Aug. 032013
 

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts lebt die Poesie im Zeitalter des Materials. Dichter aller Gattungen verwenden einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Tätigkeit darauf, Elemente ihrer Vorläufer – seien es Poeten, Philosophen oder sonstwie befugte Wortproduzenten – als Bruchstücke in ihre Werke einzuweben. Es ist – um gleich den passend aufs Zeitalter geschriebenen Ausdruck Gerard Genettes zu verwenden – der vollständige Sieg der Transtextualität.

Der Dokumentarismus (Weiss, Runge, Kipphardt usw.) ist nur die äußerste und zugleich natürlich ärmste Ausprägung dieses Verfahrens, das allgemein geworden ist. Man imitiert, parodiert, zitiert, spielt an oder stielt. Nicht nebenbei, nicht bei passender Gelegenheit, sondern in der Hauptsache, um der Sache selbst willen. Es gilt geradezu als unfein, hemdsärmlig, es nicht zu tun. Dahinter steckt nur zum Teil Snobismus (der ja ein edles Motiv wäre); es ist maßgeblich die Angst vor der Struktur, vor dem großen Gedanken, dem großen Continue reading »

Juli 222013
 

Von allen Denkern, auf die es ankommt, ist Leibniz uns heute am fremdesten. Kein Denker folglich, der Beihilfe zur Transformation nötiger hätte als eben Leibniz. Was zwischen Leibniz und der Gegenwart liegt, ist mehr als nur die theologische Form, mit der sein Denken stark verbunden ist. Mehr mithin als jene unglaubliche Fülle an zeitlicher Denk- und Entwicklungsleistung – von der Mathematik bis zur Linguistik, Jurisprudenz bis Historiographie, Kameralistik bis Ingenieurwissenschaft –, die das Kerngeschäft dieses Philosophen zu verdecken droht, wie es ein barockes Gewand mit dem Körper der Venus von Milo täte. Der nackte Leibniz gleicht aber Continue reading »

Apr. 302013
 

 

Das Trauerspiel

Der Gegenstand ist groß. Groß und weithin unbegriffen. Auch von denen, die er angeht. Was vorderhand wenig besagt, denn wann jemals hätte irgendein Volk auch nur irgendwas begriffen? Es geht um die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika, und um die Art, wie sie vonstatten ging. Die Vereinigten Staaten haben eine kurze und schwungvolle Geschichte, und man muß auf diese beiden Eigenschaften das gleiche Gewicht legen, auch weil heute von diesem Schwung nur noch wenig zu erkennen ist. Ich zögere, das Wort Konservatismus zu verwenden. Das ist es nicht ganz. Es ist eher eine Continue reading »

Feb. 102013
 

Es ist ganz leicht, jetzt skeptisch zu sein. Viele sind das, weils einfach zu großartig ist: Ein schwerreicher Verein engagiert den besten Trainer der Welt – das kann nur schiefgehen. Journalisten funktionieren genau so wie auch all die anderen Herdentiere, die auf Gottes weiter Scheibe ihre Kreise ziehen. Es geht im Grunde nie um etwas anderes als darum, sich vom Rest der Herde zu unterscheiden. Am besten tut man das mit einer Meinung, denn anders als begründete Gedanken oder ein guter Schreibstil kosten Meinungen nichts. Da aber alle ausscheren wollen, kommt es vor, daß bei einem heißen Thema doch wieder alle im selben Strom schwimmen. Ich spreche übrigens, sollten wem jetzt die Verteidiger Continue reading »

Jan. 112013
 

 

Zur Struktur des Ideal-Begriffs von Peter Hacks1

 

Ich bin die Saat im Winter, die im Dunkel wohnet.
Ihr kommt wohl noch dahinter, daß Erwartung lohnet.
Und lieg ich tief verborgen, bleib ich nicht verschwunden.
Der hoffen kann auf morgen, hat mich schon gefunden.

aus »Numa«

 

Mein Vortrag heißt »Die Landkarte und die Landschaft«. Ich hätte ihn aber auch gut »Wenn der Herrgott net will, nutzt es goar nix« oder »Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk« nennen können. Es liefe aufs gleiche hinaus: auf das Verhältnis, das das menschliche Wollen zu den Bedingungen, unter denen es umgesetzt werden muß, besitzt, auf den alten Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit. Es gibt zu diesem Kampf seit je drei Meinungen: das Ideal habe recht, die Wirklichkeit habe recht, beide haben unrecht. Die letzte ist die, auf die es ankommt. So zumindest Continue reading »

  1. Vortrag, gehalten am 3. November 2012 im Berliner Magnus-Haus; abgedruckt in: Gute Leute sind überall gut. Fünfte wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft, hrsg. v. Kai Köhler, Berlin 2013. []
Dez. 012012
 

Ich sage ja nicht, daß es unmöglich ist, daß einer ein Dissident und dennoch ein guter Poet sei. Es ist nur nicht wahrscheinlich. Dem Dissidenten wird internationales Wohlwollen zuteil, den Erfolg erlangt er, weil er für etwas steht. Diese Abkürzung zum Ruhm ist zu verlockend, doch von der Poesie gilt wie von allen anderen Fächern, daß wirklich gut nur ist, wer die Umwege geht. Das gilt natürlich auch für den Staatsdichter, dem der Erfolg national zugesprochen wird wie dem Dissidenten international. Um aber einen Nobelpreis zu erhalten, muß der Staatsdichter schon ein herausragender Dichter sein.

Es passiert folglich selten, daß der Nobelpreis für Literatur aus ästhetischen Gründen vergeben wird. Und noch das zu oft, findet Herta Müller, deren Erfolg ganz offensichtlich nicht durch die Qualität ihres Werks erklärt werden kann. Mo Yan wirkt unter der Schar konformistischer Dissidenten wie ein Rebell, beschämt also Müller, die ihrerseits Liao Yiwu nach seiner Blut-und-Boden-Rede in der Paulskirche umarmt hat, nicht nur durch sein Können, sondern auch durch seine Coolness. Dietmar Dath hat den Fall bearbeitet: Continue reading »

Aug. 262012
 

Es gibt gute Gründe, vor allem Schalke 04 den Abstieg zu wünschen. Die wenigsten davon haben mit Fußball zu tun. Schlechtes Ballspiel pflegen andere Vereine auch. Worin Schalke führt, das ist jene Pest, die man Fankultur nennt. Heute weiß man doch, wie Fußball allein genießbar ist: mit ausgesuchten Teilnehmern vor einem Großbildschirm bei teurem Rotwein und Vivaldi. Wenn das Geld für den Rotwein nicht reicht, tut es auch eine VIP-Loge im Stadion. Es sind die Stehplätze, die den Fußball zerstören, und ganz Schalke ist nichts als ein riesenhaft ausgewachsener Stehplatz. Die Seelenlage des Schalkers ist mit schlicht noch zu kompliziert umschrieben. Aber es ist nicht einmal Continue reading »

Apr. 192012
 

 

 Was Grass und seine Grassenheimer umtreibt

 

Wovon man nicht schweigen kann, darüber muß man sprechen.

Grass (Wittgenstein-Kritiker)

Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal: Fresse halten.

Wittgenstein (Grass-Kritiker)

 

Warum schweige ich?, fragt, heterologisch um Aufmerksamkeit heischend, der nie stille Schnauzbart des Literaten Grass. Man blickt die Zeitungsseite hinunter auf die folgenden 68 Zeilen und fragt sich unweigerlich: Ja, warum bloß schweigt er nicht? Aber so ist er, der Günter, der Grass; es reicht ihm nicht, die Menschheit seinen Absonderungen auszusetzen, er muß sie auch noch mit der Frage belästigen, warum er tut, was er offenkundig nicht tut. Andererseits scheinen viele ihren Geschmack daran zu finden. Die Pose des Tabubrechers, des einsamen Continue reading »

Juli 072011
 

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Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß1

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Das Ende der Deutschen Klassik, das sich irgendwann zwischen der ersten Nummer des Athenäum und dem Tod Goethes vollzog, kann von verschiedenen Seiten her begriffen werden. Es läßt sich als Ergebnis des heraufziehenden Kapitalismus beschreiben, als Resignation einer jungen Generation gegenüber einer gefühlten Unüberbietbarkeit der klassischen Periode oder als Verzweiflung des einzelnen Subjekts, das sich mit der in der Moderne zunehmenden Freiheit auch zunehmend seiner Möglichkeiten, auf die Welt zu wirken, beraubt sieht. Der Gründe sind viele, und soweit ich sehe, ist das einzige, was am Untergang der Klassik wirklich ganz unschuldig ist, ausgerechnet jenes Ereignis, dem man am häufigsten die Schuld daran gegeben hat: die Erfindung der Dampflok. Von welcher Continue reading »

  1. zuerst erschienen: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 34 (2010), S. 33–51. []
Sep. 052010
 

Daß man nach gefühlten 200 Jahren an den Bühnen des DT wieder einen Hacks gibt, ist ein Ereignis, dem man nicht anders als froh gegenüber stehen kann. Daß man den Hacks dort auf eine Weise gibt, die wenig mit dessen Vorstellungen von Theater zu tun hat und dafür viel mit denen unserer Zeit, ist etwas, das man erwarten konnte. Jürgen Kuttner und Tom Kühnel haben die Erwartungen übertroffen, indem sie sie enttäuscht haben. Man steht ein bißchen davor wie Hacksens Ascher, zufrieden und unzufrieden zugleich: „Ich habe es gewollt, und ich habe es bekommen, und ich habe es nicht so bekommen, wie ich es gewollt habe – das versteht sich ja für uns Menschen von selbst.“ Fröhlich resigniert Continue reading »

Juni 232010
 

Hintergrund und Gehalt von Hegels Vorrede zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts«.1

I.

Als Hegel am 25. Juni 1820 an der Vorrede zu seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« den letzten Federstrich tat, war Preußen noch in großer Aufregung. Ein paar Wochen zuvor, am 5. Mai, war Carl Ludwig Sand für die Ermordung des Dramatikers Kotzebue hingerichtet worden. Die Karlsbader Beschlüsse entfalteten ihre Wirksamkeit insbesondere in Preußen. An den »Grundlinien« hatte Hegel vermutlich seit Frühjahr 1819 gearbeitet; der erste Hinweis auf das Vorhaben findet sich in einem Brief an Niethammer vom 26. März 1819, drei Tage nach Continue reading »

  1. erschienen in: http://www.felix-bartels.de/wp-content/uploads/2010/06/Weltgeist-in-der-Defensive.pdf (Teil I) & http://www.felix-bartels.de/wp-content/uploads/2010/06/Zum-Begriff-befreit.pdf (Teil II). []
Juni 082010
 

Es ist an der Zeit, daß das Journal für die elegante Welt, das sich den höheren Sphären verschrieben hat, sich auch einmal mit der wichtigsten Hauptsache der Welt befaßt: mit dem Fußball. Das Fußballspiel verhält sich wie das Absolute bei Hegel; es ist eine höchst erfreuliche Sache und will erkannt sein. Die Sprache wurde den Menschen gegeben, um sich über Fußball zu verständigen. In diesem Spiel wirkt und webt alles fort, was wir schön, gut und wahr nennen. Das Nachdenken über Fußball macht uns zu besseren und weiseren Menschen. Wer den Fußball Continue reading »

Apr. 302010
 

Unlängst habe ich vermocht, mich … – doch ich stocke, indem ich das schreibe. Gestern nämlich kam mir ein Buch eines gewissen Wolf Schneider unter die Nase, Deutsch fürs Leben, das von sich behauptet, ein Lehrgang der höheren deutschen Sprache zu sein und worin sich folgende Regel findet: „Mit Wörtern geizen“. Schreiben Sie, steht da, „also nicht: zu diesem Zeitpunkt, sondern: jetzt“, nicht: „keine Seltenheit“, sondern: „häufig“, nicht: „ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig,“ sondern: „war ziemlich deutlich“ usw. Das Grundprinzip guter Sprache sei, niemals mehr zu schreiben als unbedingt notwendig. Man staunt dann im übrigen, was so alles nicht notwendig ist. Daß diese Regel fischig ist, vermag Continue reading »

Apr. 102010
 

Es begann eigentlich ganz harmlos. Am letzten Tag der Buchmesse brachte ich die Zeit, die mir bis zum Abend blieb, auf die Weise rum, daß ich mir das von Leipzig ansah, wofür allein es mit Recht berühmt ist: die Werke seiner bildenden Künstler.

Leipzig selbst, man kennt es, reizt kaum zum Verweilen. Selbst wenn man die merkwürdig zielgerichtete Tristesse des Stadtbilds und die puritanische Geschäftigkeit ihrer Bewohner ignoriert, bleibt noch immer präsent, daß diese Stadt der Schoß der deutschen Misere und Unvernunft ist. Ich habe Leipzig einmal die Hauptstadt der romantischen Bewegung genannt, worauf mir die Städtenamen Berlin, Jena und Heidelberg entgegenflogen. Ich leugne auch deren Eignung für diesen Titel nicht, konnte aber mit dem Verweis auf die Bananenrevolution von 1989 und das antibonapartistische Happening von 1813 meine Continue reading »

Jan. 102010
 

Die Maya sind ein merkwürdiges Völkchen. Sie wußten nichts von der Welt und kannten doch ihr Ende. Sie hatten einen merkwürdigen Kalender, der das Ende der Welt für den 21. Dezember 2012 vorsah. Leider ereignete sich das Ende dann ein paar hundert Jahre früher, und die wiederkehrenden Götter waren kaum größer als die Maya und sprachen Spanisch. Wie wir aber durch den Echtzeithelden und Träger des Agent-Mulder-Ordens II. Klasse, Erich von Däniken, belehrt sind, muß das Ende der Welt nicht notwendig am 21. Dezember 2012 eintreten. Die Umrechnung des Maya-Kalenders in den unseren könne schließlich auch falsch sein. Baut da schon jemand insgeheim vor für den Fall einer peinlich ausbleibenden Katastrophe am 21. Dezember 2012? Die Grundregel aller geschäftstüchtigen Propheten lautet: Sage nichts voraus, das noch zu deinen Lebzeiten eintreffen müßte. Und überhaupt, 21. Dezember! Hätte man nicht wenigstens bis Weihnachten warten können? Wie? Wer kurz vor dem Ende der Welt noch Weihnachten feiern wolle? Ich natürlich! Und wenn ich wüßte, daß morgen die Welt in tausend Stücke zerbräche, ich zöge noch heute los, einen Weihnachtsbaum zu fällen.

O doch, ich hab es gesehen, das neueste Bildwerk Roland Emmerichs, des amerikanischsten aller Nichtamerikaner. 2012 ist ein spektakulärer Film. Die Story ist genrebedingt gebaut, die Zweitklassigkeit der Darsteller (den stets erstklassigen John Cusack ausgenommen) ist statthaft, denn hier kommt alles auf die Bilder der großen Naturkatastrophe an. Technisch ist der Film vollkommen, die Effekte gekonnt, was nach Maßgabe der naturalistischen Gattung Film bereits hinreichend sein müßte. Bilder zu machen, das ist die eigentliche Tugend des Films. Aber diese eigentliche Tugend ist eben nur bedingt kunstfähig, will sagen: Auch die besten Bilder retten einen Film dort nicht, wo keine gute Handlung sie zusammenhält. Und wie sich an dem technisch gleichfalls Maßstäbe setzenden Avatar sehr gut nachvollziehen läßt, verdrießt selbst bildhafte Perfektion, wenn das Werk sich der läppischen Weltanschauung eines JJ Rousseau bedient und von einer dramatisch unergiebigen Handlung getragen werden muß.

Natürlich gab und gibt es Einwände gegen 2012. Continue reading »