Dez 312013
 

Das Begreifen von Theorien, die man nicht selbst ersonnen hat, läßt sich dem Betreten eines unbekannten Raums vergleichen. Räume haben es an sich, daß sie sich von innen besser beurteilen lassen als von außen. Von außen her mag man ihren Standort, vielleicht auch ihre Ausdehnung besser einschätzen können, doch was und zu welchem Zweck sie sind, auch, wie gut sie diesen Zweck erfüllen, erkennt man an dem, was in ihnen enthalten ist, und das wieder läßt sich nur sehen, wenn man sie betreten hat.

Zum Betreten eines Raumes bedarf es einer Tür, und da die meisten Türen Schlösser haben, wird man auch einen Schlüssel brauchen. In aller Regel befindet sich dieser Schlüssel aber in dem Raum, den er öffnen soll, so daß die Erstbegehung in aller Regel als Einbruch vonstatten gehen muß, und man kann von Glück sagen, wenn man bloß die Tür und nicht gleich eine Wand aufbrechen muß. Continue reading »

Aug 172013
 

 

für Johannes Zuber,
dessen letzten Rat ich hiermit
befolge

 

Das Leben hat nur eine Richtung, die auf sein Ende. Der Tod folglich bestimmt das ganze Leben und muß doch, damit er das kann, außer dem Leben sein. Es stirbt der Mensch, solang er lebt. Und nur solange er stirbt, lebt er.

Der Tod wird gedacht als Verlust. Mord zum Beispiel ist, wenn einer einem die verbleibende Zeit stiehlt. Wer einem anderen Zeit stiehlt, folglich, mordet in Raten. Wer mir Zeit stiehlt, ist mein Feind.

Aber dagegen spricht: Das Leben wird mit Leben bezahlt, die Währung sind Lebensjahre. Wo ein Leben endet, wurde eine Rechnung beglichen. Am Ende des Lebens steht auf der Habenseite 1 Leben und auf der Sollseite 1 Lebenszeit. Der Tod ist Continue reading »

Jul 222013
 

Von allen Denkern, auf die es ankommt, ist Leibniz uns heute am fremdesten. Kein Denker folglich, der Beihilfe zur Transformation nötiger hätte als eben Leibniz. Was zwischen Leibniz und der Gegenwart liegt, ist mehr als nur die theologische Form, mit der sein Denken stark verbunden ist. Mehr mithin als jene unglaubliche Fülle an zeitlicher Denk- und Entwicklungsleistung – von der Mathematik bis zur Linguistik, Jurisprudenz bis Historiographie, Kameralistik bis Ingenieurwissenschaft –, die das Kerngeschäft dieses Philosophen zu verdecken droht, wie es ein barockes Gewand mit dem Körper der Venus von Milo täte. Der nackte Leibniz gleicht aber Continue reading »

Mai 212013
 

Ich schätze Ockham sehr, aber sein Rasiermesser ist nichts anderes als die Einführung von Bauernregeln in die Erkenntnistheorie. Es gibt tatsächlich keinen logisch zwingenden Grund, aus dem die Einfachheit der Kompliziertheit vorzuziehen sei. In der Epistemologie interessiert nicht, auf wie umständliche Weise eine Erkenntnis erlangt wird, solange sie nur erlangt wird. Das Rasiermesser spielt mit dem gemeinen Menschenverstand und dessen Ressentiment gegen das Komplexe. Da ist immer dieser Glaube, daß jede Wahrheit ganz einfach ausgedrückt werden kann, und das ist nichts anderes, als daß der Maßstab für das, was wahr ist, vom Objekt in das Subjekt verschoben wird.

Zugleich – auch wahr nämlich, aber dem ersten Argument ganz entgegengesetzt – muß man berücksichtigen, daß in der Philosophie wie in jeder anderen geistigen Disziplin die Erkenntnis wesentlich an die Form gebunden ist. Und wenn zwei Philosophen dasselbe mit unterschiedlichen Formen sagen, ist es schon nicht mehr dasselbe. Die Form hat selbst eine Bedeutung, ein Vermögen, weitere Erkenntnisse nach Continue reading »

Jan 112013
 

 

Zur Struktur des Ideal-Begriffs von Peter Hacks1

 

Ich bin die Saat im Winter, die im Dunkel wohnet.
Ihr kommt wohl noch dahinter, daß Erwartung lohnet.
Und lieg ich tief verborgen, bleib ich nicht verschwunden.
Der hoffen kann auf morgen, hat mich schon gefunden.

aus »Numa«

 

Mein Vortrag heißt »Die Landkarte und die Landschaft«. Ich hätte ihn aber auch gut »Wenn der Herrgott net will, nutzt es goar nix« oder »Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk« nennen können. Es liefe aufs gleiche hinaus: auf das Verhältnis, das das menschliche Wollen zu den Bedingungen, unter denen es umgesetzt werden muß, besitzt, auf den alten Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit. Es gibt zu diesem Kampf seit je drei Meinungen: das Ideal habe recht, die Wirklichkeit habe recht, beide haben unrecht. Die letzte ist die, auf die es ankommt. So zumindest Continue reading »

  1. Vortrag, gehalten am 3. November 2012 im Berliner Magnus-Haus; abgedruckt in: Gute Leute sind überall gut. Fünfte wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft, hrsg. v. Kai Köhler, Berlin 2013. []
Jul 072011
 

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Der Klassik-Begriff von Peter Hacks im Umriß1

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Das Ende der Deutschen Klassik, das sich irgendwann zwischen der ersten Nummer des Athenäum und dem Tod Goethes vollzog, kann von verschiedenen Seiten her begriffen werden. Es läßt sich als Ergebnis des heraufziehenden Kapitalismus beschreiben, als Resignation einer jungen Generation gegenüber einer gefühlten Unüberbietbarkeit der klassischen Periode oder als Verzweiflung des einzelnen Subjekts, das sich mit der in der Moderne zunehmenden Freiheit auch zunehmend seiner Möglichkeiten, auf die Welt zu wirken, beraubt sieht. Der Gründe sind viele, und soweit ich sehe, ist das einzige, was am Untergang der Klassik wirklich ganz unschuldig ist, ausgerechnet jenes Ereignis, dem man am häufigsten die Schuld daran gegeben hat: die Erfindung der Dampflok. Von welcher Continue reading »

  1. zuerst erschienen: Topos. Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie 34 (2010), S. 33–51. []
Jun 232010
 

Hintergrund und Gehalt von Hegels Vorrede zu den »Grundlinien der Philosophie des Rechts«.1

I.

Als Hegel am 25. Juni 1820 an der Vorrede zu seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« den letzten Federstrich tat, war Preußen noch in großer Aufregung. Ein paar Wochen zuvor, am 5. Mai, war Carl Ludwig Sand für die Ermordung des Dramatikers Kotzebue hingerichtet worden. Die Karlsbader Beschlüsse entfalteten ihre Wirksamkeit insbesondere in Preußen. An den »Grundlinien« hatte Hegel vermutlich seit Frühjahr 1819 gearbeitet; der erste Hinweis auf das Vorhaben findet sich in einem Brief an Niethammer vom 26. März 1819, drei Tage nach Continue reading »

  1. erschienen in: http://www.felix-bartels.de/wp-content/uploads/2010/06/Weltgeist-in-der-Defensive.pdf (Teil I) & http://www.felix-bartels.de/wp-content/uploads/2010/06/Zum-Begriff-befreit.pdf (Teil II). []
Dez 132009
 

In der Frage, was einen guten Dialog ausmache, steckt zugleich die Frage, woran ein schlechter Dialog kenntlich sei. Ein schlechter Dialog ist einer, dessen Inhalt auch in anderer Form, z.B. in linearer Rede oder in einem Traktat hätte ausgestellt werden können. Wenn, was in einem Dialog verhandelt wird, nicht notwendig in Dialogform verhandelt werden mußte, muß der Dialog als schlecht gelten, gleich wie unterhaltsam, kunstvoll, gedankentief oder originell er im übrigen ist.

Ein guter Dialog kann sich nur dort entwickeln, wo eine geeignete Ausgangslage vorliegt. Eine solche sehe ich allein gegeben, wenn die Positionen aller Teilnehmer, die in einem Dialog aufeinandertreffen, so beschaffen sind, daß erstens keine von ihnen selbst die höchstmögliche Erkenntnis bereits enthält, gedankliche Totalität herzustellen also durchaus erst Aufgabe des lebendigen Dialogverlaufs ist, und wenn sie zweitens einander auf eine solche Art begegnen, daß eine produktive Steigerung über die einzelnen Positionen der Teilnehmer hinaus möglich ist.

Die erste Bedingung ist wichtig, weil in dem Fall, in dem Continue reading »

Jul 282009
 

I. Einleitung

Die Versuchung, »Die Gräfin Pappel«[1] autobiographisch zu lesen, ist groß. Wenn ihr im folgenden widerstanden werden soll, dann nicht schlechthin, sondern in einer bestimmten Hinsicht. Die »Gräfin Pappel« ist kein Schlüsselroman, sie ist, was mehr ist, ein Märchen. Zwar: Sie wurde 1992, also in der letzten Lebensphase ihres Verfassers gedichtet, und die Lebensgeschichte ihres Helden weist in der Tat zu viele Parallelen zur Lebensgeschichte ihres Verfassers auf, als daß man das Autobiographische bei einer Deutung außer acht lassen könnte: Wie Philibert hat Peter Hacks in jungen Jahren die Welt, in der er aufwuchs, verlassen, wie diesem wurde ihm die Welt, in die er fortging, zerstört, wie dieser weigerte er sich, nach der Zerstörung seiner Wahlheimat in der neuen, d.h. in der alten Welt anzukommen. Die Fabel, könnte man meinen, bildet eins zu eins die Biographie des Dichters Peter Hacks ab. Und auch in den Einzelheiten findet sich Continue reading »

Jul 132009
 

Es gibt gute Gründe, Berlin zu verabscheuen. Zum Beispiel die Menschen, die dort leben. Es gibt aber auch gute Gründe, Berlin zu mögen. Zum Beispiel die Menschen, die dort leben. Ich weiß das genau, denn ich muß unter ihnen leben und habe so ihre merkwürdige Weise, diese Läppischkeit und Lebensgröße in einem, frei Haus. Berlin ist wohl der Ort in Deutschland, der das Provinzielle am gründlichsten aus sich ausgeschlossen hat, wobei das nicht heißt, daß er es vollständig verbannt hätte. Mein Lob ist, wie angedeutet, ein relatives Lob. Aber im Vergleich wird man glücklich. Man freut sich, daß man nur im kleinen Elend lebt und das größere an einem vorbeigegangen ist.

Es gibt hierfür unzählige Beispiele, und eines davon ist die Pro-Reli-Kampagne und die trockene Absage, die Berlin diesem anmaßenden Begehren erteilt hat. Bereits die Ausgangslage, das also, wogegen diese Kampagne zu Felde zog, macht den Unterschied zwischen Berlin und den meisten anderen Orten Deutschlands deutlich. In Berlin hat der Religionsunterricht nicht wie in vielen anderen Bundesländern den Rang eines regulären Pflichtfachs, von dem man Continue reading »

Jul 042009
 

Der Professor Lesch betont immer, daß wir nur Innenarchitektur des Universums betreiben können. Wir können, soll das heißen, weder wissen, was zeitlich vor der Entstehung desselben passiert ist, noch können wir wissen, was räumlich außerhalb desselben ist. Denn bezogen auf das Universum gibt es ein Vor und ein Außerhalb in unserem zeitlich-räumlichen Sinne nicht. Das Universum, will das wohl sagen, ist nicht unendlich.

Wenn Philosophen allerdings von Unendlichkeit sprechen, meinen sie etwas anderes als die Physiker. Physiker wissen viel über die Natur; von der Welt verstehen sie wenig. Der höchste Begriff vom Sein fordert Totalität, d.h.: die Welt als solche läßt sich nur als Einheit denken. Totalität, wenn sie auf das Sein bezogen ist, besitzt aber Continue reading »

Jul 032009
 

Jeder Mensch, ob er will oder nicht, muß sich ein Bild von der Welt machen. Jedes Bild, ob sein Schöpfer es will oder nicht, behauptet eine Einheit. Wir können die Welt nur als Einheit auffassen, wie verschiedenartig immer die Strukturen sein mögen, die wir innerhalb des Bildes zulassen. Die Weltbilder unterscheiden sich nicht darin, daß sie eine Einheit der Welt behaupten oder nicht, sondern allein dadurch, wie weit die in ihnen behauptete Einheit der Wirklichkeit gerecht wird.

Es ist natürlich, daß man nicht mit ausgereiften Modellen debütieren kann. Jeder Gedanke bedarf der Probe. Ein Weltbild, da es aus vielen Gedanken besteht, bedarf vieler Proben. Es wird sich, will es den Geistesstand seines Schöpfers verkörpern, im Laufe dieser Proben an vielen Stellen ändern müssen. Diese Änderungen Continue reading »

Jul 022009
 

Die Frage, ob in der Philosophie Entwicklung, d.h. Bewegung im Sinne eines Ganges vom Niederen zu Höhern, stattfindet, dürfte wohl kaum eine sein, auf deren Beantwortung sich die Menschen einmal werden einigen können. Es gibt gute Gründe, sie mit ja zu beantworten, und es gibt gute Gründe, ihre endgültige Beantwortung vielleicht noch etwas auszusetzen. Und es gibt gute Gründe anzunehmen, daß dieses Noch eines von Dauer und also eigentlich nur ein vermeintliches Noch ist (denn ein Noch, das immer gilt, verliert seine Geltung). Sicher zumindest scheint, daß, wenn Entwicklung in der Philosophie statthat, sie von anderer Art ist als die naturwissenschaftlich-technische, die weitgehend linear verläuft, und auch anders als die gesellschaftliche, die über Negationen vermittelt ist, doch über größere Zeiträume hinweg – zumindest bis dato – stets noch Verbesserung der menschlichen Lebenslage bewirkt hat. Die Philosophie dagegen setzt vielmehr in längeren Abständen ihre Highlights und scheint in den Zwischenzeiten vorzüglich damit beschäftigt zu sein, gegen diese Gipfelpunkte zu rebellieren, vulgo: sich zum Esel zu machen. Continue reading »

Jul 012009
 

Ja, ich und Kant, nicht: Kant und ich.

Das war nie eine besondere Liebesgeschichte. Natürlich ist man als normaler Mensch geradezu verpflichtet, sich für Kant zu interessieren, und so gab und gibt es auch bei mir ein stets lebhaftes Interesse an ihm. Allerdings starb das immer in dem Maße, in dem ich dann diesem Interesse Folge leistete und ihn las. Und es wuchs genau in dem Maße, in dem ich es dann wieder nicht tat. Es ist, als wäre da eine Stahlfeder zwischen uns, Kant und mir, pardon: mir und Kant: Repulsion und Attraktion sinken jeweils in genau dem Maße, in dem man diesen Strebungen nachgegeben hat. Die Lektüre erzeugt Abstinenz und umgekehrt. Allein deswegen also schon, weil ich unfruchtbare Bewegung und Entwicklung zu unterscheiden weiß, bin ich mit Kant nicht gut Freund. Continue reading »

Jun 222009
 

Ein jedes Lehrbuch über das Tanzen sollte so beginnen: Der menschliche Körper ist das größte Hindernis beim Tanzen.

In der Weltgeschichte wieder müßte man sagen: Was dem Menschen bei der Durchsetzung seiner Interessen im Wege steht, das sind vor allem die menschlichen Interessen.

Überhaupt aber gilt: Schuld hat immer die Materie.

Materie ist der Inbegriff des Daseins, und das Dasein hat an sich, daß es auch im günstigsten Fall nicht so vollkommen sein kann, wie es sich ideell denken läßt. Leibniz hat darüber ein dickes Buch geschrieben: Continue reading »