Okt 012016
 

Über den Nichtwähler und die intime Wut, die er auslöst

Kampf ist nicht gleich Krieg, Gewinnen nicht gleich Vernichten, das Durchsetzen einer Idee nicht der Versuch, sie sämtlichen Köpfen einzutrimmen. Eingestanden stellen politische Ideen Entwürfe menschlichen Zusammenlebens vor, die für alle gelten sollen. Jedes Urteil, sobald gedacht, jede Handlung, sobald begonnen, ist autoritären Charakters. Selbst das Nicht-Autoritäre muss autoritär werden, sobald es agiert. Politik wird von einigen betrieben, hat Folgen aber für alle. Meine Regierung ist nicht meine; ich habe sie nicht gewählt, dennoch regiert sie mich, und ich habe nur die Wahl, etwas dagegen zu tun oder mich gelangweilt abzuwenden. In jedem Fall spüre ich die Ideen anderer am eigenen Leib. Ich muss leben, wie eine ermittelte Mehrheit des Landes will. Menschen, die ich nicht ernstnehmen kann, entscheiden über mich. Heimatkunde, Lektion 1. Continue reading »

Sep 232016
 

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Gewiss, dieser Schnappschuss, der zur Zeit die Runde macht, als handle es sich um den sterbenden Soldaten von Guernica, ist ungerecht. Er sagt eigentlich gar nichts, außer man möchte, dass er was sagt. Wir sehen, dass zwei politische Gegner, zwei Konkurrenten, am Rande einer Talkshow sitzen und lachen. Wir wissen nicht, was sie davor taten, und nicht, was danach. Dieses Bild zweier Rechtspopulistinnen herumzureichen ist selbst populistisch. Denn ebenso wie gilt, dass Bilder mehr Macht und Wirkung als Worte haben, ebenso ist wahr, dass im Kampf um Wahrheit und Wirklichkeit immer die Worte über die Bilder siegen. Wenn man sie denn lässt. Wer Bilder anstelle von Worten bemüht, setzt sich dem Verdacht aus, seinen Gedanken und seiner Sprache nicht hinreichend zu vertrauen. Das Bild schlägt sich im Zweifel immer auf die falsche Seite, weil es, anders als die Sprache, nie nicht-einseitig sein kann und an allem scheitert, was komplexer, vermittelter und widersprüchlicher ist als eine noch so exemplarische Aufnahme eines Moments, in dem – sonst wäre es keiner – die Zeit stillestehen muss. Nur was – was nur fehlt hier beim Gipfeltreffen dieser beiden Politikerinnen?, die wie kaum jemand anders zur Zeit die Wut der Straßen und Kneipen artikulieren und mehr (Wagenknecht) oder weniger (Petry) begabt und mit mehr (Petry) oder weniger (Wagenknecht) Authentizität dem einfachen Pinsel vom Gehsteig das Wort aus dem Mund nehmen, das er selbst nie darin hatte. Was fehlt? – die Worte natürlich:

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Sep 182016
 

Utopie und schweigende Mehrheit

Ein PS

Konstantin Bethscheider, mit dem mich etwas verbindet, das man vielleicht konzessive Freundschaft nennen kann, hat einen Home Run geschlagen. Nein, diese Metapher taugt nicht. Dass der Ball im Baseball gelegentlich aus dem Spielfeld befördert wird, ist regulärer Teil dieses Spiels. Kein Aus, sondern ein Punkt. Was hier gelang, gleicht eher einem großen Sprung von der kleinen Schanze. Wie immer das auch gehen soll. »Ein Wort für die schweigende Mehrheit«, dieser Essay, überschreitet sich selbst, indem er den vorgesehen Rahmen sprengt. Er handelt von einer sehr gegenwärtigen Stimmung, die das Spezifische unserer Zeit ausmacht – ästhetisch zunächst in noch genießbarer Form, politisch dann ganz entblößt in voller Hässlichkeit: der Geist der Marvel-Comics als Vorschein heutiger Zeloten von rechts. Also jener neueren Rechten, die von Donald Trump über die Orbáns/Petrys/Hofers bis hin zu Wladimir Putin gemeinsam einen Teppich stumpfsinniger Volksfürsorge übers Abendland legen. Continue reading »

Sep 142016
 

Der Aufstieg des Donald Trump und sein Vorschein im Marvel-Kosmos

von
Konstantin Bethscheider

Vorwort

»Es ist in der Tat viel leichter, durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztre ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.«

(Karl Marx)

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Lage der westlichen Gesellschaften verzweifelt ist: Die Wiederauferstehung politischer Kräfte, die man sich durch die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hindurch bereits angewöhnt hatte als ›Ewiggestrige‹ zu unterschätzen, legt davon ebenso Zeugnis ab wie die offenkundige Unmöglichkeit, dieser rasanten Regression mit den Mitteln des Intellekts zu begegnen. Während diesseits des Atlantiks AfD, Front National und Putin Erfolge feiern, die mit den Mitteln des Verstandes so schwer nachzuvollziehen sind, dass jede neue Hiobsbotschaft empfangen wird mit dem Lamento, dass noch ein Jahr zuvor der entsprechende Erfolg unvorstellbar gewesen sei, starren die Medien und die Intelligenzija jenseits des atlantischen Ozeans wie ein Reh im Scheinwerferlicht auf die Erfolge Donald Trumps, dessen kometenhafter Aufstieg nicht einmal durch Zerwürfnisse mit seinem natürlichen ideologischen Verbündeten Fox News behindert werden konnte. Continue reading »

Sep 092016
 

»Pride« spielt im Gestern und handelt von heute

(keine Rezension)

Man kann »Pride«, diese sehr britische Komödie, nicht sehen, ohne sich in manchen Momenten enerviert im Sessel hin und her zu wälzen. Man möchte auf Pause drücken, lässt es doch, füllt Whisky nach und schaut kopfschüttelnd weiter. Und einen Moment später schafft der Film spielend, einem die Tränen in die Augen zu treiben. Weils so schön ist, und so traurig. Und gelungen. Obwohl er kitschig ist und naiv, weil er kitschig ist und naiv. Ich rede also von einem wirkungsvollen Stück Kino. Da der Plot ohne Naivität nicht funktionieren könnte und der Film andernfalls Gefahr liefe, in gnadenlos verlaberten, analytisch aufgepumpten Szenen zu ertrinken, tut er gut daran, diese Naivität auch gleich hemmungslos einzusetzen. Continue reading »

Aug 272016
 

Über Doping und was die Leute daran stört

Nämlich gar nichts

Beginnen wir mit dem Eigenartigen. Niemand interessiert sich für Doping. Der Satz muss für wahr gelten, denn während tatsächlich sehr oft über Doping gesprochen wird, beweist die Art, wie es geschieht, dass Doping selbst überhaupt kein Thema ist und im Reden darüber ganz andere Probleme bearbeitet werden. Ich versuche, mich verständlich zu machen. Es sollte nicht länger dauern als ein 3000-Meter-Lauf. Continue reading »

Aug 242016
 

Ein Gespenst geht um in Europa. Es trägt eine Burka. Alle Mächte des alten Europa, geistige und materielle, haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet. Und das ist auch gut so.

(1) Offenbar gibt es keine zwei Meinungen bezüglich der Burka selbst. Der Streit geht lediglich um die Frage, wie das, was man nur ablehnen kann, gesellschaftlich zu behandeln ist. Soll man die Burka einfach hinnehmen oder ihr Zeit geben, durch gesellschaftliche Emanzipation zu verschwinden, oder auf Geduld und Aufklärung setzen oder meint man, vor allem mittels gesetzlicher Restriktion das Problem eindämmen zu können. Zwischen diesen Ansätzen etwa bewegen sich die vorgetragenen Ansichten. Kaum jemand kritisiert das angeregte Verbot, weil er die Burka selbst als Wert sähe. Continue reading »

Jul 012016
 

Menschen, weiß man, sind oft nicht schlau. Deswegen können Hersteller wie Bitburger überhaupt bestehen. Ich habe noch nie Bitburger getrunken, so schlecht ist dieses Bier. Seine Werbemenschen haben das erkannt und richten sich – darin Nutella ähnlich – gleich ganz auf den depravierten Teil der Bevölkerung aus. Die aktuelle Kampagne zeigt Spieler und Fans jubelnd mit verzerrtem Gesicht, wie man es sonst nur von BSE-Patienten oder Thomas Müller kennt. Darüber prankt der Schriftzug »Wenn aus 80 Millionen ein Team wird«. Ich gestehe, dass mich dieses Plakat geärgert hat. Ich fühle mich impertinent vereinnahmt. In der Welt, die es behauptet, stehen alle Deutschen wie natürlich hinter ihrer Mannschaft. Continue reading »

Jun 272016
 

Vielleicht noch ein Nachtrag zur Linken und ihrem Verhältnis zur Unterschicht. Ich habe vor ein paar Tagen die ZEIT zitiert: »Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren« und etwas launig kommentiert: »Das soll wohl auch noch ein Vorwurf sein.« Das klingt lustig, und wie alles, was lustig klingt, stimmt es nur zur Hälfte. Continue reading »

Jun 232016
 

Obgleich Mehmet Scholls Behauptung, er habe noch nie so viele Chancen in einer Halbzeit gesehen, eher lächerlich ist, darf man zugeben, dass die deutsche Elf gegen Nordirland ein herausragendes Spiel aufgezogen hat. Sie sorgte fürs Spiel, die nordirischen Fans für die Stimmung, was deutsche Fans und nordirische Spieler von der Pflicht mitzutun enthob. Saubere Arbeitsteilung soweit. Continue reading »

Jun 152016
 

Fußball ist, wenn 22 Menschen gegen einen Ball treten und Holland gewinnt. Wenn Holland nicht gewinnt, war es kein Fußball. Folglich. Und in der Tat ist diese EM so attraktiv wie ein Losentscheid. Dass sie so wenig rührt, liegt aber nicht bloß am Fehlen Oranjes, das einmal mehr in voller Schönheit an hauseigenen Rhythmusstörungen gescheitert ist. Am neuen Modus etwa, der das Teilnehmerfeld aufbläht und die Auslesefunktion der Vorrunde abschwächt, was die kleinen und destruktiv spielenden Mannschaften bevorteilt. Die bisherigen Spiele waren denn auch danach. Continue reading »

Jan 282016
 

Der Kinskiwert, zentrale Messgröße für alle Medienmenschen, erlaubt eine Beurteilung des medialen Effekts einer Person, der in reziproker Relation zum gesellschaftlichen Effekt steht. Der Kinskiwert misst aggressives & exaltiertes Auftreten, das eine nicht vorhandene Substanz so offensichtlich kaschiert, dass selbst beholfene Mitmenschen gelegentlich auf die Idee kommen, es müsse doch mehr dahinter stecken. Continue reading »

Nov 202015
 

Paris spült inzwischen schon selbst historisch gewordene Historiographien in mein Sichtfeld. Letztes Jahr unternahmen die Laienprediger von der Anstalt einen Versuch, den IS zu erklären. In 7 Minuten. Das ist eine herausragende Leistung. Golo Mann hätte gewiss 14 gebraucht. Es ist aber auch leicht, wenn man lediglich auf der Ebene der äußeren Anlässe bleibt und die Geschichte der Bewegung selbst nicht einmal anreißt. Ich wurde gefragt, wie eine bessere Darstellung hätte aussehen müssen. Continue reading »

Aug 072015
 

Darf man Israelkritiker kritisieren? Bequeme Argumente für empfindliche Seelen

Es gibt Gedichte, die ersetzen ganze Abhandlungen. So eines von Wiglaf Droste: »Ich höre sie jammern, sie dürften als Deutsche/ In Deutschland nichts gegen Israel sagen.// Das dürfen sie aber, es tun auch fast alle,/ Und können dann nicht mal ein Echo vertragen.« Unfreunde des israelischen Staates müssen jetzt tapfer sein. Wir werden auch heute den Nahostkonflikt nicht klären können. Der Blick sei vielmehr gerichtet auf ein geläufiges Diskursverhalten, von dem ich meine, dass es nicht an den Tag legen kann, wer sich mit Fug gewisse Vorwürfe verbitten will. Continue reading »

Jul 282015
 

»Der Antisemitismus ist nicht der Stein, der gefunden werden muss. Er ist das Wasser, das sich um den Stein legt. Er nimmt jeweils die Form an, die von seiner zeitlichen und örtlichen Umgebung begünstigt wird. Sucht man nach seiner Form, wird man immer den synchronen Abdruck von besonderen gesellschaftlichen Situationen erhalten. Sucht man nach seinem Wesen, wird er seltsam formlos, was seine Bestimmung zu einem unerfreulichen Vorgang macht. Unerfreulich, aber nicht unmöglich.«

Das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus Leipzig organisierte von April bis Juli 2015 eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel »Die Feinde Israels«. Bartels las dort am 21. April 2015 Auszüge aus »Nahost! Nahost! oder Zur Romantik des Weltfriedens«: Continue reading »