Mai 242013
 

In jeder Familie gibt es eine Tante, die die Feiern mit sich und ihrem hysterischen Narzißmus vollmacht. Sie verteilt staubige Kekse und dünkt sich darob als Wohltäterin, obwohl keiner die essen will und Zuneigung als Gegengabe verlangt ist. Sie hält sich, gleichsam emotionaler Scheitelpunkt und moralischer Taktgeber, für das Herzstück der Sippe und will unablässig alle in bierzeltselige Eintracht miteinander bringen, ohne zu bemerken, daß sie selbst die triftigste Ursache für den sich fortsetzenden Unfrieden ist. Wir alle haben so eine Tante; sie heißt Martha, Gertrud oder Günter. Wir alle Continue reading »

Apr. 302013
 

 

Das Trauerspiel

Der Gegenstand ist groß. Groß und weithin unbegriffen. Auch von denen, die er angeht. Was vorderhand wenig besagt, denn wann jemals hätte irgendein Volk auch nur irgendwas begriffen? Es geht um die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika, und um die Art, wie sie vonstatten ging. Die Vereinigten Staaten haben eine kurze und schwungvolle Geschichte, und man muß auf diese beiden Eigenschaften das gleiche Gewicht legen, auch weil heute von diesem Schwung nur noch wenig zu erkennen ist. Ich zögere, das Wort Konservatismus zu verwenden. Das ist es nicht ganz. Es ist eher eine Continue reading »

Apr. 102013
 

Indeed, Alan Posener, she was a great revolutionary. A great counter revolutionary.

Dumm an Facebook ist, daß man immer viel mehr mitbekommt, als man mitbekommen will. Es war zu erwarten, daß die Fellows der neokonservativ-neoliberal-neorechten Neoneoneo-Bewegung im Fall Thatcher ganz besonders ihre Chance wittern, das zu tun, was sie immer tun wollen: sich mutig gegen den (wenigstens in ihren Köpfen bestehenden) mächtigen Konsens der Unmächtigen stellen, im Gewand der Rebellen das sagen, was ohnehin dauernd gesagt wird, ohne daß es den geringsten Mut erfordert, da es die etablierten Verhältnisse nicht angreift, sondern stützt, und niemand befürchten muß aus derartigen Rebellionshandlungen in irgendwelche Nachteile zu geraten. Es war also zu erwarten, daß sie sich tief vor Maggies Lebensleistung verbeugen und sich, Wutbürger von oben, die sie einmal sind, entrüstet über jeden Witz zeigen werden, der über den Tod dieser bösartigen alten Frau gemacht wird, die ganz unabhängig von dem, was der Kapitalismus ohnehin schon anrichtet, verantwortlich ist für einen beispiellosen Prozeß der Verarmung, Isolierung und Dämonisierung nicht unbeträchtlicher Teile der britischen Gesellschaft.

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Jan. 112013
 

 

Zur Struktur des Ideal-Begriffs von Peter Hacks1

 

Ich bin die Saat im Winter, die im Dunkel wohnet.
Ihr kommt wohl noch dahinter, daß Erwartung lohnet.
Und lieg ich tief verborgen, bleib ich nicht verschwunden.
Der hoffen kann auf morgen, hat mich schon gefunden.

aus »Numa«

 

Mein Vortrag heißt »Die Landkarte und die Landschaft«. Ich hätte ihn aber auch gut »Wenn der Herrgott net will, nutzt es goar nix« oder »Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk« nennen können. Es liefe aufs gleiche hinaus: auf das Verhältnis, das das menschliche Wollen zu den Bedingungen, unter denen es umgesetzt werden muß, besitzt, auf den alten Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit. Es gibt zu diesem Kampf seit je drei Meinungen: das Ideal habe recht, die Wirklichkeit habe recht, beide haben unrecht. Die letzte ist die, auf die es ankommt. So zumindest Continue reading »

  1. Vortrag, gehalten am 3. November 2012 im Berliner Magnus-Haus; abgedruckt in: Gute Leute sind überall gut. Fünfte wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft, hrsg. v. Kai Köhler, Berlin 2013. []
Dez. 012012
 

Ich sage ja nicht, daß es unmöglich ist, daß einer ein Dissident und dennoch ein guter Poet sei. Es ist nur nicht wahrscheinlich. Dem Dissidenten wird internationales Wohlwollen zuteil, den Erfolg erlangt er, weil er für etwas steht. Diese Abkürzung zum Ruhm ist zu verlockend, doch von der Poesie gilt wie von allen anderen Fächern, daß wirklich gut nur ist, wer die Umwege geht. Das gilt natürlich auch für den Staatsdichter, dem der Erfolg national zugesprochen wird wie dem Dissidenten international. Um aber einen Nobelpreis zu erhalten, muß der Staatsdichter schon ein herausragender Dichter sein.

Es passiert folglich selten, daß der Nobelpreis für Literatur aus ästhetischen Gründen vergeben wird. Und noch das zu oft, findet Herta Müller, deren Erfolg ganz offensichtlich nicht durch die Qualität ihres Werks erklärt werden kann. Mo Yan wirkt unter der Schar konformistischer Dissidenten wie ein Rebell, beschämt also Müller, die ihrerseits Liao Yiwu nach seiner Blut-und-Boden-Rede in der Paulskirche umarmt hat, nicht nur durch sein Können, sondern auch durch seine Coolness. Dietmar Dath hat den Fall bearbeitet: Continue reading »

Nov. 292012
 

Kriegszeit im Nahen Osten ist Zeit für Gefühle. Hier fast noch mehr als daselbst. Europa ist ein Irrenhaus, worin man den Nahostkonflikt nicht einfach behandelt, sondern an ihm nachweist, wer man ist. Worin man sich nicht einfach den Kopf über seine Lösung zerbricht, sondern ihn darin als Gradmesser des Weltfriedens gleichsam neu erfindet. Das ist so krank, wie es sich anhört. Wofern nicht bereits das übermäßige Interesse an diesem Komplex verdächtig sein sollte, mag doch wenigstens die Zwanghaftigkeit, mit der die Bekenntnisse vorgebracht werden, nachdenklich machen. Bekenntnisse kosten, anders als Argumente, gar nichts. Was keinen Preis hat, hat vermutlich auch keinen Wert. Die populärste Form, Israel und seine Lage zu kommentieren, ist das Bekenntnis. Es fällt, zugegeben, einigermaßen schwer, zwischen IDF-Kitsch und Palästina-Folklore etwas Haltung zu bewahren. Das Ausstellen von Wimpeln und Symbolen ist – wie das Herumziehen in Gruppen – ein Zeichen intellektueller Unsicherheit, obgleich sich auch Brüder von der ausgeschlafenen Fraktion gelegentlich dazu hinreißen lassen, eine Fahne zu schwenken, und sei es nur – wie sie sich selbst versichernd einreden – zur Provokation. But stupid is as stupid does. Continue reading »

Aug. 062012
 

Stellen Sie sich folgenden Irrsinn vor: Auf dem Weg zur Arbeit bemerken Sie an immer mehr Plätzen und Straßenecken große Bildschirme, die das TV-Programm des Senders RTL in die Öffentlichkeit übertragen. Die Bildschirme breiten sich aus und decken bald alle Straßen Ihrer Stadt ab, so daß Sie kaum noch eine Straße benutzen können, die Sie nicht zum RTL-Gucker macht. Irgendwann legt der Senat der Stadt fest, daß Sie als Bürger und unvermeidlicher Nutzer ihrer Straßen eine Gebühr an RTL zu entrichten haben, da Sie erweislich zum Publikum von RTL gehören.

100 wirkliche Taler, versichert Kant, sind um nichts mehr als 100 gedachte; ob sie existieren oder nicht, setzt ihrem Inhalt nichts hinzu. Ungern will ich Continue reading »

Apr. 192012
 

 

 Was Grass und seine Grassenheimer umtreibt

 

Wovon man nicht schweigen kann, darüber muß man sprechen.

Grass (Wittgenstein-Kritiker)

Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal: Fresse halten.

Wittgenstein (Grass-Kritiker)

 

Warum schweige ich?, fragt, heterologisch um Aufmerksamkeit heischend, der nie stille Schnauzbart des Literaten Grass. Man blickt die Zeitungsseite hinunter auf die folgenden 68 Zeilen und fragt sich unweigerlich: Ja, warum bloß schweigt er nicht? Aber so ist er, der Günter, der Grass; es reicht ihm nicht, die Menschheit seinen Absonderungen auszusetzen, er muß sie auch noch mit der Frage belästigen, warum er tut, was er offenkundig nicht tut. Andererseits scheinen viele ihren Geschmack daran zu finden. Die Pose des Tabubrechers, des einsamen Continue reading »

März 102012
 

Monsieur: Die Versuchung, die Karlsbader Beschlüsse jedesmal mit dem Beiwort »die segensreichen« zu versehen, ist groß. Aber der Herausgeber hat natürlich neutral zu bleiben.

Madame: Wenn ich den Herrschern dieser Welt einen Rat erteilen sollte – aber mi froogt ja koaner –, dann diesen: Erlasse nie ein Gesetz, das Du nicht auch durchsetzen kannst.

Monsieur: Karlsbad war wirksam. Es hat Jahn kalt gestellt und Ernst Moritz Arndt auf Jahre zum Sozialfall gemacht. Und die Linken, die später darunter litten, waren auch meist Idioten. Continue reading »

Feb. 232012
 

 

Statt dessen ein paar über den Liberalismus

 

Mir fällt zu Gauck nichts ein. Dafür fällt mir was auf. Seit ein paar Tagen gehts wieder mächtig um Freiheit. Das hat seinen Grund in dem, dass der Teapartymann und Pastor Joachim Gauck demnächst zum König gekrönt werden soll. Ich muss ihn nicht vorstellen. Sein Leben ist bekannt. Geboren 1940 in Rostock, zu einem Studium an einer staatlichen Universität reichte es nicht, folglich studierte er Theologie. Zum Theologen langte es ebenfalls nicht, folgte also die Arbeit als Pastor und IM »Larve«.1 Nach 1990 dann Chefverfolger seiner ehemaligen Kollegen. Der einzig nennenswerte Erfolg der nach ihm benannten Behörde bestand darin, dem Ampelmännchen nachgewiesen zu haben, dass es nicht nur grün, sondern auch rot war. Seit 2000 Privatier und, glaubt man Gerüchten, auf der Suche nach der zweiten Karriere in Hollywood, in der es aber nachweislich bloß zu einer Hauptrolle in einem B-Movie gereicht hat.2 Zurückgekehrt nach Deutschland versuchte er sich als Fernsehmoderator und Buchautor. Das Ergebnis: desaströs. 2010 verlor er die Wahl um das Amt des Bundespräsidenten gegen einen Konkurrenten, gegen den zu verlieren vorher als unmöglich galt. Joachim Gauck – das Leben eines Verlierers. 2011 erschien in der Bundeszentrale für politische Bildung der Sammelband »Crazy Joachim: Petzer und Hetzer«, der als bislang umfassendste Würdigung seines Schaffens gilt. Continue reading »

  1. Rayk Wieland: Die Larve. In: konkret 8/1997. []
  2. Gauck hat stets abgestritten, dass seine Darstellung des Carl Fredricksen in »Up« der Beginn einer Karriere in Hollywood sein sollte. Tatsache ist, dass diesem Auftritt keine weiteren Rollenangebote folgten. In der Branche hieß es, Gauck sei ein schwieriger Mensch und als Actor verbrannt. Während der Dreharbeiten zu »Up« war es zu zahlreichen Wutausbrüchen gekommen. Immer wieder soll Gauck der Regie mit dem Script in der Hand fuchtelnd vorgeworfen haben, dass sie die notwendige Kritik am DDR-Regime nicht deutlich genug herausarbeite. []
Okt. 222011
 

Günter Grass hat ein Problem

Unfähigkeit ist ein furchtbarer Antrieb
Peter Hacks

Theorien, die von Stalin in die Welt gesetzt wurden, tragen am Schicksal, schon deswegen als falsch zu gelten, weil es Stalin war, der sie in die Welt gesetzt hat. So wenig fair es ist, eine Theorie für ihren Urheber büßen zu lassen, doch die These vom Sozialfaschismus ereilte ein noch tragischeres Los: Vom Rest der Welt wird sie abgelehnt, da sie von Stalin stammt; von den Stalinisten wird sie abgelehnt, weil Stalin ab 1935 den braven Dimitroff die theoretisch unsinnige, aber politisch opportune Einheitsfrontthese an die Stelle der alten Theorie setzen ließ. Obgleich aber die Sozialfaschismusthese nicht abgelehnt wird, weil sie falsch ist, ist sie falsch. Sie reicht nicht hin, den Faschismus theoretisch zu erfassen. Nicht nur, weil sie mit einem unvollständigen Begriff arbeitet, sie behauptet auch hinter dem Treiben der Weimarer Republik ein konzertiertes Vorgehen, das offenkundig nie vorlag. Continue reading »

Sep. 062011
 

Als der Zensus bei mir klingelte, hatte ich ein Problem. Einfach reinlassen konnte ich ihn nicht, dafür müßte ich mich noch vor meinen Enkeln schämen. Am Zensus teilgenommen zu haben ist etwa ebenso peinlich wie ein Auftritt bei RTL2 oder ein Sitz auf der Anklagebank des IMG zu Nürnberg. Man versucht sowas zu vermeiden, denn es hängt einem lange nach. Ich konnte allerdings Continue reading »

Juli 112011
 

Antiimperialismus und Judenhass

 

»… laßt uns Kerzchen anzünden für die Verarschten und Ausgebluteten, die mit uns sonst nichts weiter zu tun haben, als daß wir sie erlösen wollen, laßt uns ganz viel davon reden, wie die ›westliche Kultur‹ die ›anderen Kulturen‹ unterdrückt und ausbeutet, die irgendwie unschuldiger, erdnaher, niedlicher sind, von so ein bißchen Klitorisrausschneiden, Steinigen und Frauen-in-den-Sack-Stecken mal abgesehen. Mit Sitting Bull, Geronimo und den Taliban gegen Thomas Jefferson, so stellen die sich das vor.«

Dietmar Dath

 

Von allen verrückten Schnurren mitteleuropäischer Nahostfolklore weiß ich eine verrückteste. Es kann keine fünf Jahre her sein – vielleicht war es kurz nach dem Krieg im Libanon –, da schrieb mir einer, mit dem ich bis dahin bekannt war, folgenden Gedankengang nieder: Ohne Antisemitismus könne Israel nicht existieren, weshalb er von den Zionisten nicht bekämpft, sondern nach Kräften gefördert werde; die Abschaffung des Staates Israel sei folglich die Voraussetzung für die Abschaffung des Antisemitismus. Der das schrieb, war offenkundig kein Logiker, aber auch kein Nazi. Er war ein Linker, zumindest im Selbstverständnis. Ich danke dem Vorfall eine wichtige Erkenntnis, auf die ich am Ende zurückkommen werde. Auf den Brief damals habe ich nicht mehr erwidert. Mit Antisemiten diskutiert man nicht, man bekämpft sie. Und wenn man, wie ich, das Kämpfen nicht gelernt hat, dann schreibt man ihnen dennoch nicht, sondern bestenfalls über sie. Continue reading »

Juli 072011
 

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Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß1

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Das Ende der Deutschen Klassik, das sich irgendwann zwischen der ersten Nummer des Athenäum und dem Tod Goethes vollzog, kann von verschiedenen Seiten her begriffen werden. Es läßt sich als Ergebnis des heraufziehenden Kapitalismus beschreiben, als Resignation einer jungen Generation gegenüber einer gefühlten Unüberbietbarkeit der klassischen Periode oder als Verzweiflung des einzelnen Subjekts, das sich mit der in der Moderne zunehmenden Freiheit auch zunehmend seiner Möglichkeiten, auf die Welt zu wirken, beraubt sieht. Der Gründe sind viele, und soweit ich sehe, ist das einzige, was am Untergang der Klassik wirklich ganz unschuldig ist, ausgerechnet jenes Ereignis, dem man am häufigsten die Schuld daran gegeben hat: die Erfindung der Dampflok. Von welcher Continue reading »

  1. zuerst erschienen: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 34 (2010), S. 33–51. []
Sep. 042010
 

Wer nicht tanzen kann mit Winden,
Wer sich wickeln muß mit Binden,
Angebunden, Krüppel-Greis,
Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen,
Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen,
Fort aus unsrem Paradeis!

Wirbeln wir den Staub der Straßen
Allen Kranken in die Nasen,
Scheuchen wir die Kranken-Brut!
Lösen wir die ganze Küste
Von dem Odem dürrer Brüste,
Von den Augen ohne Mut!

Der Urheber dieser Worte ist nicht Thilo Sarrazin, sondern Friedrich Nietzsche. Von Sarrazin stammen folgende Erhellungen: Continue reading »