Ich habe Enzensbergers »Schreckens Männer« gelesen. Er versucht, einen begrifflichen Zusammenhang zwischen dem westeuropäischen Amokläufer und dem islamistischen Attentäter herzustellen und findet den in der Figur des radikalen Verlierers. Das ist weder besonders neu (auch 2005 nicht, als der Essay erschien) noch gut ausgeführt. Der Text ist, ehrlich zu sein, erstaunlich schlecht organisiert und bleibt weit hinter dem Niveau der glanzvollen Stücke in Sammlungen wie »Mittelmaß und Wahn« oder »Politische Brosamen« zurück. Natürlich ist Enzensberger immer etwas brillant, seine Stärke von jeher, Psychologisches anschaulich zu machen; er kann Theorie konkret erzählen. Und das funktioniert auch dann gut, wenn es auf der begrifflichen Ebene nicht funktioniert. Continue reading »
Ringelnatzens »Bumerang« wäre wahrscheinlich das komischste Gedicht aller Zeiten. Allein das Weglassen der Artikel vor »Bumerang« und »Publikum« ist ein Meisterstück, das die debile Wirkung des doppelten Anapästs (»Bumerang | flog ein Stück«) sowie des im Anschluß evozierten Bildes von stundenlang auf einen davon gesegelten Bumerang wartenden Zuschauern ins Maximum steigert.
Es bleibt daher unerklärlich, warum das Gedicht statt seiner starken vier Verse noch zwei einleitende hat. Verse, die den Witz unnötig strecken, indem sie Continue reading »
Es kommt im Leben schon mal vor, daß einer einen fragt, warum er mit einem anderen befreundet ist, und mit dieser Frage durchaus nicht Interesse, sondern Mißbilligung bekundet. Wenn einer Ärger mit einem hat und nun von der gesamten Welt erwartet, sie möge an diesem Ärger teilnehmen, ist darin eine alte Sehnsucht zum Ausdruck gebracht; nämlich mehr zu können, als man selbst kann. Die eigene Macht endet direkt hinter der eigenen Handlung, man wünscht sich einen Fortgang, ein Wirken über sich hinaus. Warum sollen nicht alle einsehen, was ich eingesehen habe? Continue reading »
Es war der 16. Februar 2011. Koscielny fängt einen diagonalen Paß von Messi an der Strafraumgrenze ab, legt ihn, während Barca nicht energisch genug auf den Umschaltmoment reagiert, nach außen auf Bendtner, der, für Walcott ins Spiel gekommen, weit zurückgezogen steht. Bendtner bringt sich mit wenigen Schritten zu den zentral stehenden Wilshere und Fabregas in eine Dreiecksstellung, die vier kompakt stehende Barcaspieler einschließt, die nun umspielt werden können, gibt einen schnellen horizontalen Paß auf Wilshere, der den Ball mit einer Berührung noch schneller und vertikal auf Fabregas weiterleitet. Der nimmt den Ball in einer Bewegung um 180° mit und spielt einen flachen Paß nach vorn auf den 30 bis 40 Meter vorausgelaufenen Nasri. Die Abwehr Barcelonas ist in nicht mehr als fünf Sekunden überbrückt, ohne daß der Ball den Boden verlassen hätte; lediglich eine Dreiereihe kann Nasri folgen, der keine Mühe hat, in deren Rücken zu spielen, wo Ashavin heranläuft und mit einem ansehnlich gezirkelten Schuß zum 2:1 abschließt. Solche Szenen Continue reading »
Bei Fußballkommentatoren werde ich immer traurig. Es gibt wohl keinen Berufsstand, dessen Vertreter so durchgehend Ablehnung erfahren. Sogar Investmentbankern, sogar Anwälten, sogar den jeweiligen Vorsitzenden der Grünen wird wenigstens punktuell etwas Unterstützung zuteil.
Natürlich sind sie alle Schmocks. Und natürlich wird man sich darauf einigen können, daß es auch in diesem Berufsstand ein Besser und Schlechter gibt. Daß Bela Rethy vielleicht doch etwas erträglicher ist als der zwanghaft parteiliche Tom Bartels. Oder daß die Inkompetenz eines Thomas Herrmann unerreicht ist, weshalb dieser Berufshysteriker völlig zu Recht beim Spartensender Sport1 sein Dasein fristet. Oder daß man, vor die Wahl zwischen Continue reading »
Alle Sommer gerader Jahre habe ich viel durchzustehen. Mannschaften, die schlechten Fußball spielen und trotzdem gewinnen, WM-Songs, Reinhold Beckmann, vornehmlich aber jene nationale Penetranz, von der man allenthalben angesprungen, mitgerissen und ungefragt fraternisiert wird. Im sogenannten Partynationalismus kommen zwei Momente des Widerwärtigen zusammen. Einmal der schnöde Nationalismus, zum anderen das Volkstümliche, zwanghaft Gutgelaunte, das sommerliche Du. Dem Volksfest kann man fernbleiben, es macht nur Krach und Müll. Es ist ein bißchen anmaßend, aber es unterstellt keine übergreifende Eingemeindung. Es ist unpolitisch.
Das Fußballvolksfest ist mehr. Es gibt keine würdevolle Weise, eine Fahne zu tragen. Das Ausstellen nationaler Zeichen ist von jeher die Kennung derer, die, was sie nicht in sich haben, neben oder über sich suchen. Im Vereinsfußball bedeutet ein Symbol wenigstens nichts anderes als eben den Verein, zu dem man hält. Im nationalen Fußball Continue reading »
»Captain America«, der Posse zweiter Teil, hat gekonnt alle Erwartungen untertroffen. Nicht, daß die hoch waren. Niemand hatte geglaubt, etwas vom Kaliber der »Watchmen« oder »The Dark Knight« zu sehen. Aber selbst an ihren eigenen Maßstäben gemessen ist diese Fortsetzung schwach. Der erste Teil des CA teilte kaum mehr mit als das Weltbild der Boy Scouts, die ängstliche Katzen von Bäumen holen, Nachbarn beim Reparieren des Dachs helfen und im schlimmsten Fall mal zu tief ins Rootbeerglas schauen. Der junge Steve Rogers ist körperlich schwach, aber von einer unerschütterlichen Geradlinigkeit, einem Eifer und Patriotismus erfüllt. Er war damit eine Art positives Gegenbild für das gegenwärtige Amerika, bei dem es sich genau umgekehrt verhält: Die Hardware funktioniert bestens, ist aber begleitet von einer tiefen Verunsicherung und dem allmählichen Begreifen, daß auch die eigene Ideologie (und nicht nur die der Gegner) einen doppelten Boden hat. Rogers steht für eine Zeit, in der die Guten einfach noch die Guten waren. Continue reading »
Das klassische Streben nach einer Gattungsordnung und ihre rational begründete Dekonstruktion
Peter Hacks und Gérard Genette1
Vor drei Jahren habe ich den Versuch unternommen, das zu umreißen, was den Begriff der Klassik bei Peter Hacks ausmacht, und dabei die unbewiesene Behauptung aufgestellt, daß Hacksens Beschäftigung mit der Gattungstheorie weniger im Zusammenhang mit der Installation seines klassischen Credos zu sehen ist als vielmehr mit dessen Verteidigung gegen einen als bedrohlich wahrgenommenen Zeitgeist, der von Hacks in dem Codewort Romantik zusammengefaßt wurde.2 Ich will diese These auch heute nicht beweisen, denn sie ist nicht beweisbar, aber ich will sie ein wenig mit Material unterfüttern und damit vielleicht ermöglichen, daß sie von einer anderen Seite her beleuchtet werden kann. So soll sich die Reichweite der Hacksschen Gattungstheorie zeigen, und das erledigt, möchte ich – denn jedes Licht wirft Schatten – einen Blick hinüber werfen zu Gérard Genette und dessen Wiederbelebung der aristotelischen Kategorien. – Durchaus nicht, weil das Zusammenbringen Continue reading »
- Vortrag, gehalten am 2. November 2013 im Berliner Magnus-Haus; abgedruckt in: Die Götter arbeitslos gemacht. Peter Hacks und die Klassik. Sechste wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft, hrsg. v. Kai Köhler, Berlin 2014, S. 26–46. [↩]
- Selbst auf den Schultern der Gegner. Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß, in: Topos 34 (2010), S. 33–51, hier: S. 44f. [↩]
Die Behauptung, daß jedes Kunstwerk einen Inhalt habe, ist so wahr wie banal. Viel interessanter ist die Frage, was denn genau diesen Inhalt ausmache. Abgesehen davon, daß sich der Inhalt in der Kunst nie als solcher zeigt, sondern notwendig in einer Form, und daß die Form, das Wie der Mitteilung, selbst zur Mitteilung wird, läßt sich, sofern man Inhalt als Begriff in der Abstraktion festhalten will, Weltanschauung und Haltung voneinander unterscheiden. Das darstellende Kunstwerk (Epos, Roman, Film, Theaterstück, Musical, Oper usf.) macht einerseits durch Diktion Aussagen, vermittelt also ausdrücklich Ideen, andererseits aber teilt es durch die Handlungsstruktur selbst gleichfalls etwas mit. Man kann lange und ergiebig darüber streiten, welche der beiden Mitteilungen die wichtigere ist: die durch Rede vermittelte Weltanschauung oder die durch Handlung vermittelten Haltungen. Continue reading »
Mit letzter Lippe schnell
noch ein Versprechen. Denn
die flinke Tinte ist ihm ausgegangen.
Unsere Freude aber ist Continue reading »
Kain war Ackermann, Abel Viehzüchter. Der älteste Klassenkampf der Welt, den die Bibel da so lakonisch am Anfang ihrer Menschheitsgeschichte darstellt. Und Kain, der Ackermann, gewinnt. Der Seßhafte besiegt den Nomaden, wie es geschichtlich ja tatsächlich passiert ist. Zugleich tritt mit dem verfeindeten Brüderpaar die Menschheit von der Familie zur Gesellschaft über. Wo die Liebe nicht mehr den unmittelbaren Zusammenhalt ausmacht, sondern der Einzelne dem Einzelnen als Fremder gegenübertritt und notwendig Feindschaft entsteht. Bereits die Kinder der Liebe zwischen Adam und Eva, die beiden Brüder, die ausziehen und eigene Familien gründen müssen, sind einander feind. Und Kain, der feindselige, der neidische, ist der, der siegt. Er, nicht Abel, zeugt die Nachkommen. Wir sind Kains Kinder, nicht Abels. Das ist grausam, archaisch und nur eine Handbreite über der Hoffnungslosigkeit. Gefrorene Geschichte. Realismus eben. Continue reading »
MRRs Abgang muß nicht betrauert werden, wenn gilt, was ich kürzlich geschrieben habe: »Am Ende eines langen Lebens voller Großtaten abzutreten ist kein Unglück.« Bei dieser Gelegenheit fielen, exemplarisch, die Namen Goethe, de Gaulle und Loriot. In diese Gesellschaft gehört MRR. Vielleicht.
Es ist nicht einfach. MRRs Lebenswerk besteht darin, einen Beruf, der Genie eigentlich ausschließt, als Genie ausgeübt zu haben. Er war ein besserer Schriftsteller und klügerer Kopf als die meisten derer, über die er als Kritiker schrieb. Das ist rar und läßt sich vielleicht überhaupt nur so erklären, daß dieses Genie MRR ein ganz und gar unpoetisches Genie war, eines, dessen Qualität im Aufspüren und Bewerten von Gedanken und ästhetischen Wirkungen liegt, nicht jedoch darin, solche selbst hervorzubringen. Ein Genie des Sekundären. Gibt es das? Ich sagte ja, es ist nicht einfach. Continue reading »
Und Hege wer? Wenn ich was schönes lesen will, lese ich Gerhard Henschel, der das Machwerk dieser sprachlich und gedanklich überforderten Betriebsnudel in Titanic 03/2010 auf trefflichste verrissen hat. Alles im Universum hat einen höheren Zweck. Henschel zu einem schönen Text veranlaßt zu haben ist der eine Punkt im Leben der Helene Hegemann, der diese traurige Existenz dann vielleicht doch nicht so ausschließlich überflüssig macht.
Überhaupt, wer will so ungenügsam sein und sagen, Erledigungen solle man von Karl Kraus besorgen lassen oder gar nicht? Wenn Kraus nicht zur Hand ist, tut es auch Lessing, der 1751 Klopstocks »Ode an Gott« lakonisch-trocken verrissen hat (»… und anstatt, daß ein anderer Dichter, welcher in ähnlichen Umständen war, seine poetische Klage mit einem ›Soll ich meine Doris missen? etc.‹ anfing, so erschüttert ihn [Klopstock] ein stiller Schauer der Allgegenwart Gottes …«). Oder Wiglaf Droste, der Continue reading »
Thieles gestriger FAZ-Artikel, in dem er mich und andere über-, unter- oder beiordnet, hat mich von der Arbeit abgehalten. Ich denke, da stimmt was nicht. Er teilt, es zusammenzufassen, die Zeitgenossen, die sich positiv auf Hacks beziehen, in drei Gruppen ein: Imitatoren, Dogmatiker und Denkende. Imitatoren, die einen bloß intuitiven Zugang zu Hacks haben und allein an der poetischen oder weltlichen Haltung des Dichters interessiert sind; Dogmatiker, die den reinen, den wahren Hacks gleich einer Säule in die Landschaft stellen und ihn gegen jegliche Anwürfe von außen verteidigen; und Denkende, die die affirmative Aneignung des Dichters durchlaufen haben, doch über ihn hinausgegangen sind. Modelle müssen ja gar nicht bis ins letzte stimmen, aber sie sollten arbeitsfähig sein. Thieles Einteilung ist in sich stimmig, büßt aber bei der Reichweite. Continue reading »
Anmerkungen zur TSG Hoffenheim
Reflexionen sind ja nie nur angenehm. Ständig diese quälende Frage, ob man tun darf, was viel zu viel Spaß macht, um ganz frei von Regression sein zu können, und bangen Blicks also schreitet er, der denkende Fußballfan, aus der Kurve ins Leben zurück und stellt sich zeigefingergeplagt dem großen Problem: Darf man die TSG Hoffenheim hassen? Darf man diesen anmaßenden, seelenlosen und überflüssigen Verein abgrundtief scheiße finden? Darf man ihm die Zwangsversetzung in die Oberliga Baden-Württemberg wünschen? Darf man dürfen? Continue reading »