Okt. 222011
 

Günter Grass hat ein Problem

Unfähigkeit ist ein furchtbarer Antrieb
Peter Hacks

Theorien, die von Stalin in die Welt gesetzt wurden, tragen am Schicksal, schon deswegen als falsch zu gelten, weil es Stalin war, der sie in die Welt gesetzt hat. So wenig fair es ist, eine Theorie für ihren Urheber büßen zu lassen, doch die These vom Sozialfaschismus ereilte ein noch tragischeres Los: Vom Rest der Welt wird sie abgelehnt, da sie von Stalin stammt; von den Stalinisten wird sie abgelehnt, weil Stalin ab 1935 den braven Dimitroff die theoretisch unsinnige, aber politisch opportune Einheitsfrontthese an die Stelle der alten Theorie setzen ließ. Obgleich aber die Sozialfaschismusthese nicht abgelehnt wird, weil sie falsch ist, ist sie falsch. Sie reicht nicht hin, den Faschismus theoretisch zu erfassen. Nicht nur, weil sie mit einem unvollständigen Begriff arbeitet, sie behauptet auch hinter dem Treiben der Weimarer Republik ein konzertiertes Vorgehen, das offenkundig nie vorlag. Continue reading »

Juli 112011
 

Antiimperialismus und Judenhass

 

»… laßt uns Kerzchen anzünden für die Verarschten und Ausgebluteten, die mit uns sonst nichts weiter zu tun haben, als daß wir sie erlösen wollen, laßt uns ganz viel davon reden, wie die ›westliche Kultur‹ die ›anderen Kulturen‹ unterdrückt und ausbeutet, die irgendwie unschuldiger, erdnaher, niedlicher sind, von so ein bißchen Klitorisrausschneiden, Steinigen und Frauen-in-den-Sack-Stecken mal abgesehen. Mit Sitting Bull, Geronimo und den Taliban gegen Thomas Jefferson, so stellen die sich das vor.«

Dietmar Dath

 

Von allen verrückten Schnurren mitteleuropäischer Nahostfolklore weiß ich eine verrückteste. Es kann keine fünf Jahre her sein – vielleicht war es kurz nach dem Krieg im Libanon –, da schrieb mir einer, mit dem ich bis dahin bekannt war, folgenden Gedankengang nieder: Ohne Antisemitismus könne Israel nicht existieren, weshalb er von den Zionisten nicht bekämpft, sondern nach Kräften gefördert werde; die Abschaffung des Staates Israel sei folglich die Voraussetzung für die Abschaffung des Antisemitismus. Der das schrieb, war offenkundig kein Logiker, aber auch kein Nazi. Er war ein Linker, zumindest im Selbstverständnis. Ich danke dem Vorfall eine wichtige Erkenntnis, auf die ich am Ende zurückkommen werde. Auf den Brief damals habe ich nicht mehr erwidert. Mit Antisemiten diskutiert man nicht, man bekämpft sie. Und wenn man, wie ich, das Kämpfen nicht gelernt hat, dann schreibt man ihnen dennoch nicht, sondern bestenfalls über sie. Continue reading »

Juli 072011
 

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Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß1

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Das Ende der Deutschen Klassik, das sich irgendwann zwischen der ersten Nummer des Athenäum und dem Tod Goethes vollzog, kann von verschiedenen Seiten her begriffen werden. Es läßt sich als Ergebnis des heraufziehenden Kapitalismus beschreiben, als Resignation einer jungen Generation gegenüber einer gefühlten Unüberbietbarkeit der klassischen Periode oder als Verzweiflung des einzelnen Subjekts, das sich mit der in der Moderne zunehmenden Freiheit auch zunehmend seiner Möglichkeiten, auf die Welt zu wirken, beraubt sieht. Der Gründe sind viele, und soweit ich sehe, ist das einzige, was am Untergang der Klassik wirklich ganz unschuldig ist, ausgerechnet jenes Ereignis, dem man am häufigsten die Schuld daran gegeben hat: die Erfindung der Dampflok. Von welcher Continue reading »

  1. zuerst erschienen: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 34 (2010), S. 33–51. []
Juni 232010
 

Hintergrund und Gehalt von Hegels Vorrede zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts«.1

I.

Als Hegel am 25. Juni 1820 an der Vorrede zu seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« den letzten Federstrich tat, war Preußen noch in großer Aufregung. Ein paar Wochen zuvor, am 5. Mai, war Carl Ludwig Sand für die Ermordung des Dramatikers Kotzebue hingerichtet worden. Die Karlsbader Beschlüsse entfalteten ihre Wirksamkeit insbesondere in Preußen. An den »Grundlinien« hatte Hegel vermutlich seit Frühjahr 1819 gearbeitet; der erste Hinweis auf das Vorhaben findet sich in einem Brief an Niethammer vom 26. März 1819, drei Tage nach Continue reading »

  1. erschienen in: http://www.felix-bartels.de/wp-content/uploads/2010/06/Weltgeist-in-der-Defensive.pdf (Teil I) & http://www.felix-bartels.de/wp-content/uploads/2010/06/Zum-Begriff-befreit.pdf (Teil II). []
Mai 182010
 

Das Nachdenken über Sitten und Gebräuche hat immer zwei Seiten, eine theoretische, die danach fragt, woher dieser oder jener Brauch historisch und kulturell kommt, und eine praktische, auf der das Denken der Frage nachgeht, wie gut die Bräuche sind und wohin, wenn man sie ausübt oder nicht ausübt, unsere menschliche Entwicklung geht. Beinahe alle Fehlleistungen, die Kommentatoren bei der Beschäftigung mit sittlichen Fragen unterlaufen, rühren aus der ungleichen Verteilung des Denkens auf diese beiden Seiten. Die Frage nach der Welt, wie sie ist, und die Frage nach der Welt, wie sie sein soll, verhalten sich in aller Regel gegenläufig, und der gemeine Verstand liebt das Denken in Widersprüchen nicht. Er will es einfach und will es rein. Also entscheidet er auch bei der Beurteilung bestimmter Sitten nach seinen ohnehin vorhandenen Neigungen. Ein Brauch ist demnach entweder schlecht und somit durch keinerlei historische Betrachtung zu entschuldigen, oder aber historisch bedingt, und dann verbiete sich ein Werturteil von selbst. So sehr beide Zugriffe einander entgegenstehen, sie haben gemein, dass sie eine Erklärung immer gleich für eine Rechtfertigung halten. Continue reading »

Juli 282009
 

I. Einleitung

Die Versuchung, »Die Gräfin Pappel«[1] autobiographisch zu lesen, ist groß. Wenn ihr im folgenden widerstanden werden soll, dann nicht schlechthin, sondern in einer bestimmten Hinsicht. Die »Gräfin Pappel« ist kein Schlüsselroman, sie ist, was mehr ist, ein Märchen. Zwar: Sie wurde 1992, also in der letzten Lebensphase ihres Verfassers gedichtet, und die Lebensgeschichte ihres Helden weist in der Tat zu viele Parallelen zur Lebensgeschichte ihres Verfassers auf, als daß man das Autobiographische bei einer Deutung außer acht lassen könnte: Wie Philibert hat Peter Hacks in jungen Jahren die Welt, in der er aufwuchs, verlassen, wie diesem wurde ihm die Welt, in die er fortging, zerstört, wie dieser weigerte er sich, nach der Zerstörung seiner Wahlheimat in der neuen, d.h. in der alten Welt anzukommen. Die Fabel, könnte man meinen, bildet eins zu eins die Biographie des Dichters Peter Hacks ab. Und auch in den Einzelheiten findet sich Continue reading »

Juli 242009
 

Ich lese an Memoiren oder Biographien eigentlich nur solche, die spannende Persönlichkeiten betreffen. Von Leuten also wie Cäsar, Bismarck oder Ulbricht. Ich käme nicht auf die Idee, die Memoiren von Egon Krenz zu lesen. Auf ihn trifft nun wirklich, was Stefan Heym in einem seiner berüchtigten Amokurteile gleich über die ganze DDR sagte: Er ist eine Fußnote in der Geschichte. Dabei fällt es durchaus schwer zu entscheiden, was hierfür eher den Ausschlag gibt, die historische Situation, in der Krenz nach oben gespült wurde, oder die Person Krenz. Es kann als kaum mehr als Zufall gewesen sein, der mich über eine Passage aus Krenzens jüngst erschienenen Gefängnis-Notizen stolpern machte: Continue reading »

Juli 182009
 

Der Wert einer Gesellschaft läßt sich darin messen, wie sie mit ihren Werten umgeht, mithin darin, was sie für Werte erachtet. Werte sind nicht nur Zeichen, die sich auf Registrierkassen abbilden lassen. Ein Wert ist immer unersetzbar. Wäre er ersetzbar, wöge er nicht, was er wiegt. Denn nur, was kann, was kein anderes kann, verdient, Wert genannt zu werden. Werte erlangt man seltener, als man sie verteidigt. Jeder geschichtliche Abschnitt – der eine, mag sein, mehr als der andere – hat dem Schatz der Menschheit bisher Werte hinzufügen zu können. Und ein jeder hat mehr Werte von seinen Vorgängern übernommen, als er selbst hervorbrachte. Der vernunftgemäße Zustand der Menschheit ist daher die Verteidigung der Werte.

Die Gefahr, bereits gesicherte Werte zu verlieren, ist groß. Viel größer als man denkt. Es gibt viele Beispiele, an denen man das zeigen kann. Meines ist die Überlieferung literarischer Werte. Continue reading »

Juli 072009
 

Zur strukturellen Ähnlichkeit von Absolutismus und Sozialismus bei Peter Hacks

Auf den Absolutismus ist die Welt nicht gut zu sprechen. In ihrer Vorliebe für die open society scheinen Linke wie Rechte, Fortschrittler wie Rousseauisten, Marxisten wie Freunde der kapitalistischen Produktionsweise ihre Gemeinsamkeit zu haben. Alle lieben die Freiheit. Aber natürlich versteht jeder seine eigene darunter, und dennoch geben alle vor, ein und dieselbe zu meinen. Von Inhalten redet man heute einfach nicht mehr. Die ganze Welt, scheints, hat das Geschichtsbild des Herrn Karl Popper übernommen. Continue reading »

Juli 062009
 

In der Tageszeitung junge Welt findet sich heute ein Vorabdruck des neuesten Buchs von Heidi Urbahn de Jauregui. Es heißt Dichterliebe und handelt vom Leben und Werk der deutsch-französischen Schriftstellerin Camille Selden alias Elise Krinitz alias Johanna Christiana Müller alias Margot alias Monk alias Sara Dennigson – soweit ich nicht irgend einen ihrer freiwilligen oder unfreiwilligen Namen vergessen habe.

I

Camille Selden ist eine höchst merkwürdige Frauenexistenz aus dem Paris des 19. Jahrhunderts. Sie war Freundin oder Vertraute gleich mehrerer Schriftsteller: Alfred Meißners, Hippolyte Taines und Heinrich Heines. (Natürlich nacheinander, wie sich versteht.) Vor allem als Gebliebte des letzteren, als Heinrich Heines allerliebste „Mouche“, ging sie in die Literaturgeschichte ein. Zumindest in Deutschland, denn während man sie dort ausschließlich als die „Mouche“ kennt und von der Schriftstellerin Camille Selden nichts weiß, verhält es sich in Frankreich gerade umgekehrt. Continue reading »

Juni 282009
 

Es gibt Überzeugungen, die man sich schon deswegen bewahrt, weil man anders sein Leben kaum in einiger Ruhe und Ordnung verbringen könnte und vielmehr stets fürchten müßte, daß einem die schlimmsten Dinge zustoßen, da die Welt, im Fall jene Befürchtungen Realität hätten, kaum noch als sicher gelten könnte. Von unseren Architekten z.B. glauben wir, daß sie in der Lage sind, Gebäude auf die Erde zu stellen, die auch nach längerem Gebrauch nicht einstürzen, und dieser Glaube erleichtert es durchaus, sich täglich in solchen Gebäuden aufzuhalten. Von unseren Konditoren glauben wir, daß sie nie den Puderzucker mit dem Rattengift verwechseln, aus denselben verständlichen Gründen. Von unseren Fluggesellschaften …

An diesem Glauben ist nichts verwerflich. Immerhin: Häuser stürzen praktisch nie von selbst ein, puderbezuckerte Kuchen besorgen bestenfalls einen schleichenden Tod durch Verfettung, und selbst Maschinen der Air France neigen in den allermeisten Fällen dazu, genau dort runterzukommen, wo sie runterkommen sollten.

Merkwürdig indes, daß diese Sorte Glaubens sich auch in solchen Fällen hält, wo Evidenz längst Zweifel hat aufkommen lassen. So glauben wir wirklich, daß unsere Politiker praktische Menschen sind, obgleich doch ihre Politik oft genug bezeugt, daß sie es nicht sind – nicht einmal das, um präzise zu sein. Wir glauben auch, daß unsere Lyriker etwas von Metrik verstehen, unsere Ärzte wissen, wie man Menschen heilt, und unsere Lehrer mit Menschen umgehen können. Ähnlich denn auch unser Bild von den Wissenschaftlern. Continue reading »

Juni 252009
 

Das Große kommt meist in Verpackung des Kleinen ins Haus. Es gibt, will ich sagen, Anlaß und Ursache. Der Anlaß mag läppisch scheinen, wenn die Ursache es nicht ist, ist auch er es nicht. So denn wohl auch in jenem Problem, das mir nicht erst seit heute morgen auf die Nervenbahnen drückt. Ich nenne es einmal das Brötchen-Problem, und es läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Es ist nicht mehr möglich, in Berlin ohne erhebliche Mühe genießbare Brötchen zu bekommen.

Wer wissen will, wie ein Problem zu beheben ist, muß wissen wollen, worin seine Ursache liegt. Continue reading »

Juni 232009
 

Goethe schafft es immer wieder, mich zu überraschen. Erst kürzlich las ich wieder einen Goethe-Satz, der mehr enthält als ganze Regale voll von Büchern zum selben Thema:

Wir sind naturforschend Pantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten.

Wie macht der Mann das? Selbst die Überraschung gerät ja, wenn man sie zu erwarten beginnt, in die Gefahr, ihren Reiz zu verlieren. Jemand also, der immer wieder überrascht, muß über einiges mehr verfügen als bloß die Fähigkeit zu überraschen.

Ich lese Goethe, seit ich denken kann; manches von ihm immer wieder. Er ist der einzige Dichter, der Continue reading »

Juni 212009
 

Sappho ist eine lesbische Dichterin im doppelten Sinne des Wortes. Sie lebte auf Lesbos, schrieb im lesbisch-aiolischen Dialekt (dem ungemütlichsten von allen), und sie pflegte sexuelle Neigungen zu Frauen. Gut möglich, daß sie bisexuell war; heterosexuell war sie nicht.

Heute weiß das jeder. Zu gut passen die persönlichen Beziehungen, die in Sapphos Gedichten gespiegelt werden, in den kulturellen Zusammenhang der Initiationsriten, die es eben nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen gab, und für die gleichgeschlechtliche Bindungen nicht untypisch zu sein scheinen. Continue reading »