Okt. 092009
 

 Zum 100. Geburtstag des Dramatikers Alfred Matusche1

 

Jubiläen haben keine innere Bedeutung. Ob einer vor 100 Jahren geboren wurde oder vor 99 Jahren und 366 Tagen, es macht in Hinblick auf die Sache keinen Unterschied. Doch gibt es Punkte, an denen wir Anlaß haben anzuhalten, uns umzuwenden und die Frage zu stellen, was in der abgelaufenen Zeit passiert ist und was wir für den, dessen Geburtstag gefeiert wird, getan haben. Wenn etwa ein Dichter, an dessen Bedeutung kein Zweifel bestehen kann, 100 Jahre nach seinem Geburtstag immer noch für tot gehalten wird, dann muß man sich fragen, ob man wirklich alles richtig gemacht hat. Alfred Matusche ist heute vor 100 Jahren geboren worden; er war ein bedeutender Dichter, und er wird heute weitgehend für tot gehalten. Ein Zustand, den zu ändern auch eine Frage der Selbstachtung ist. Continue reading »

  1. erschienen in: junge Welt v. 8. Oktober 2009. []
Aug. 052009
 

Mohammed war ein Prophet,
Der vom Fußballspielen nichts versteht.
Doch aus all der schönen Farbenpracht
Hat er sich das Blau und Weiße ausgedacht.

Wie der Kundige umgehend an der dilettantischen Handhabung des Metrums, der hemdsärmeligen Gedankenführung und der ungechlachten Wortwahl erkannt haben dürfte, handelt es sich hierbei um eine Stelle aus der Vereinshymmne des Fußballclubs Schalke 04. Unkundigen sei erklärt, daß Schalke 04 so etwas wie den Bodensatz der deutschen Fußballkultur darstellt. Der durchschnittliche Schalkefan spricht kein Hochdeutsch, verfügt (sofern dies Verbum in diesem Zusammenhang anbebracht ist) über einen etwa kniehohen Bildungsstand und trägt jeden Samstag eine Aldi-Tüte (blau-weiß) voller Bierdosen in ein Ding, das er Schalke-Arena nennt, woselbst er Continue reading »

Juli 302009
 

Vor genau 80 Jahren, am 30. Juli 1929, wurde Werner Tübke geboren. Er feiert heute folglich seinen 80. Geburtstag, und es ist traurig, daß wir ihn ohne ihn feiern müssen.

Andererseits: Der Tod von Klassikern ist ihre eigentliche Geburt, und daß Werner Tübke ein Klassiker ist, daran hat schon zu seinen Lebzeiten kaum einer gezweifelt. Ich zögere nicht, Tübke den größten Maler des 20. Jahrhunderts zu nennen. Es ist wohl weniger schwer, der größte Maler des 20. Jahrhunderts zu sein als z.B. des 16., aber immerhin hat das 20. auch ein Genie wie Dali hervorgebracht, der handwerklich vollkommen ist und an dem einzig ein gewisser Hang zur inneren Leere verdrießt. In Tübkes näherem Umfeld befanden sich Künstler, die nicht unbedingt zu den schlechtesten ihrer Zeit zählen, wie etwa Zander, Heisig und Mattheuer. Man mag sie derselben Schule zurechnen oder nicht, man mag einem jeden von ihnen seine eigene Unüberholbarkeit Continue reading »

Juli 282009
 

I. Einleitung

Die Versuchung, »Die Gräfin Pappel«[1] autobiographisch zu lesen, ist groß. Wenn ihr im folgenden widerstanden werden soll, dann nicht schlechthin, sondern in einer bestimmten Hinsicht. Die »Gräfin Pappel« ist kein Schlüsselroman, sie ist, was mehr ist, ein Märchen. Zwar: Sie wurde 1992, also in der letzten Lebensphase ihres Verfassers gedichtet, und die Lebensgeschichte ihres Helden weist in der Tat zu viele Parallelen zur Lebensgeschichte ihres Verfassers auf, als daß man das Autobiographische bei einer Deutung außer acht lassen könnte: Wie Philibert hat Peter Hacks in jungen Jahren die Welt, in der er aufwuchs, verlassen, wie diesem wurde ihm die Welt, in die er fortging, zerstört, wie dieser weigerte er sich, nach der Zerstörung seiner Wahlheimat in der neuen, d.h. in der alten Welt anzukommen. Die Fabel, könnte man meinen, bildet eins zu eins die Biographie des Dichters Peter Hacks ab. Und auch in den Einzelheiten findet sich Continue reading »

Juli 072009
 

Zur strukturellen Ähnlichkeit von Absolutismus und Sozialismus bei Peter Hacks

Auf den Absolutismus ist die Welt nicht gut zu sprechen. In ihrer Vorliebe für die open society scheinen Linke wie Rechte, Fortschrittler wie Rousseauisten, Marxisten wie Freunde der kapitalistischen Produktionsweise ihre Gemeinsamkeit zu haben. Alle lieben die Freiheit. Aber natürlich versteht jeder seine eigene darunter, und dennoch geben alle vor, ein und dieselbe zu meinen. Von Inhalten redet man heute einfach nicht mehr. Die ganze Welt, scheints, hat das Geschichtsbild des Herrn Karl Popper übernommen. Continue reading »

Juli 062009
 

In der Tageszeitung junge Welt findet sich heute ein Vorabdruck des neuesten Buchs von Heidi Urbahn de Jauregui. Es heißt Dichterliebe und handelt vom Leben und Werk der deutsch-französischen Schriftstellerin Camille Selden alias Elise Krinitz alias Johanna Christiana Müller alias Margot alias Monk alias Sara Dennigson – soweit ich nicht irgend einen ihrer freiwilligen oder unfreiwilligen Namen vergessen habe.

I

Camille Selden ist eine höchst merkwürdige Frauenexistenz aus dem Paris des 19. Jahrhunderts. Sie war Freundin oder Vertraute gleich mehrerer Schriftsteller: Alfred Meißners, Hippolyte Taines und Heinrich Heines. (Natürlich nacheinander, wie sich versteht.) Vor allem als Gebliebte des letzteren, als Heinrich Heines allerliebste „Mouche“, ging sie in die Literaturgeschichte ein. Zumindest in Deutschland, denn während man sie dort ausschließlich als die „Mouche“ kennt und von der Schriftstellerin Camille Selden nichts weiß, verhält es sich in Frankreich gerade umgekehrt. Continue reading »

Juni 282009
 

Es gibt Überzeugungen, die man sich schon deswegen bewahrt, weil man anders sein Leben kaum in einiger Ruhe und Ordnung verbringen könnte und vielmehr stets fürchten müßte, daß einem die schlimmsten Dinge zustoßen, da die Welt, im Fall jene Befürchtungen Realität hätten, kaum noch als sicher gelten könnte. Von unseren Architekten z.B. glauben wir, daß sie in der Lage sind, Gebäude auf die Erde zu stellen, die auch nach längerem Gebrauch nicht einstürzen, und dieser Glaube erleichtert es durchaus, sich täglich in solchen Gebäuden aufzuhalten. Von unseren Konditoren glauben wir, daß sie nie den Puderzucker mit dem Rattengift verwechseln, aus denselben verständlichen Gründen. Von unseren Fluggesellschaften …

An diesem Glauben ist nichts verwerflich. Immerhin: Häuser stürzen praktisch nie von selbst ein, puderbezuckerte Kuchen besorgen bestenfalls einen schleichenden Tod durch Verfettung, und selbst Maschinen der Air France neigen in den allermeisten Fällen dazu, genau dort runterzukommen, wo sie runterkommen sollten.

Merkwürdig indes, daß diese Sorte Glaubens sich auch in solchen Fällen hält, wo Evidenz längst Zweifel hat aufkommen lassen. So glauben wir wirklich, daß unsere Politiker praktische Menschen sind, obgleich doch ihre Politik oft genug bezeugt, daß sie es nicht sind – nicht einmal das, um präzise zu sein. Wir glauben auch, daß unsere Lyriker etwas von Metrik verstehen, unsere Ärzte wissen, wie man Menschen heilt, und unsere Lehrer mit Menschen umgehen können. Ähnlich denn auch unser Bild von den Wissenschaftlern. Continue reading »

Juni 232009
 

Goethe schafft es immer wieder, mich zu überraschen. Erst kürzlich las ich wieder einen Goethe-Satz, der mehr enthält als ganze Regale voll von Büchern zum selben Thema:

Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten.

Wie macht der Mann das? Selbst die Überraschung gerät ja, wenn man sie zu erwarten beginnt, in die Gefahr, ihren Reiz zu verlieren. Jemand also, der immer wieder überrascht, muß über einiges mehr verfügen als bloß die Fähigkeit zu überraschen.

Ich lese Goethe, seit ich denken kann; manches von ihm immer wieder. Er ist der einzige Dichter, der Continue reading »

Juni 212009
 

Sappho ist eine lesbische Dichterin im doppelten Sinne des Wortes. Sie lebte auf Lesbos, schrieb im lesbisch-aiolischen Dialekt (dem ungemütlichsten von allen), und sie pflegte sexuelle Neigungen zu Frauen. Gut möglich, daß sie bisexuell war; heterosexuell war sie nicht.

Heute weiß das jeder. Zu gut passen die persönlichen Beziehungen, die in Sapphos Gedichten gespiegelt werden, in den kulturellen Zusammenhang der Initiationsriten, die es eben nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen gab, und für die gleichgeschlechtliche Bindungen nicht untypisch zu sein scheinen. Continue reading »

Juni 202009
 

Vielleicht hat Monika Maron, der man jüngst den Nationalpreis für ihr „Werk“ übergeholfen hat, in ihrem Leben nie einen wahreren Satz gesagt als den, mit dem sie zu ihrer Dankesrede anhub:

Der Preis der Deutschen Nationalstiftung ist kein Literatur-Preis. Er ist ein politischer Preis

Ich begrüße so viel Ehrlichkeit. In der Tat sind die drei Preisträger Uwe Tellkamp, Erich Loest und eben Monika Maron literarisch gesehen bestenfalls Holzklasse Continue reading »