Jun 082014
 

 

Ich werde lieber miß als gar nicht verstanden. Also schulde ich Cyrano Dank für seine klugen Ausführungen, denen ich selbst dort, wo ich anderer Meinung bin, gar nicht widersprechen möchte, weil das Nebeneinanderhalten verschiedener Zugriffe auf dieselben Gegenstände ebenso Erkenntnis befördert wie die Zugriffe selbst. Es ist dabei nichtmal nötig, die verschiedenen Zugriffe zu sehr in einen Clinch zu schicken, zumal ja ein jeder Zugriff zunächst und vor allem aus sich selbst heraus verstanden werden muß. Es wird also furchtbar langweilig werden, weil ich an Einwänden gegen Cyranos Einwände wirklich nur solche habe, bei denen es um die Klärung von Mißverständnissen geht. Ich rate jedem, dessen Zeit kostbar und dessen Seele schönerfühlend ist, diesen Tab umgehend zu schließen. Besser als jetzt wird es nicht mehr.

(1) »Da wird zum Beispiel mal schnell dem Theater attestiert, es sei die philosophisch tiefste aller Kunstformen. Begründung? Fehlanzeige.« – Der gelegte Link führt auf meine Besprechung des Films »Lincoln«. Ich vermute aber, die Äußerung bezieht sich auf eine Stelle in meiner Auseinandersetzung mit der Gattungstheorie von Genette und Hacks. Dort ist allerdings nicht von Theater, sondern von Drama die Rede, was zumindest in meinen ästhetischen Vorstellungen einen großen Unterschied macht. Das Drama nun, schreibe ich da, ist ästhetisch nicht überlegen, weil, wie ich zuvor ausgeführt hatte, eine ästhetische Rangordnung zwischen Gattungen nicht möglich ist, aber die Gattungen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Eignung, Weltfragen verhandeln zu können. Ich meine tatsächlich, daß z.B. ein Drama mehr Eignung zur Weltverhandlung besitzt als ein Ballettstück, aber diese Eignung ist keine ästhetische, sondern eine philosophische. Man kann das natürlich anderes sehen. Aber daß ich mein Urteil nicht begründet hätte, stimmt tatsächlich nicht (siehe ebd. »Die Dichte der Ereignisse … von keiner anderen Gattung erreicht wird.«)

(2) Über Benn will ich nicht streiten. Ich mag ihn nicht. Weder als Lyriker noch als Denker noch als Mensch. Ich habe zwei Strophen eines Gedichtes zitiert, die mir passend schienen. Geschmack ist dagegen etwas, mit dem man nicht ernsthaft argumentieren kann.

(3) Einige Lettern, die an mich adressiert sind, sollten eigentlich direkt an Hacks gehen. In Texten wie »Souterrain«, »Landkarte« und »Schultern« versuche ich ja in der Hauptsache nicht meine Standpunkte durchzudrücken, sondern vielmehr den zugrundeliegenden Zusammenhang herauszuarbeiten. Es geht mir nicht darum, eine »Klassik in der Folge [von] Hacks« zu entwickeln, sondern Hacksens Kalkül anschaulich zu machen. Die Arbeiten sind historisch, nicht programmatisch. Wollte ich programmatisch sein, würde ich vorziehen, meine eigenen Gedanken zu verwenden, die ja nicht nur in der Anordnung, sondern auch im Inhalt hier und da von den Hacksschen abweichen. Natürlich glaube ich, daß ich die Welt viel besser verstehe als Hacks und überhaupt jeder andere. Wir alle glauben das von uns.

(4) Hacks – der Unterschied ist wichtig – hat seine ästhetische Theorie nicht »mit dem Gelingen des Staates, in dem er schrieb, verknüpft«, sondern mit dessen Bestehen. Die Frage des sozialistischen Nieder- und Untergangs ist nicht unwesentlich, aber sie kann vom zwischenzeitigen, stabilen Bestehen der Formation getrennt werden. Und sie ist für den Erfolg der Schreibart nur dann verbindlich, wenn man Rezeption und Herstellung des Kunstwerks in derselben Weise herleitet und begründet. Der anhaltende Erfolg eines Kunstwerks ist aber ein anderes Problem als die Frage nach den äußerlichen Bedingungen für seine Herstellung.

(5) »Wie hält es der Staatsphilosoph mit dem Staat, wenn dieser alles verneint was die Staatsphilosophie zu bejahen vorgegeben hat?« – Diese Frage ist sehr wichtig, weil sie darauf weist, daß jedes Mittel umkehrbar ist. Wenn der Staat ein Werkzeug ist zur Erreichung bestimmter Zwecke, dann kann er ebenso gut so eingerichtet sein, daß er diesen Zwecken schlecht dient oder gar so, daß er gegen diese Zwecke arbeitet. Was immer man nun konkret unter dem, »was die Staatsphilosophie zu bejahen vorgegeben hat« verstehen kann, ein Staat kann diesem Ziel oder Zielen gut, schlecht oder gar nicht dienen. Die Frage so zu stellen bedeutet mehr im Sinn zu haben als die Frage nach dem Bestehen und der Behauptung des Staatlichen. Es zielt über den Komplex der Macht und Souveränität hinaus auf sittliche Zwecke und damit auf Humanisierung. Der Staatsphilosoph, falls ich der, den Cyrano anspricht, sein soll, antwortet, daß ein Staat sittliche Zwecke (Freiheit, Gerechtigkeit, rechtliche Gleichheit, Wohlstand usw.) verwirklichen helfen sollte, und wenn er darin stagniert, sollte er wenigstens gegen Rückfälle wirken, also den Stand konservieren. Wo er das eine oder andere bewirkt, ist er nicht sinnlos. Wo er seine Möglichkeiten (Organisation, Gewalt, Verteilung von Mitteln) aktiv für regressive Ziele einsetzt, wo er am Ende zum Instrument vernichtungswütiger Banden wird, ist er kein Staat mehr und seine Vernichtung ohne Alternative. Natürlich ist damit nicht alles gesagt; meine Antwort ist so einfach wie die Frage. Sollte sie ausgedehnt werden, wäre es ratsam, nicht unter dem Niveau von Franz Neumann und Hegel zu bleiben, die ich hier, wie zu merken war, ein wenig miteinander verbunden habe.

(6) »Dem Dichter heute rät er drum in der Folge Goethes ganz allgemein zur gesellschaftlichen Involviertheit, um Haltung zur Welt entwickeln.« – Ich müßte mich sehr irren, aber das habe ich, glaube ich, noch nie getan. Was ich hingegen mehr als einmal getan habe, ist die Forderung des genauen Gegenteils. Ein Dichter ebenso wie ein Denker, wenn er auf Sublimes zielt, ist gut beraten, sich gesellschaftlich nicht zu involvieren. Er muß die Kämpfe seiner Zeit wahrnehmen, vielleicht muß er sich auch äußern, aber wenn er zu großen Ergebnissen kommen will, darf er sich vorhandenen politischen Bewegungen nicht unterordnen. Er muß souverän sein, muß frei sein. Ich sage nicht, daß einer, der sich involviert, nicht Großes vollbringen könnte, aber die Gefahr, durch partikulare Standpunkte borniert und durch parteiliche Rücksichten gehindert zu werden, wird damit nicht eben kleiner. (Hacks war in der Frage übrigens unterschiedlicher Meinung; in seinen emphatischen Momenten hat der die Souveränität und Autonomie verteidigt, in seinen politischen hat er sich wiederholt in die Kämpfe seiner Gegenwart involviert.)

(7) An Mary Shelley frißt mich nichts an. Ich lese »Frankenstein« gern. Cyrano ist selbstverständlich kein Bartelologe, und ich bin selbst schuld, daß ich meine Auffassung in dieser Frage noch nicht in ausgedehnter Form veröffentlicht habe. Klassik, so lautet hier mein Zugriff, ist nicht in ästhetischer Hinsicht überlegen; ihre Inthronisierung ist das Resultat einer Zweckverschiebung der Kunst weg vom Ästhetischen hin zum Epistemologischen. Das klassische Kunstwerk ist nicht das gattungsmäßig gelungenste, sondern das weltanschaulich gehaltvollste, wobei von der anderen Seite her gilt, daß die ästhetische Einheit noch gewahrt sein muß. »Faust« oder die »Verlorene Zeit« sind zu intellektuell, um klassisch zu sein. »Der Raub der Sabinerinnen« oder »Noises Off« sind zu gut, um klassisch zu sein. Ich bin hier wirklich unverantwortlich kurz und habe zum Überfluß nicht einmal Lust, wenigstens eine der 17,5 Dosen Würmer, die ich gerade geöffnet habe, wieder zu schließen. Es kam mir nur darauf an, diesen einen Punkt zu klären: daß klassisch und ästhetisch gelungen nach meinem Begriff nicht einfach identisch sind (was Hacks bekanntlich anders gesehen hat).

(8) Gab es nun die Weimarer Klassik? Mir gefallen die vorgetragenen Gründe sehr gut, auch wenn ich die poetische Desavouierung Schillers nicht nachvollziehen kann. Ich bin ebenfalls der Meinung, daß die Weimarer Klassik nur eine halbe Klassik ist. Wenn man sie an Shakespeare und den Griechen mißt. Sie ist aber nicht halb, weil sie nur aus Goethe bestünde, sondern weil sie in Goethe und Schiller zerfällt. Cyrano deutet das selbst an. Goethes poetische Kraft durch Schillers begriffliche Ordnung, die aber (vgl. die »Naive und sentimentalische Dichtung«) die heilende Kur der Goetheschen Pluralität durchlaufen müßte; das Verhältnis ist kartesisch: Kraft und Ausdehnung, und es gilt auch für die poetische Praxis. Schiller ist der bessere Dramatiker, Goethe der mit dem besseren Verständnis für die vom Drama dargestellten gesellschaftlichen Kollisionen. Abgesehen davon scheint mir Singularität kein sehr zwingendes Argument zu sein. Und wenn die englische Klassik nur aus Shakespeare bestünde, wäre sie dann weniger Klassik? Von den vier Griechen scheiden Aristophanes und Aischylos aus verschiedenen Gründen ebenso aus wie der späte Euripides, der Handlungs- durch Figurendramaturgie ersetzt und das Metrum aufgelöst hat, den Turn somit ins, vielleicht darf man sagen: Romantische vollzogen hat.

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