gespaltenheit des Landes bereits war kriegerisch, die Abspaltung und der Krieg bloß dieses Vorgangs letzte Form.1

Eine ökonomische Zwangslage macht noch nicht notwendig eine politische. Daß die Entwicklung der Vereinigten Staaten in den Bürgerkrieg führte, wurde zugleich durch politische Umstände begünstigt. Das wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt, warum die Geschichte Englands anders verlaufen ist als die der USA. Bis zum Krieg hatte Nordamerika, auf eine merkwürdig unähnliche Weise, die Entwicklung Englands ziemlich genau rekapituliert. Die ursprüngliche Akkumulation vollzog sich dort in Form des Kampfes zwischen Siedlern und Indianern. Einen etablierten Adel gab es nicht, folglich auch kein Formationsverhältnis des Absolutismus, das, den Widerspruch zwischen Adel und Bourgeoisie vermittelnd und in eine Ruhelage bringend, eine Bewegung des gleitenden Fortschritts besorgen konnte. So nämlich geschehen in England. Auch dort standen sich zwei Produktionsweisen gegenüber, und wie in den USA war auch hier die gesellschaftliche Spaltung des Landes eine geographische: Norden und Westen gehörten einer feudal geprägten Naturalwirtschaft, die stärker entwickelten Regionen im Süden und Osten waren beherrscht von einem Kapitalismus, der nicht bloß in der Stadt vorwaltete, sondern sich auch auf dem Land durchzusetzen begann.2 Die Spaltung der USA ergab sich jedoch nicht vorderhand aus der ursprünglichen Akkumulation. Die Kultur der Indianer war keine Konkurrenz, weder ökonomisch noch politisch noch militärisch. Die Herausbildung eines nationalen Marktes fand auf dem Wege der Ausdehnung statt, nicht auf dem der feindlichen Vermittlung wie in England, wo der Handel zwischen feudalem und bourgeoisen Produktionen ebenso ein Mit- wie ein Gegeneinander war. Was die Situation der USA schließlich doch der englischen vergleichbar macht, kam von außen. Sie erinnern sich: im Bauch der Segelschiffe. Sklaven nämlich kommen von außen, werden ins Land geholt, und wo zunächst bei der Expansion der Siedler ein etablierter Adel fehlte, bildete sich allgemach in den Sklavenhaltern eine Art Adel heraus, der im nationalen Markt mit der nördlichen Bourgeoisie ein ähnliches Verhältnis der feindlichen Vermittlung einging wie der englische Feudaladel mit der englischen Bourgeoisie. Die zwei Schauplätze der ursprünglichen Akkumulation, die im Fall von England regional getrennt waren, nämlich in Albion und die überseeischen Kolonien, fielen in Nordamerika, das ja selbst eine Kolonie war, zusammen. Auf die Art, und nur auf die, wird erklärlich, warum die Bourgeoisie der USA zugleich an der Befreiung der Sklaven wie an der Verdrängung der Indianer ein Interesse bestehen konnte. Die intensive Form der ursprünglichen Akkumulation war vor der extensiven abgeschlossen. Es verhielt sich also nicht wesentlich anders als im Fall des British Empire, das im Mutterland bereits am Ende des 16. Jahrhunderts keine Leibeigenschaft mehr kannte, während der Sklavenhandel in den Kolonien erst 1807 verboten wurde.

Die ursprüngliche Akkumulation äußert sich als gnadenlose Verdrängung der Unterlegenen einerseits – in die Stadt nämlich, wo sie sich als Handwerker, Armut oder Lohnarbeiter ballen –, als Wirtschaftsaufschwung anderseits, mit dem auch die Verbesserung der Lage der Produzenten verbunden ist. So waren z.B. die Löhne der englischen Landarbeiter am Ende des 16. Jahrhundert in einem Zeitraum von hundert Jahren auf das Vierfache angestiegen. Bemerkenswert ist, daß in diesem Prozeß die etablierten Produktionsverhältnisse den kapitalistischen kaum einen Widerstand entgegensetzten. Im 14. Jahrhundert war das Wachstum der Produktivkräfte vor allem durch die Tuchweberei bedingt, Wolle wurde mehr und mehr zur Ware, ländliche Naturalwirtschaft aufgrund des Mehrprodukts sukzessive durch Geldwirtschaft ersetzt und Lohnarbeit, den Frondienst eliminierend, zur häufigen Erscheinung. Der auch in England herrschende Mangel an Arbeitskräften führte dazu, daß viele Gutsbesitzer Lohnarbeit annahmen und sich im Lohn überboten. Ich sage es, der Deutlichkeit halber, noch einmal mit anderen Worten: Viele Feudalherren stellten ihren Betrieb aus freien Stücken auf Lohnarbeit um und vollzogen die bürgerliche Revolution, die eigentlich an ihnen zu vollziehen gewesen wäre, selbst. Dadurch und durch die Teilnahme am erst zu dieser Zeit entstehenden nationalen Markt wurde aus dem Feudalherren der Landbourgeois, aus dem Leibeigenen der Landarbeiter. Die Selbstabschaffung des Feudaladel und sein Anschluß an die bürgerliche Produktionsweise wird in dem diffusen und oberflächlichen Begriff der Gentry nur unzureichend erfaßt. Das Verschwinden der Leibeigenschaft Ende des 16. Jahrhunderts war so endgültig, daß ihre formaljuristische Aufhebung nicht mehr nötig war. Die Revolution war vollzogen, und also bedurfte es keines Revolutionskriegs mehr und auch keines Revolutionsaktes in der Legislative.3 Doch der Prozeß, der aussieht, als hätte er sich von selbst vollzogen, war in der Tat nur unter dem Mantel der Monarchie, insbesondere unter der Politik der Tudors, möglich. Ohne den politischen Schutz der Krone hätte der Adel sicher öfter und heftiger zu militärischen Mitteln gegriffen als bloß bei zwei erfolglosen Gelegenheiten, der Pilgrimage of Grace (1536) und der Erhebung der Earls im Norden (1569).

Die Krone gehört zu den Phänomenen der Weltgeschichte, die am wenigsten verstanden sind. Das liegt daran, daß sie Betrachter und Betroffene, je nach Seelenlage, zu dumpfer Opposition oder blinder Gefolgschaft provoziert. Sie tut das, weil ihre Macht nicht rational, sondern religiös und genealogisch begründet ist. Aber Ideologie ist Form, und Form ist nie bloß äußerlich. Sie ist selbst wesentlich, wenn sie auch nie identisch mit dem Wesen sein kann. Die Ideologie ist zugleich Zerr- und Abbild der Verhältnisse, in denen sie entsteht. Jeder lügt, und Staaten ganz besonders gern. Aber in diesem Lügen sind sie sehr ehrlich. Ideologeme wie die Einheit der Nation, das Königtum von Gottes Gnaden, die Pflicht der Rechtfertigung vor der Kammer etc. verdeckten ebenso die konstituierenden Widersprüche der Gesellschaft als sie sie ausdrücken. Der Adel stand für partikulare Machtausübung, kriegerisches Faustrecht und das Treiben nichtarbeitender, waffengeübter Scharen. Die Interessen der Bourgeoisie deckten sich mit denen der Krone eher: Herausbildung eines nationalen Marktes, Frieden und Sicherheit für den Handel. Die Krone, obgleich nun dem Adel durch Herkunft, dem Bürgertum in der Neigung verbunden, war kein Instrument der kämpfenden Klassen. Sie vertrat sich selbst und damit das Ganze. In genau dem Sinne nämlich, den John D. Mackie bei Heinrich VII. zu finden vermeint: »Saving himself he saved his country too – it is the epitome of Tudor greatness«. Die Krone ist der Leviathan, denn sie hat Macht über die partikularen Kräfte und nicht diese über sie. Die Tudors gestatteten, was das Bürgertum forcierte, und nutzten den Adel, ihn gleichsam an die Kette legend, um die Bourgeoisie in ihrer Neigung zum Anarchischen zu bremsen. In diesen Zusammenhang fällt die Auflösung der adligen Gefolgschaften durch Heinrich VII. ebenso sowie der zunehmende Gebrauch des Court of Star Chamber und des Council in the North als politische Machtinstrumente. Gegen die wirtschaftliche Überlegenheit des Bürgertums hatte der Adel keine Mittel, den Marktbedingungen war er nicht gewachsen. Zwei Möglichkeiten boten sich dem Adligen, einem Schicksal wirtschaftlichen Bankrotts zu entgehen: Er konnte sich direkt der Krone unterwerfen, indem er an den Hof ging. Der Hofadel ist ja bereits eine Art noblesse impériale; seine Vorrechte waren nicht an erblichen Territorialbesitz gebunden, sondern an die königliche Gnade, die nur durch den Dienst am Hofe erlangbar war. Oder er konnte, wie schon erwähnt, die kapitalistische Produktions- und Lebensweise annehmen.

Den Blick zurück beim großen kleinen Bruder offenbart sich im Fehlen dieser politischen Lage genau der Grund, aus dem ein und dieselbe Dichotomie in England mehr oder minder friedlich aufgelöst werden konnte und in den Vereinigten Staaten unvermeidlich in den Krieg führen mußte. Dabei geht es weniger noch um die Monarchie selbst, als vielmehr um das, wofür sie steht: die Zentralgewalt. Lincoln war kein Zentrist; seine Möglichkeit, über den Parteien zu stehen und mittels gesamtheitlicher Perspektive die verschiedenen Interessen zu vermitteln, war viel geringer als die eines souveränen Herrschers. Er war der Agent einer der beiden Seiten, der des Nordens, und mindestens von dieser ganz abhängig. Die lähmende Kompromißpolitik in den Jahrzehnten vor der Sezession, die unsäglichen Zugeständnisse bei der Aufnahme von Missouri, New Mexiko usw., die das Gleichgewicht zwischen Sklaverei- und Industriestaaten aufrecht halten sollten, obwohl das keineswegs den ökonomischen und numerischen Verhältnissen des Landes entsprach, wäre vermeidbar gewesen, wenn der Föderalismus den südlichen Staaten nicht ermöglicht hätte, die eigentlichen Macht- und Mehrheitsverhältnisse immer wieder zu unterlaufen. Nichts verhindert tiefgreifender Veränderungen so beharrlich wie eine föderale Verfassung; der Prozeß der Veränderung wird erstickt, weil er zu einen verkompliziert und zum andern durch das bornierte Gegeneinander des regionalen Eigensinns, der partikularen Gesinnung verhindert wird. Nun konnte sich das Nationbuilding der USA nicht anders föderal vollziehen, indem den sich one by one anschließenden Staaten die freiwillige Unterwerfung unter den sich erst dadurch konstituierenden Staat durch das Zugeständnis größtmöglicher Eigenständigkeit erleichtert werden mußte. Und genau hierin liegt das Unvermeidliche des Amerikanischen Bürgerkriegs, der nur durch eine Eindämmung des partikularen Treibens halbsouveräner Regionalstaaten zu verhindern gewesen wäre.

 Der Film

Eben diese Tücken des Föderalismus treiben an allen Stellen die Handlung des Films an, der ein Königsdrama ohne König ist. »Lincoln« zeigt, wie eine durch die Verfassung stark eingeschränkte Zentralgewalt sich die Partikulargewalten unterwirft, indem sie deren Vertreter überzeugt, manipuliert, kauft oder bricht. Als Geschichte von der Umsetzung einer Revolution hat »Lincoln« stoffliche Größe. Es geht – ich erwähne das, weil auch anläßlich »Lincoln«s die obligatorische Großfahndung angerollt ist – nicht um historische Genauigkeit. Abweichungen von der Chronik (und so viele sind es ja gar nicht) müssen ohnehin sein, wo ein Stoff für einen Kunstzweck eingerichtet wird. Die Gattung hat das letzte Wort, und weil das im Grunde jeder weiß, käme auch niemand auf die Idee, etwa an den »Persern« des Aischylos oder an Scotts »Ivanhoe« historische Ungenauigkeiten zu bemängeln. Nur bei zeitgenössischen Kunstwerken ist die Nähe zum Künstler und die Verlockung, im Angesicht eines Fehlers als erster εὕρηκα! brüllen zu dürfen, so groß, daß man allzu gern die Gelegenheit ergreift, sich über dergleichen Geltung zu verschaffen. Ästhetisch entscheidend ist, ein in sich funktionierendes Gebilde herzustellen, da nicht Geschichtsunterricht erteilt, sondern an einem geschichtlichen Stoff menschliche Haltungen durchgespielt werden sollen. Das indigene Thema des Dramas ist der Widerspruch zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, zwischen menschlichem Wollen folglich und den Bedingungen, unter denen das Wollen umgesetzt werden kann. Die Welt ist, wie sie ist, aber sie ist nicht gut, folglich soll sie geändert werden, aber sie kann nur geändert werden, wenn der, der sie ändern will, sich auch von ihr ändern läßt. Die Welt beherrschen setzt voraus, sich ihr zu unterwerfen. Die Frage nach den politischen Ideen und der widersprüchlichen Weise ihrer Umsetzung ist im »Lincoln« philosophisch und rhetorisch auf einem Niveau behandelt worden, daß man sich verleitet findet, dieses Werkes Güte in dem zu messen, was ihm noch zu Shakespeare fehlt, als in dem, was es dem sonstigen Historiendrama des Kino voraus hat. Natürlich ist »Lincoln« noch kein »Sturm«, aber ist Lincoln wirklich weniger eindrucksvoll als Prospero? Natürlich kann man die Darstellung nicht aus dem Eindruck herausstreichen, und wenn die durchweg gute, im Fall von Sally Field, James Spader, Tommy Lee Jones, Bruce McGill, Michael Stuhlbarg und Jackie Earle Haley exzellente, im Fall des gekonnt overactenden Daniel Day-Lewis erwartungsgemäß geniale Besetzung diese letzte Grenze, die zu Shakespeare immer bleibt, gekonnt überspielt haben sollte, dann wäre beider Gattungen Ehre gerettet.

Man muß »Lincoln« für sein Plotting loben. Die Fabel ist stringent entwickelt, und trotz der 135 Minuten ohne epische Breite. Zugleich ist sie nicht rücksichtslos durchgeführt, wie die gut gemachten Episoden (Lincolns Neigung zu Anekdoten, die Tätigkeit der Stimmfänger, die Ruheszenen) oder die rhetorischen Elemente des Films besorgen, die, neben dem, was sie zeigen sollen, des Zuschauers Erholung von der Fabel ermöglichen, was um so wichtiger wird, je länger der Film dauert. Die Konstruktion der Handlung ist deswegen gelungen, weil das politische Schachspiel um die Beschaffung der Stimmen, Lincolns Tricks und Lügen, sein kreativer Umgang mit der Wahrheit, seine Erwägungen und Entscheidungen so viel Raum einnehmen und sich eine Aktion aus der anderen ergibt. Die Handlung zieht ihre Fähigkeit zu fesseln aus dem entwickelten Gegenspiel an den hauptsächlichen Konfliktlinien entlang: Mary Lincolns, der Demokraten und der Fraktion um Preston Blair. Das Gegenspiel ist in der Gattung des Kino generell unterentwickelt, da der Film in der Regel auf dem unvollständigen Wissensstand des Zuschauers beruht, während das Drama mit unterschiedlichen Wissensständen der Figuren arbeitet, die ein alles wissender, d.h. alles gleich bei Vollzug der Handlung erfahrender Zuschauer nachvollzieht. Das Drama führt ihm von Beginn an das Gegenspiel und dessen Beweggründe vor Augen. Der Film vorenthält dem Zuschauer absichtlich Informationen, führt das Gegenspiel oft verdeckt fort, damit die Drehpunkte der Handlung und vor allem der Schluß als Überraschung präsentiert werden können. Diese gattungsbedingte Eigenschaft, die keine Schwäche ist, wenn man sie zu nutzen weiß, führt in der Masse der Produktion allerdings zu der verbreiteten Unfähigkeit, Gegenspiel überhaupt noch zu verstehen oder zu entwickeln. Die jüngsten Academy Awards für das hemdsärmlige Drehbuch des »Django unchained« oder das unterwickelte von »The King’s Speech« (immerhin als Charakterstudie von passabler Qualität) sind Ausdruck dieser Armut. Die Branche kennt scheinbar drei Sorten von Scripten: Mist, handwerklich gut gemachte Genrefilme (Thriller, Heist, Krimi, Komödie usw.) und das große Drama, vorgestellt z.B. in »Judgment at Nuremberg«, »Cool Hand Luke«, »The Godfather«, »The Shawshank Redemption«, »The Prestige« oder eben »Lincoln«. Vom gut gemachten Genre wirft der Betrieb vielleicht drei oder vier Filme im Jahr ab, vom großen Drama, wenn die Sterne günstig stehen, einen Film alle drei oder vier Jahre. »Lincoln« ist der Zweiäugige unter Einäugigen und den Blinden.

Die erste der vier großen Konfliktlinien des Film ist der Widerspruch zwischen Nation und Revolution, zwischen Friedensehnsucht und Emanzipationsabsicht. Das Setting ist: Die Republikaner halten nach den Wahlen von 1864 die Mehrheit in beiden Kammern und versuchen unter der Führung von Lincoln den 13. Zusatzartikel der Verfassung durchzubringen, was im Senat bereits geschehen ist, im Repräsentantenhaus allerdings noch gegen eine demokratische Minderheit, die die erforderlichen zwei Drittel verhindert, durchgesetzt werden muß. Der Confiscation Act von 1861 und die Emanzipationserklärung von 1862 waren – Lincoln führt das, namentlich bloß letztere erwähnend, in einer Kabinettsitzung aus (min. 22ff.) – Kriegsmaßnahmen der dezimierten Union gegen die Rebellenstaaten; sie besitzen damit keine legislative Geltung über den Krieg hinaus. Nur eine Änderung der Verfassung kann die Befreiung der Sklaven rechtskräftig machen. Der Krieg ist gewonnen. Die Zeit für den Zusatzartikel ist ungünstig, denn das absehbare Ende des Krieges schafft in der weißen Bevölkerung einen Unwillen gegen den Artikel, der als Hindernis zur Wiedervereinigung mit den Südstaaten angesehen wird, da diese unter diesem Gesetz eher später als früher und nach Möglichkeit gar nicht kapitulieren würden. Nach dem Krieg allerdings wären die Chancen, den Artikel durchzubringen, noch geringer, da die Südstaaten, zurückgekehrt in die Union, ihn verhindern könnten. In den ersten Jahren des Krieges schließlich waren die Chancen gleichfalls schlecht, da man auf die Art einen womöglich tödlichen Nebenschauplatz eröffnet hätte. Die Lage des Winters 1864/65 ist also, so ungünstig sie ist, die günstigste von allen möglichen, und das Zeitfenster, in dem das Gesetz durchgesetzt werden muß, ist kurz.

Lincoln hat bei denen, die er zu gewinnen sucht, gegen zwei Motive zu kämpfen: die Abneigung gegen die Gleichstellung der Schwarzen einerseits und die Sehnsucht nach Frieden und Wiederherstellung der nationalen Einheit andererseits. Diese Einheit und dieser Frieden sind selbstverständlich die zwischen den weißen Bewohnern des Landes. Was die ihren Frieden nennen, ist den Sklaven ein dauerhafter Kriegszustand, oder, wenn man will, ein Zustand dauerhafter Kriegsgefangenschaft. Wer 1864 von Frieden redete, meinte die fortgesetzte Duldung der Sklaverei, oder er gab sich Illusionen hin. Manch einer zudem, der sich für die Abschaffung der Sklaverei begeistern konnte, tat es, weil er sich davon versprach, daß der Krieg beendet werde. Tatsächlich gab es beide Fälle: Gegner der Emanzipation, die befürchteten, daß diese den Krieg verlängern werde, und Befürworter der Emanzipation, die sich das Ende des Kriegs von ihr erhofften. »Wofür ich bin«, sagt eine Frau zu Lincoln, »ist, daß der Krieg aufhört. Wenns keine Sklaven mehr gibt, hörn die Rebellen mit dem Kämpfen auf« (min. 15). Frieden ist, wenn er wirklich besteht, eine feine Sache. Friedensehnsucht ist, wo sie alle anderen Beweggründe verdrängt, die Irrationalität selbst und verleitet dazu, jeden noch so dürren Strohhalm zu ergreifen, in der Hoffnung, daß sich in ihm ein Baumstamm verberge.

Der Konflikt kulminiert, als ruchbar wird, daß Preston Blair mit Lincolns Zustimmung bei den Konföderierten war, dort Bereitschaft zu Friedensverhandlungen signalisiert wurde und Lincoln aber eine Informationssperre veranlaßt hatte, woraus ersichtlich wird, daß er sogar den Krieg zu verlängern bereit ist, um den Zusatzartikel zu ermöglichen. Warum drängt Lincoln, der ein bloß gemäßigter Gegner der Sklaverei war und bei Amtsantritt keine Pläne hatte, die Sklaverei abzuschaffen, so entschieden gegen allen Widerstand auf den Zusatzartikel? Es ist vermutet worden, daß Ausmaß und Dauer des Krieges ihn nun auch zu einer großen Lösung verpflichteten, daß ein großer Akt am Ende des Krieges all die Opfer als lohnend erscheinen lasse. Sinnvoller scheint mir die pragmatische Erwägung, daß die Einheit der Nation nie werde hergestellt werden können, solange zwei grundlegend verschiedene, einander feindliche Lebensweisen im Lande fortbestehen, von denen die eine zudem der anderen überlegen ist, woraus ein nicht zu tilgen noch zu vermittelnder Naturzustand resultiert. Als Lincoln zu Beginn des Krieges sagte, die Einheit der Nation stehe auf dem Spiel, war das natürlich gelogen. Tatsächlich hat erst der Krieg die nationale Einheit hergestellt. Im Film sagt Lincoln es auf Lincolns Weise: »Ich kann für die Menschheit nichts von Bedeutung oder von Wert voranbringen, solange wir uns nicht von der verteufelten Sklaverei kuriert haben und diesen alles verpestenden Krieg beenden« (min. 99). Es wird deutlich, daß abgesehen von einigen wenigen Zeitgenossen, wie etwa Thaddeus Stevens, für die damalige Zeit das Zweck-Mittel-Verhältnis exakt umgekehrt gedacht wurde: Auf der zeitlichen Ebene war die Emanzipation der Sklaven das Mittel, und die Nation der Zweck; auf der philosophischen Ebene ist die Emanzipation, als eine Art Code civil der Vereinigten Staaten, der alles unter sich ordnende Zweck, und das Nationbuilding nur die Form, in der das passierte.

Die zweite Konfliktlinie zeigt den Kampf zwischen Proslavery und Emanzipation, personell jeweils mehr oder minder durch die Demokraten und die Republikaner vertreten. Der Frieden war, wie schon angedeutet, zum Schibboleth der Sklavereiverfechter geworden. Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzten sich die Schinder. Hiermit sind nicht nur die Sklavenhalter gemeint, deren Parteilichkeit sich wohl von selbst versteht, sondern auch diejenigen Bewohner des Nordens, die aus grundsätzlichen Erwägungen oder allgemeinem Dünkel gegen die rechtliche Gleichstellung der Schwarzen waren. »Die weiße Bevölkerung«, sagt Thaddeus Stevens, »kann die Vorstellung nicht ertragen, den unendlichen Überfluß dieses Landes mit Negern zu teilen« (min. 55). Das Kalkül der Proslavery Fraktion besteht in zwei Argumenten, einem offensiven und einem defensiven.

Das offensive Argument richtet sich gegen die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und beruft sich auf den Unterschied der Rassen. Der Gedanke, schwarz und weiß könnten gattungmäßig gleich sein, war seinerzeit in der Tat eine Minderheitsmeinung. Selbst viele Gegner der Sklaverei waren nicht dieser Meinung; der Neger galt allgemein als inferior. Das macht den Skandal jener Szene aus, in der der Minderheitenführer Fernando Wood den Republikaner Stevens dazu provozieren will, öffentlich seine bekannte Meinung zu äußern, daß die Schwarzen nicht bloß vor dem Gesetz gleichgestellt werden sollten, sondern in allen Belangen gleich, d.h. dem weißen Manne ebenbürtig sind (min. 66–69). Das Argument der Ungleichheit erhielt ferner eine theologische Fundierung, indem die Ungleichheit der Schöpfung als Leitbild diente, wie Wood es vor dem Parlament exaltiert darlegt (min. 36). Inhaltlich sind wir heute weit darüber hinaus, natürlich; strukturell ist uns dieses Argument aber wohlvertraut. Es besagt, ein gesellschaftliches Verhältnis dürfe immer nur so sein, wie es ohnehin ist. Dabei kann jenes Sosein als von Natur aus, von Gott gewollt oder im Sinne einer unvermeidlichen Entwicklung aufgefaßt werden. Damit fallen unter diese Struktur so verschiedene Strömungen wie der Islamismus, der seinen Haß gegen das Menschliche mit dem Willen Gottes begründet, die neoliberal-neokonservativ-neorechte Bewegung, die die naturgegebene Ungleichheit der Menschen zur Begründung dafür nimmt, daß die Gesellschaft Ungleichheit fördern soll, oder auch die Gegner des Urheberrechts, die argumentieren, daß die nicht einzudämmenden Möglichkeiten, das Copyright zu unterlaufen, dieses Gesetz obsolet machen, die also ihren kategorischen Imperativ nicht von Gott oder der Natur, sondern von toten Gegenständen empfangen. Es geht nicht darum, ob die Begründung stimmt. Es spielt keine Rolle, ob Allah tatsächlich Whisky, Schwule und Rock’n’Roll haßt, ob die gesellschaftliche Ungleichheit der Menschen wirklich allein auf biologische Umstände zurückzuführen ist, ob sich strukturelles Raubkopieren tatsächlich verhindern läßt oder ob zwischen Weißen und Schwarzen wirklich gattungsbedingte Ungleichheit waltet. Der Fehler liegt überhaupt in der Vorstellung, daß die Welt, indem sie ist, dem Menschen seinen Willen diktiere. Wo das Vorgedachte nur das Vorliegende zu bestätigen hat, herrscht der Tod und nicht das Leben. Die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz ist die zivile Seite der bürgerlichen Gesellschaft, deren wirtschaftliche Seite der Kapitalismus ist. Der Kapitalismus hat sich mit Notwendigkeit und unabhängig vom menschlichen Willen entwickelt. Ohne juristische Gleichheit keine Lohnarbeit, die nur dort möglich wird, wo der außerökonomische Zwang, der arbeitende Menschen an andere Menschen oder an ein Stück Land fesselt, nicht mehr herrscht. Die freie Liebe, das allgemeine Wahlrecht, die Liberalität in den Dingen des Alltags, die rationale Herrschaftsform anstelle der theologisch oder genealogisch begründeten sind die Folgen dieser Gleichheit, die sich historisch im Produktionsverhältnis durchgesetzt hat. Sie sind aber zugleich Momente der Entfaltung des Menschlichen und durchaus keine notwendigen Folgen des Kapitalismus, der – wie Nazideutschland, Saudi-Arabien, der Iran und die FIFA beweisen – auch ohne die zivilen Elemente sein Unwesen treiben kann. Sie sind, weil die Menschen es wollten, und sie spiegeln den sich selbst schaffenden Menschen, der keine Vorschriften von Gott, der Natur oder irgendwelchen Maschinen annimmt, ohne sie der Prüfung seiner Vernunft unterworfen zu haben.

Das defensive Argument der Proslavery ist der Ruf nach dem Recht auf die eigene Lebensweise, die neben dem bis heute lebendigen Dixielandkitsch auch die Produktionsweise der Sklaverei umfaßte. Der Süden verstand es, sich als Rebell zu gerieren, der sich lediglich gegen die Unterdrückung durch die Yankees auflehne. Der sich unterdrückt fühlende Unterdrücker beansprucht für sich sowas wie Artenschutz. Auch dieses ideologische Konstrukt ist uns, mutandis mutatis, vertraut, denn noch heute, da keine Sklaverei herrscht, aber doch Lohnabhängigkeit allgemeine Erscheinung ist, verstehen es diejenigen, deren gesellschaftliche Stellung in der Aneignung fremd erwirtschafteten Mehrwerts besteht, sich als bedrohte Art zu inszenieren. Der Liberale von heute ist folglich autoritär und paranoid. Er – den man vom heute auch noch irgendwie vorhandenen Liberalen von gestern unterscheiden muß – tritt erstens gegen die Gleichheit derer ein, die vom Schöpfer ungleich erschaffen sind, hält also dafür, daß alte, schwache, minderbegabte, labile oder kranke Menschen nicht gefördert oder gestützt werden sollen. Der Sozialstaat, muß man wissen, belastet ja nicht nur die Tüchtigen, er gängelt auch die Untüchtigen, deren naturgemäßes Recht zu verelenden gewahrt sein müsse. Zweitens tritt er ein für die Freiheit einer Minderheit, die Freiheit einer Mehrheit zu tilgen. Er liebt die Vielfalt so sehr, daß er dem Glauben verfällt, der Verzicht auf jegliches Eingreifen in die gesellschaftlichen Vorgänge habe die Pluralität der Gesellschaft und nicht etwa ihr Gegenteil zur Folge. Was er tut, ist, der veritablen, alltäglichen, partikularen Beschneidung der Freiheit des einen Menschen durch den anderen, der praktischen Liquidierung der Pluralität also, Deckung zu verschaffen. Drittens wehrt der Liberale sich gegen die Tyrannei der Zentralgewalt. Der Zusammenfall von Freiheit und Sklaverei ist nur möglich, wo allenthalben Partikularismus waltet. Jeder andere Zustand ist Tyrannis, und so folgt man dem Schlachtruf, den Alkaios, gleichsam als Bekenntnis jedweder Hetairie, im »Staatsschiff« ausstößt: »Nie wollen wir die Herrschaft eines einzelnen dulden«. Das ist der Sound der rebellierenden Freiherren, die sich ihr Recht der ersten Nacht nicht von einem Monarchen nehmen lassen wollen. Durchtränkt von diesem Ressentiment ist denn auch die Rhetorik des Abgeordneten Wood, der Lincoln als »Seine Hoheit, König Abraham Africanus I« (min. 33) bezeichnet. »Africanus« meint natürlich so viel wie: Freund der Neger, ist aber auch eine historische Anspielung auf Scipio, der sich bei seiner siegreichen Heimkehr aus dem Schlachtfeld im Römischen Senat einem giftigen Widerstand ausgesetzt sah. Gegen erfolgreiche Feldherren herrschte in Rom generell erhöhtes Mißtrauen, da man fürchtete, sie könnten ihren Ruhm und ihre Macht dazu nutzen, sich die Republik zu unterwerfen. Lincoln, kein Feldherr, aber doch Oberbefehlshaber eines erfolgreich verlaufenen Kriegs, sei eben dabei, seinen so gewonnenen Einfluß zu nutzen, um als Zentralgewalt das parlamentarische System und den Föderalismus zu unterlaufen – das ist der Vorwurf Woods. Die Angst vor der Tyrannis gehört zu den vitalen Ritualen der Oligarchie; sie will ja, was sie der Tyrannis zu wollen vorwirft, selbst tun. Freiheit, um von der Ideologie auf die Wirklichkeit zu kommen, ist bloß Voraussetzung für Handeln und nicht als solches ein Gut. Wert erhält sie insofern sie ermöglicht, Gutes zu bewirken. Was das Gute, das bewirkt werden soll, schließlich ist, liegt natürlich in den einzelnen Subjekten und ihren Bedürfnissen begründet. Es ist uns von unbefugter Seite versichert worden, daß die Freiheit nicht herrsche. Natürlich tut sie das, und tatsächlich gibt es nur wenig, das noch intoleranter und tödlicher wäre als die Herrschaft der Freiheit. Nichts gegen die Freiheit im übrigen. Glück ist, wenn die Freiheit nicht herrscht, sondern bloß ist.

Lincoln begegnet beiden Ideologemen, dem offensiven der Ungleichheit und dem defensiven der Freiheit, mit geschliffener Rhetorik. Der Ungleichheit, indem das erste Axiom des Euklid bemüht und hinzufügt: »Wir beginnen also mit der Gleichheit, das ist der Ursprung, die Balance, das ist Redlichkeit, Gerechtigkeit« (min. 73). Ungleichheit, soll das heißen, ist nicht immer vermeidlich, aber sie darf nicht bereits am Anfang stehen, nicht durch Herkunft, Hautfarbe oder andere unveräußerliche Eigenschaften festgeschrieben sein. Dem defensiven Ideologem entgegnet Lincoln, indem er den Begriff Freiheit, man möchte fast sagen: im Sinne Kants und Hegels, differenzierter faßt und gegenüber den konföderierten Unterhändlern ausführt: »Unterwerfen wir uns dem Gesetz … auch wenn wir damit gewisse Freiheiten verlieren, zum Beispiel die Freiheit zu unterdrücken, entdecken wir möglicherweise andere Freiheiten, die uns bisher nicht bekannt waren« (min. 121). An diesen Freiheitsbegriff knüpft sich eine resignative Haltung an, die im Film in der Konfliktlinie Lincoln – Stevens ihren Platz hat, zu der zu kommen ich aber über einen dritten Punkt Anlauf nehmen will.

Diese dritte Konfliktlinie dürfte wahrscheinlich diejenige sein, die man am ehesten unterschätzt und für dramaturgisches Beiwerk zu halten geneigt ist. Ich spreche von dem Streit zwischen Lincoln und seiner Frau Mary, die Frage betreffend, ob ihr gemeinsamer Sohn Robert am Krieg teilnehmen darf oder nicht. Dieser Streit ist von ebenso tiefer Bedeutung wie die anderen Kollisionen des Films, und er besorgt an entscheidender Stelle den glücklichen Fortgang der Handlung. Das ist also der alte Streit zwischen Familienliebe und Staatspflicht, das Antigone-Problem. Robert ist nicht irgendein Rekrut; als Sohn des Präsidenten ist sein Einzug zum Militär kein Vorgang zwischen dem Staat und einem seiner Bürger, sondern selbst eine Staatsangelegenheit, nicht anders als bei Jakow Dschugaschwili oder Prinz Harry. Lincoln nutzt seine Macht, um Robert vom Einzug fernzuhalten, aber dieselbe Macht verpflichtet ihn zum Gegenteil, da er nicht von Millionen Soldaten verlangen kann, was er dem eigenen Sohn erspart. Allein die besondere Situation in seiner Familie zwingt ihn dazu, Robert vom Militär wegzuhalten, denn dessen Mutter Mary ist nach dem Verlust ihres erstens Sohns traumatisiert und verweigert ihre Zustimmung zu Roberts Einzug. So lebt Robert wie Achilles bei den Weibern, nur unverkleidet und daher voll Zorn, denn die Scham all jenen gegenüber, die in der Armee ihren Dienst tun, hat ihn ebenso gepackt wie das Pflichtgefühl dem Staat gegenüber. Er erhöht den Druck auf seinen Vater, den er, wie Mary, nutzt, um den Konflikt nicht direkt auszutragen. Lincoln teilt seiner Frau mit, daß er Robert nicht hindern werde, wenn der unbedingt zum Militär wolle, woraufhin der Streit zwischen den Eltern eskaliert.4 An dieser Stelle kommt es zum erwähnten Twist in der Fabel, doch zunächst zur Sache.

Lincoln steht zwischen den beiden absoluten Interessen Pflicht und Eigensinn. Das Pflichtgefühl Roberts kommt im Gewand des Wunschs nach Anerkennung daher, was die Sache nicht unbedingt schmälert. Das Soziale hat seinen Ursprung in dem Wunsch, anderen zu gefallen. Das Gefallen schmeichelt dem Narzißmus des jungen Menschen, während er zugleich schon dabei ist, die soziale Handlung mit einer fixen Idee zu unterlegen: der, daß es menschlich ist, auf die Bedürfnisse anderer Menschen Rücksicht zu nehmen oder ihnen zu helfen. Gegen Roberts Pflichtgefühl wirkt Marys Eigensinn geradezu erbärmlich. Während in den ehrbaren Handlungen ihres Sohnes das Kindliche noch vorhanden ist, hat sie das Soziale ganz abgestreift und damit das Kindliche eigentümlich balsamiert. Mary verkörpert das Privatinteresse, das sich als Familienliebe äußert. Aber sie ist nicht mehr jung, so daß ihr Eigennutz nicht mehr als frühe Form des Sozialen gesehen werden kann. Eine ähnlich traurige Figur macht sie in Bezug auf die Politik ihres Mannes. Allgemein fällt bei ihr die vollkommene Abwesenheit des sittlichen Gedankens auf; Politik ist für sie Akkumulation von Macht und Ruhm. So rät sie dem Präsidenten, von der Durchsetzung des 13. Zusatzartikels Abstand zu nehmen, weil er dadurch seine Beleibtheit verspielen könnte (min. 8). Ähnlich auch, als sie Stevens im Weißen Haus Neid auf die Beliebtheit des Präsidenten unterstellt (min. 51), was nicht unwahr sein muß, aber doch eine Denkart verrät. Und dennoch greift sie, als Robert sein Ansinnen durchsetzt, zum Guten in die Handlung ein, indem sie Lincoln, dessen vorsichtiges Verfahren, Stimmen für den Zusatzartikel zu fangen, ins Stagnieren geraten ist, zu mehr Taktik, Intrige und Bestechung auffordert, die sein Außenminister Seward, der bis dato als Lincolns Operator bei der Stimmbeschaffung fungierte, nicht so beherrsche (min. 87). Sie handelt eigennützig, denn sie sieht im Durchbringen des Zusatzartikels die beste Möglichkeit, den Krieg zu beenden und also ihren Sohn zu retten.

Die Rolle der Mary, scheint mir, will uns etwas bedeuten. Der Eigennutz hat sein Recht; es ist menschlich, an sich selbst zu denken. Sicher schlägt er in Absurdität um, wo er sich absolut äußert; jede Haltung tut das, sobald sie rücksichtslos ins Werk setzt. Doch auch der Egoismus ist keine bloß menschliche Haltung, die im Privaten ihren Sinn hätte, aber unterhalb der Traufhöhe des Politischen bleibt. Er dient in der Politik dem Zweck. Traurig, wenn kein sittlicher Zweck vorhanden ist, aber wenn einer vorhanden ist, ist es durchaus im Interesse dieses Zwecks, wenn der, der ihn durchsetzt, auch ein wenig auf seine Macht und deren Wahrung bedacht ist. Wir erinnern uns: »Saving himself he saved his country too«. Lincoln lebt danach, auch vor Marys Rat schon. Er hat keine Skrupel, Stimmen zu fangen, auch wenn er sich selbst zunächst noch aus dem Geschäft heraushält (min. 13 u. 18), als die Nachricht von den verzögerten Friedensverhandlungen (min. 67 u. 74) bekannt wird und der rechte Flügel der Republikaner seine Unterstützung zurückzieht, lügt Lincoln schamlos (min. 104–108). Und doch scheint mir kein Zufall, daß erst die Intervention Marys den Sieg bei der Abstimmung ermöglicht. Die invisible hand hat zugepackt, die List der Vernunft ihren Streich gespielt. »Alles«, klagt Mary, sich ihrer Wichtigkeit bis zum Schluß nicht bewußt, »was von mir in Erinnerung bleiben wird, ist, daß eine Verrückte dein Glück zunichte gemacht hat.« Dramaturgisch gesehen stimmt der Satz aufs Haar, wenn man »zunichte« stricht.

Die vierte Konfliktlinie verläuft zwischen Stevens und Lincoln, die sich zueinander verhalten wie Möglichkeit und Wirklichkeit der Revolution. Lincolns größte Leistung ist, diesen Stevens, der keine Kompromisse machen will und alles aus Prinzip tut, soweit gebremst zu haben, daß das Gesamtunternehmen, an dem beide interessiert sind, nicht scheitert. Das Thema dieses Konflikts ist die schöpferische Resignation, der Gewinn, der durch Verzicht erreicht, die Idee, die durch den Verrat an ihr durchgesetzt wird. Ich habe über dieses Thema schon so oft geschrieben5, daß ich kein schlechtes Gewissen habe, mich hier kurz zu fassen. Ich bleibe im Dorf, wie die Kirche.

Niemand weiß, was die Zukunft bringt. Genau deswegen ist die resignative Haltung so wenig verzichtbar. Die Revolution ist nicht die Lösung, sondern die Voraussetzung zur Lösung. Was nach der Sklavenbefreiung kommt, wie die Gesellschaft, wie die Politik damit umgehen wird – das Zusammenleben von Schwarzen und Weißen, die Situation auf dem bürgerlichen Arbeitsmarkt, das allgemeine Wahlrecht usw. –, das kann in der Zeit vor der Revolution nicht beantwortet werden. Wie alle revolutionären Ziele, die noch nicht verwirklicht worden sind, überdeckte auch das der Emanzipation alle anderen Zwecke, sie gab nur eine Vorstellung, daß es sein werde, nicht aber, wie es sein wird. »Ich hab nie die Frage gehört, was die Freiheit wohl bringt« (min. 89), sagt Elizabeth Keckley zu Lincoln auf den Treppen des Weißen Hauses und blickt damit genau deswegen über den Horizont des Films und der Handlung hinaus, weil der Blick unbestimmt bleiben muß.

Lincoln steht innerhalb der republikanischen Partei in der Mitte. Rechts von ihm stehen die Vertreter der westlichen Staaten (Kalifornien, Kansas, Nevada etc.), deren Agrarwirtschaft auf freier Lohnarbeit beruht, deren ländliche Bevölkerung, trotz Unvorhandenheit von Sklaverei mehrheitlich konservativ ist, sowie der sogenannten Grenzstaaten (Missouri, Maryland, West Virginia usf.), in denen die Sklaverei legal ist, die aber der Union treu geblieben waren. Der rechte Flügel, dargestellt in Preston Blair, ist nicht gegen die Sklaverei, zumindest toleriert er sie, wo nicht gar vollständige Parteilichkeit vorliegt. Was ihn gegen den Süden einnimmt, ist dessen Verrat an der Nation. Auf der linken Seite der Republikaner dann scharen sich um Stevens die Bürgerrechtler, die entschiedene Gegner der Sklaverei sind. Lincoln war gegen die Sklaverei, aber beim Amtsantritt auch bereit, sie im Süden zu tolerieren. Mit dem Beginn des Kriegs beginnt er sukzessive seine Möglichkeiten gegen die Sklaverei zu nutzen. Zaghaft, zweideutig und viel zu wenig erfolgreich, findet Stevens, der die mordernste Figur im Ensemble ist. Im Gegensatz zu Lincoln ist er nicht bloß für die Befreiung der Schwarzen von der Sklaverei, sondern strebt Bürgerrechte in vollem Umfang an sowie eine umfassende finanzielle Entschädigung. Allerdings ist es das Verhältnis von Inhalt und Haltung, das einen Charakter ausmacht. In der Frage der Haltung ist uns Lincoln näher, weil wir begreifen, daß Stevens das Richtige auf falsche Weise will, daß sein Vorpreschen und seine stets so grundsätzliche Art politisch unklug sind. Zugleich sieht man aber einen erfahrenen Politiker, der mitunter ein Gespür für den Kairos erkennen läßt. So sagt er z.B. zu seinem Mitstreiter Asa: »Sie überrascht nie was. Daher haben Sie auch nichts Überraschendes an sich«, und: »Bewahren Sie sich die Fähigkeit zu staunen« (min. 31f.). Er ist abgebrüht, kein Blaublümler und weiß, daß den Menschen helfen und sich mit ihnen gemein machen zwei Dinge sind: »Ich schere mich einen Dreck um das Volk und darum, was es will. Sie sehen vor sich das Gesicht eines Mannes, der lange und hart für das Wohl der Menschen gekämpft hat, sich aber nicht viel aus ihnen macht« (min. 54). Es ist diese Saite an ihm, die Lincoln anschlägt. Als Stevens sagt, daß dem Volk, den weißen Männern und Frauen, durch die dauernde Duldung der Sklaverei der innere Kompaß eingefroren sei, greift Lincoln zu und wendet das Bild gegen Stevens: »Ein Kompaß, so lernte ich beim Landvermessen, der weist einem den Norden von da aus, wo man steht. Er gibt einem aber keinen Aufschluß übe etwaige Sümpfe, Schluchten und Wüsten, auf die man unterwegs trifft. Verfolgt man sein Ziel, indem man darauf losstürmt, Hindernisse mißachtet und damit nur erreicht, daß man im Sumpf versinkt, was nutzt es dann, den Norden zu kennen?« (min. 55f.) Der unbiegsame Stevens begreift und erweist sich im Parlament als hinreichend biegsam. Als Asa ihm Vorwürfe macht, antwortet er: »Ich will, daß der Artikel verabschiedet wird, so daß die einzige Erwähnung, die die Sklaverei in der Verfassung findet, ihr absolutes Verbot ist. Und für diese Verfassungsänderung, für die ich mein Leben lang schon kämpfe […], dafür würde ich wohl für nichts auf der Welt zurückschrecken« (min. 80).

Stevens resigniert schöpferisch, d.h. er gibt ein langes Ziel preis, um ein kürzeres zu erreichen, damit das kürzere von längerer Dauer sein kann. Als er nach dem Erfolg im Parlament heimkehrt, sagt er über den Verfassungszusatz: »Die größte Maßnahme des 19. Jahrhunderts. Mittels Korruption errungen unter Beihilfe des feinsten Mannes von Amerika« (min. 118), wobei durchaus offenbleiben darf, wer der feinste Mann von Amerika ist: Lincoln oder er selbst, Stevens.

Der Oscar, wenn das ein Hinweis sein soll, ging jedenfalls an Lincoln.

  1. Und auch in dieser Form selbst drückt sich der Unterschied beider Lebensweisen aus. Da der Norden dem Süden wirtschaftlich und numerisch überlegen war, war er es auch in Größe und Ausrüstung seiner Armeen. Schon im zweiten Jahr zeigte sich, daß die Armee des Südens Schwierigkeiten hatte, ihre Infanterie zu versorgen. Zur Schlacht bei Gettysburg z.B. kam es, weil einige Teile in Lees Armee ohne Schuhe marschieren mußten und man sich für eine dort befindliche Schuhfabrik interessierte. Die Soldaten im Shenandoahtal witzelten, daß CSA wohl für Corn, Salt & Apples stehen müsse, da sie sich immer wieder aus dem Feld ernähren mußten. Daß die Union so viel Zeit benötigte, den Süden zu schlagen, hat militärische Gründe. Die strategische Intelligenz der Südstaaten war größer, was v.a. mit der ländlichen Lebensweise zusammenhängt. Militärische Ausbildung gehörte dort mit größerem Selbstverständnis zur Erziehung der Oberschicht als in den industriellen Großstädten. Ich kenne die demographische Zusammensetzung der Jahrgänge von Westpoint nicht, aber evident ist, daß der Norden nicht einen hochrangigen Strategen in seinen Reihen hatte, der wirklich gut war. Auch Grant nicht, über den das Gegenteil dessen zutrifft, was man über Cesar sagt: als Stratege ein Genie, als Taktiker eine Enttäuschung. Auf dem Schlachtfeld reihte er durchaus nicht nur Sieg an Sieg, und selbst die Siege waren fast immer von großen Verlusten begleitet. Aber er hatte begriffen, daß der erste Schlüssel zum Sieg in der Kontrolle der West-Ost-Spaltung des Landes durch den Mississippi lag, und aufgestiegen zum Oberbefehlshaber korrigierte er seiner Vorgänger fehlerhafte Strategie, auf die Einnahme der gegnerischen Hauptstadt zu drängen, indem er zum strategischen Ziel ausgab, die militärische Schlagkraft der gegnerischen Armee zu vernichten. Das brachte der Union große Verluste an Menschen und Material, aber beides konnte sie besser kompensieren als der Süden, der durch Grants Offensive mehr und deutlicher geschwächt wurde, als durch die Zurückhaltung seiner Vorgänger, deren berühmtester Fall Meads Zögern nach Picketts Attacke bei Gettysburg ist, durch das eine frühzeitige Entscheidung des Krieges zugunsten der Nordstaaten verhindert wurde. Wahrscheinlich war auch Lee kein Genie; er hatte nur vor Grant keinen Gegenspieler, der die Möglichkeiten der Union nicht auf die eine oder andere Weise brachliegen ließ. []
  2. Ich spreche von zwei Produktionsweisen, weil das Zunftsystem der Städte doch wesentlich bürgerlich ist und nicht, wie es häufig geschieht, feudal genannt werden kann. Zwar waltet auch hier, was Marx die dem »stummen Zwang« des Kapitals entgegengesetzte »außerökonomische, unmittelbar Gewalt« nennt (MEW 23, 765), nämlich in Form eines umfangreichen rigiden Regelwerks, dem die Zunftmeister ebenso wie die Gesellen unterworfen sind, aber die Stadt ist der eigentümliche Schoß der bürgerlichen Produktionsweise, die sich unabhängig vom ländlichen Feudalismus entwickelt und mit ihm kein System bildet. Die organische Beziehung zwischen Stadt und Land, der nationale Markt, bildet sich erst mit der Verbürgerlichung der Landwirtschaft heraus, aber die Ballung in den Städten, als Tiegel bürgerlicher Produktionsformen, ist ein Abfallprodukt der Landflucht, die nicht erst durch die ursprüngliche Akkumulation verursacht wird. Es kann daher das Zunftsystem noch nicht kapitalistisch, muß aber durchaus bürgerlich genannt werden; es ist eine Produktionsweise im Embryonalzustand, einstweilen noch durch ein juristisches Regelwerk gefesselt. Die Auffassung, das Zunftwesen sei die städtische Ausprägung des Feudalsystems, folgt einigen Stellen im »Kapital«, in denen Marx beide Formen parallel setzt. Dagegen charakterisiert er die Arbeit in den Zünften aber ausdrücklich als Lohnarbeit (MEW 23, 766). Die Ursache für diesen Widerspruch liegt tiefer, im Marxschen Begriff der Formation, der die Gesellschaft als einen Zusammenhang vorstellt, in dem eine Produktionsweise die vorherrschende sei und alle anderen, neben ihr bestehenden bestimmt, ganz so wie eine bestimmte Beleuchtung, in deren Farbe alle anderen Farben getaucht seien (MEW 13, 637). Obgleich dieses gescheite Bild sich müht, die Eigentümlichkeit der anderen Produktionsweisen zu wahren, ist doch nicht einzusehen, warum stets eine Form der Produktion gefunden werden müsse, die die vorherrschende in der jeweiligen Formation sei. Das Nebeneinander verschiedener Produktionsweisen kann beides sein: systematisch oder disparat. []
  3. Tatsächlich hatte es frühzeitig den Versuch eines endgültigen Schlags gegeben: 1526 legte man dem Oberhaus dreimal eine Bill zur Abschaffung der Leibeigenschaft vor, die dreimal abgelehnt wurde. []
  4. Eine beinahe witzige Fußnote jenes Streits ist Marys Ausruf auf Lincolns Drohung hin, sie wieder ins Irrenhaus zu bringen: »Dann tu es! Und droh mir nicht bloß. … Es wird nötig, ich schwörs, wenn Robert getötet wird« (min. 86). Tatsächlich wird es Robert sein, der sie Jahre später gegen ihren Willen einweisen läßt. []
  5. zuerst ausführlich in einem Buch namens »Leistung und Demokratie« (Mainz 2010), auf dem Parnassos dann hier, hier und hier []

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