Jul 222013
 

Von allen Denkern, auf die es ankommt, ist Leibniz uns heute am fremdesten. Kein Denker folglich, der Beihilfe zur Transformation nötiger hätte als eben Leibniz. Was zwischen Leibniz und der Gegenwart liegt, ist mehr als nur die theologische Form, mit der sein Denken stark verbunden ist. Mehr mithin als jene unglaubliche Fülle an zeitlicher Denk- und Entwicklungsleistung – von der Mathematik bis zur Linguistik, Jurisprudenz bis Historiographie, Kameralistik bis Ingenieurwissenschaft –, die das Kerngeschäft dieses Philosophen zu verdecken droht, wie es ein barockes Gewand mit dem Körper der Venus von Milo täte. Der nackte Leibniz gleicht aber Continue reading »

Jul 112013
 

»Der Stern ging vor einiger Zeit der Frage nach, wie viel Schriftsteller denn nun verdienen. Das Ergebnis war niederschmetternd: Durchschnittlich waren es 955 Euro brutto monatlich. Das Einkommen eines Buchhändlers wurde dagegen mit immerhin 1700 Euro brutto angegeben.« (Tanja Dückers: Autoren am Rande des Existenzminimums)

Nun, es gibt ja auch nicht annähernd so viele Buchhändler wie Schriftsteller. Und vor allem nicht so viele schlechte. Natürlich besteht ein Zusammenhang zwischen dem niedrigen Durchschnittsverdienst der Autoren und dem Umstand, daß es heute so viele Autoren gibt.

Aber was wäre denn die Alternative? Den Zugang zum Markt einschränken könnte allein eine Behörde, und Behörden sind kaum weniger dumm als der Zufall oder der blind wirkende Medienbetrieb. Continue reading »

Mai 212013
 

Ich schätze Ockham sehr, aber sein Rasiermesser ist nichts anderes als die Einführung von Bauernregeln in die Erkenntnistheorie. Es gibt tatsächlich keinen logisch zwingenden Grund, aus dem die Einfachheit der Kompliziertheit vorzuziehen sei. In der Epistemologie interessiert nicht, auf wie umständliche Weise eine Erkenntnis erlangt wird, solange sie nur erlangt wird. Das Rasiermesser spielt mit dem gemeinen Menschenverstand und dessen Ressentiment gegen das Komplexe. Da ist immer dieser Glaube, daß jede Wahrheit ganz einfach ausgedrückt werden kann, und das ist nichts anderes, als daß der Maßstab für das, was wahr ist, vom Objekt in das Subjekt verschoben wird.

Zugleich – auch wahr nämlich, aber dem ersten Argument ganz entgegengesetzt – muß man berücksichtigen, daß in der Philosophie wie in jeder anderen geistigen Disziplin die Erkenntnis wesentlich an die Form gebunden ist. Und wenn zwei Philosophen dasselbe mit unterschiedlichen Formen sagen, ist es schon nicht mehr dasselbe. Die Form hat selbst eine Bedeutung, ein Vermögen, weitere Erkenntnisse nach Continue reading »

Apr 302013
 

 

Das Trauerspiel

Der Gegenstand ist groß. Groß und weithin unbegriffen. Auch von denen, die er angeht. Was vorderhand wenig besagt, denn wann jemals hätte irgendein Volk auch nur irgendwas begriffen? Es geht um die Abschaffung der Sklaverei in Nordamerika, und um die Art, wie sie vonstatten ging. Die Vereinigten Staaten haben eine kurze und schwungvolle Geschichte, und man muß auf diese beiden Eigenschaften das gleiche Gewicht legen, auch weil heute von diesem Schwung nur noch wenig zu erkennen ist. Ich zögere, das Wort Konservatismus zu verwenden. Das ist es nicht ganz. Es ist eher eine Continue reading »

Jan 112013
 

 

Zur Struktur des Ideal-Begriffs von Peter Hacks1

 

Ich bin die Saat im Winter, die im Dunkel wohnet.
Ihr kommt wohl noch dahinter, daß Erwartung lohnet.
Und lieg ich tief verborgen, bleib ich nicht verschwunden.
Der hoffen kann auf morgen, hat mich schon gefunden.

aus »Numa«

 

Mein Vortrag heißt »Die Landkarte und die Landschaft«. Ich hätte ihn aber auch gut »Wenn der Herrgott net will, nutzt es goar nix« oder »Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk« nennen können. Es liefe aufs gleiche hinaus: auf das Verhältnis, das das menschliche Wollen zu den Bedingungen, unter denen es umgesetzt werden muß, besitzt, auf den alten Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit. Es gibt zu diesem Kampf seit je drei Meinungen: das Ideal habe recht, die Wirklichkeit habe recht, beide haben unrecht. Die letzte ist die, auf die es ankommt. So zumindest Continue reading »

  1. Vortrag, gehalten am 3. November 2012 im Berliner Magnus-Haus; abgedruckt in: Gute Leute sind überall gut. Fünfte wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft, hrsg. v. Kai Köhler, Berlin 2013. []
Dez 012012
 

Ich sage ja nicht, daß es unmöglich ist, daß einer ein Dissident und dennoch ein guter Poet sei. Es ist nur nicht wahrscheinlich. Dem Dissidenten wird internationales Wohlwollen zuteil, den Erfolg erlangt er, weil er für etwas steht. Diese Abkürzung zum Ruhm ist zu verlockend, doch von der Poesie gilt wie von allen anderen Fächern, daß wirklich gut nur ist, wer die Umwege geht. Das gilt natürlich auch für den Staatsdichter, dem der Erfolg national zugesprochen wird wie dem Dissidenten international. Um aber einen Nobelpreis zu erhalten, muß der Staatsdichter schon ein herausragender Dichter sein.

Es passiert folglich selten, daß der Nobelpreis für Literatur aus ästhetischen Gründen vergeben wird. Und noch das zu oft, findet Herta Müller, deren Erfolg ganz offensichtlich nicht durch die Qualität ihres Werks erklärt werden kann. Mo Yan wirkt unter der Schar konformistischer Dissidenten wie ein Rebell, beschämt also Müller, die ihrerseits Liao Yiwu nach seiner Blut-und-Boden-Rede in der Paulskirche umarmt hat, nicht nur durch sein Können, sondern auch durch seine Coolness. Dietmar Dath hat den Fall bearbeitet: Continue reading »

Jul 162012
 

Ich kann keine zehn Jahre alt gewesen sein, als ich mit meinem Vater bei einer sommerlichen Radtour durch den wunderschönen Ort Poritz fuhr. Von einer erhöhten Stelle aus machte die langgezogene Ortsstraße ihrem Namen auch bildhaft alle Ehre. Über sowas konnten wir damals lange lachen. Vorletzten Sommer fuhr ich durch Südfrankreich und näherte mich, wieder von einem erhöhten Standpunkt, dem Ort Gap. Auch der machte seinem Namen alle Ehre. So sann ich jäh, ob da nicht eine Möglichkeit war, das Gap von Gap elegant zu bridgen. Gab es aber nicht; ich mußte hindurch. Und das Lachen war mir auch vergangen.

Mit Löchern im Sommer kann ich nicht umgehen. Wenn es heiß wird, scheint jeder zu schlafen: Keine Veranstaltungen, keine Aufträge, kein Geld. – Keine Themen. Es ist, als hätte die Menschheit sich vorgenommen, zwischen Juni und September nicht auf der Welt zu sein. Man muß nicht Continue reading »

Apr 192012
 

 

 Was Grass und seine Grassenheimer umtreibt

 

Wovon man nicht schweigen kann, darüber muß man sprechen.

Grass (Wittgenstein-Kritiker)

Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal: Fresse halten.

Wittgenstein (Grass-Kritiker)

 

Warum schweige ich?, fragt, heterologisch um Aufmerksamkeit heischend, der nie stille Schnauzbart des Literaten Grass. Man blickt die Zeitungsseite hinunter auf die folgenden 68 Zeilen und fragt sich unweigerlich: Ja, warum bloß schweigt er nicht? Aber so ist er, der Günter, der Grass; es reicht ihm nicht, die Menschheit seinen Absonderungen auszusetzen, er muß sie auch noch mit der Frage belästigen, warum er tut, was er offenkundig nicht tut. Andererseits scheinen viele ihren Geschmack daran zu finden. Die Pose des Tabubrechers, des einsamen Continue reading »

Jul 072011
 

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Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß1

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Das Ende der Deutschen Klassik, das sich irgendwann zwischen der ersten Nummer des Athenäum und dem Tod Goethes vollzog, kann von verschiedenen Seiten her begriffen werden. Es läßt sich als Ergebnis des heraufziehenden Kapitalismus beschreiben, als Resignation einer jungen Generation gegenüber einer gefühlten Unüberbietbarkeit der klassischen Periode oder als Verzweiflung des einzelnen Subjekts, das sich mit der in der Moderne zunehmenden Freiheit auch zunehmend seiner Möglichkeiten, auf die Welt zu wirken, beraubt sieht. Der Gründe sind viele, und soweit ich sehe, ist das einzige, was am Untergang der Klassik wirklich ganz unschuldig ist, ausgerechnet jenes Ereignis, dem man am häufigsten die Schuld daran gegeben hat: die Erfindung der Dampflok. Von welcher Continue reading »

  1. zuerst erschienen: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 34 (2010), S. 33–51. []
Jun 232010
 

Hintergrund und Gehalt von Hegels Vorrede zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts«.1

I.

Als Hegel am 25. Juni 1820 an der Vorrede zu seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« den letzten Federstrich tat, war Preußen noch in großer Aufregung. Ein paar Wochen zuvor, am 5. Mai, war Carl Ludwig Sand für die Ermordung des Dramatikers Kotzebue hingerichtet worden. Die Karlsbader Beschlüsse entfalteten ihre Wirksamkeit insbesondere in Preußen. An den »Grundlinien« hatte Hegel vermutlich seit Frühjahr 1819 gearbeitet; der erste Hinweis auf das Vorhaben findet sich in einem Brief an Niethammer vom 26. März 1819, drei Tage nach Continue reading »

  1. erschienen in: http://www.felix-bartels.de/wp-content/uploads/2010/06/Weltgeist-in-der-Defensive.pdf (Teil I) & http://www.felix-bartels.de/wp-content/uploads/2010/06/Zum-Begriff-befreit.pdf (Teil II). []
Jun 082010
 

Es ist an der Zeit, daß das Journal für die elegante Welt, das sich den höheren Sphären verschrieben hat, sich auch einmal mit der wichtigsten Hauptsache der Welt befaßt: mit dem Fußball. Das Fußballspiel verhält sich wie das Absolute bei Hegel; es ist eine höchst erfreuliche Sache und will erkannt sein. Die Sprache wurde den Menschen gegeben, um sich über Fußball zu verständigen. In diesem Spiel wirkt und webt alles fort, was wir schön, gut und wahr nennen. Das Nachdenken über Fußball macht uns zu besseren und weiseren Menschen. Wer den Fußball Continue reading »

Apr 302010
 

Unlängst habe ich vermocht, mich … – doch ich stocke, indem ich das schreibe. Gestern nämlich kam mir ein Buch eines gewissen Wolf Schneider unter die Nase, Deutsch fürs Leben, das von sich behauptet, ein Lehrgang der höheren deutschen Sprache zu sein und worin sich folgende Regel findet: „Mit Wörtern geizen“. Schreiben Sie, steht da, „also nicht: zu diesem Zeitpunkt, sondern: jetzt“, nicht: „keine Seltenheit“, sondern: „häufig“, nicht: „ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig,“ sondern: „war ziemlich deutlich“ usw. Das Grundprinzip guter Sprache sei, niemals mehr zu schreiben als unbedingt notwendig. Man staunt dann im übrigen, was so alles nicht notwendig ist. Daß diese Regel fischig ist, vermag Continue reading »

Apr 102010
 

Es begann eigentlich ganz harmlos. Am letzten Tag der Buchmesse brachte ich die Zeit, die mir bis zum Abend blieb, auf die Weise rum, daß ich mir das von Leipzig ansah, wofür allein es mit Recht berühmt ist: die Werke seiner bildenden Künstler.

Leipzig selbst, man kennt es, reizt kaum zum Verweilen. Selbst wenn man die merkwürdig zielgerichtete Tristesse des Stadtbilds und die puritanische Geschäftigkeit ihrer Bewohner ignoriert, bleibt noch immer präsent, daß diese Stadt der Schoß der deutschen Misere und Unvernunft ist. Ich habe Leipzig einmal die Hauptstadt der romantischen Bewegung genannt, worauf mir die Städtenamen Berlin, Jena und Heidelberg entgegenflogen. Ich leugne auch deren Eignung für diesen Titel nicht, konnte aber mit dem Verweis auf die Bananenrevolution von 1989 und das antibonapartistische Happening von 1813 meine Continue reading »

Dez 132009
 

In der Frage, was einen guten Dialog ausmache, steckt zugleich die Frage, woran ein schlechter Dialog kenntlich sei. Ein schlechter Dialog ist einer, dessen Inhalt auch in anderer Form, z.B. in linearer Rede oder in einem Traktat hätte ausgestellt werden können. Wenn, was in einem Dialog verhandelt wird, nicht notwendig in Dialogform verhandelt werden mußte, muß der Dialog als schlecht gelten, gleich wie unterhaltsam, kunstvoll, gedankentief oder originell er im übrigen ist.

Ein guter Dialog kann sich nur dort entwickeln, wo eine geeignete Ausgangslage vorliegt. Eine solche sehe ich allein gegeben, wenn die Positionen aller Teilnehmer, die in einem Dialog aufeinandertreffen, so beschaffen sind, daß erstens keine von ihnen selbst die höchstmögliche Erkenntnis bereits enthält, gedankliche Totalität herzustellen also durchaus erst Aufgabe des lebendigen Dialogverlaufs ist, und wenn sie zweitens einander auf eine solche Art begegnen, daß eine produktive Steigerung über die einzelnen Positionen der Teilnehmer hinaus möglich ist.

Die erste Bedingung ist wichtig, weil in dem Fall, in dem Continue reading »

Nov 172009
 

Einen Berg zu besteigen ist wie Dichten. Da ist ein Gebirge. Da sind einige Berge. Jeder Berg ist Teil des Gebirges, aber er steht – gleich den poetischen Gattungen – immer auch für sich. Es gibt stets mehrere Wege nach oben. Es gibt aber an jedem Berg nur einen Weg bis ganz nach oben.

Die Bergsteiger nähern sich dem Berg gewöhnlich von verschiedenen Seiten, meist von derjenigen, auf der sie wohnen, und so nehmen sie also verschiedene Wege nach oben. Von denen, die auf den Wegen treten, die nicht bis ganz nach oben führen, schreiten einige in dem Wissen nach oben, daß sie die Spitze nie erreichen werden, andere hingegen leugnen das und erachten das Ziel ihres Weges für die eigentliche Spitze. Wieder andere leugnen, daß es überhaupt eine Spitze gibt und kraxeln munter um den Berg herum und probieren sich an all den Pfaden aus, die horizontal verlaufen. Und wieder andere bekommen es, sobald sie auf einen Weg treffen, der nach oben führt, mit der Angst zu tun, der Weg könne nicht bis ganz nach oben führen und meiden folglich den wie alle anderen, die nach oben führen.

Es muß jetzt aber noch erwähnt werden, daß jeder Weg auf dem Berg ausgeschildert ist. Schließlich wird der Berg in aller Regel seit Jahrtausenden schon bestiegen. Continue reading »